• Brief an den Zwillingsbruder oder wie meine Mutter von der Familie in den Tod getrieben wurde



Brief an den Zwillingsbruder
oder
wie meine Mutter von der Familie in den Tod getrieben wurde

Vorwort für die Internet-Veröffentlichung

Den im folgenden wiedergegebenen Brief an meinen Zwillingsbruder, den ich im Mai-Juli 2017 verfasst und auch an ihn abgeschickt habe, erachte ich als ein so wichtiges Zeugnis der Gewaltverbrechen, die vor ungefähr dreißig Jahren in meiner Familie geschehen sind und seither totgeschwiegen werden, dass ich mich dazu entschlossen habe, ihn im Internet zu veröffentlichen.
Insbesondere kreist der Brief um den Tod der Mutter im Herbst 1990, der fälschlicherweise ihren Depressionen und einem daraus resultierenden Selbstmord zugeschrieben wird, tatsächlich aber nicht unabhängig von an ihr zuvor über Jahre hinweg beinahe tagtäglich begangenen schweren Gewaltverbrechen gesehen werden kann, deren Zeuge ich war.
Der Brief umfasst 106 Seiten. Das mag viel anmuten, ist es aber keineswegs, ja, es war in diesem verhältnismäßig kleinen Umfang nur möglich, einen geringen und unvollständigen Ausschnitt all dessen zu beleuchten, was in den Jahren 1986-1991 in meiner Familie geschehen ist.
Tatsächlich ist das, was in diesen Jahren (mein Zwillingsbruder und ich waren damals um die zwanzig Jahre alt, es war die Zeit nach meiner Reifeprüfung) in meiner Familie passiert ist, so komplex, so wirr, oft auch so widersprüchlich, so verrückt und generell bizarr und weist auch eine derartige Dichte auf, dass es mir in dem Brief nur gelungen ist, einige wenige Aspekte der Geschehnisse herauszugreifen.
Vieles, was auch wichtig wäre zum Verständnis, konnte ich darum gar nicht unterbringen. Gerade diese enorme Dichte an Verstrickungen, andauernden Verkettungen und Verwirrungen der damaligen negativen und irren Umstände führte zur Katastrophe, nicht viel anders als wie multiples Organversagen in einem Körper schließlich zum Tod führt, selbst wenn die Probleme einzeln genommen beherrschbar scheinen.
Nicht nur mein Zwillingsbruder war ein schwerer Gewalttäter, auch der Vater war ein aggressiver Irrer und überhaupt der Kopf des familiären Wahnsinns, die Mutter wiederum war schwach und depressiv und hat sich äußerst verhängnisvoll und seltsam verhalten, ich selbst aber machte damals ebenso eine schwere psychische Krise durch, die schon ein Roman für sich wäre. Und sogar die älteren Geschwister, die gar nicht mehr in derselben Wohnung hausten, beruhigten das Geschehen nicht von außen, sondern trugen zur Eskalation noch bei.
Letzteres gilt leider auch für Instanzen, von denen man sich eigentlich ganz anderes erwarten sollte: für die in die Geschehnisse involvierten gesellschaftlichen Institutionen und deren Vertreter, die Psychiater, Psychotherapeuten, Richter und Sozialarbeiter, die ich ebenfalls anklage. Auch sie sind verantwortlich für das, was geschehen ist. Sie haben durch ihre Aktionen nur Schaden gestiftet, teilweise haben sie sich von unserem Vater instrumentalisieren lassen, und vor allem haben sie ihm und unserer Mutter die Märchen und Verdrehungen geglaubt, die diese ihnen erzählt haben, ohne zu begreifen, dass sie es mit zwei Menschen zu tun haben, die sich selbst in Traumwelten befinden, die gar nichts von der Realität verstehen, in der sie leben, und deren Mitteilungen darum ein vollkommenes Zerrbild der Wirklichkeit bieten.  
Tatsächlich gibt es aber bis dato niemanden außer mir, der überhaupt das, was geschehen ist, wenigstens annäherungsweise auf adäquate Weise in Worte zu fassen in der Lage ist. Denn die damaligen Geschehnisse haben die Grenze des Erzähl- und Mitteilbaren überschritten.
Auch der vorliegende Brief an meinen Zwillingsbruder, so drastisch und extrem hier vieles für einen Außenstehenden anmutet, stellt die brutalen, grausamen und irren Ereignisse in meiner Familie durchaus schon geglättet dar, da sie so, wie sie unmittelbar passiert sind, gar nicht beschreibbar wären.
Indem ich sie in Worte fasse, indem ich sie in Begriffe schließe, kommen sie schon in einem vernünftiger anmutenden Gewand daher, als ihnen gerecht wird, lassen sie schon den Irrsinn verblassen, der sich damals wirklich abgespielt hat.
Würde ich aber das ausdrücken wollen, was ich damals unmittelbar erlebt habe, so würde mir alle Sprache zerbrechen, so wäre alles, was ich herausbringe, gänzlich kryptisch und unverständlich für einen Außenstehenden.
Ich selbst habe Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um eine Sprache zu finden, die halbwegs das ausdrückt, was damals geschehen ist.
Ein Grund dafür liegt darin, dass ich die extreme psychische und fortwährende körperliche Gewalt, die um mich herrschte, bis zu einem gewissen Grad gewöhnt war, obwohl sie mich gleichzeitig traumatisierte. Für mich war das „normal“ und „alltäglich“. Ich kannte kein anderes Leben. Wir hatten keinen Kontakt zu anderen Familien. Wir lebten vollkommen isoliert, insbesondere in dem genannten Zeitraum von fünf Jahren. Ich hatte keinen Vergleich und keine Vorstellung, wie es anders sein könnte. Ich hatte niemanden, mit dem ich auf vernünftige Weise darüber reden konnte.
Schon darum fehlten mir die Begriffe für das, was ich sah und erlebte.
Später aber, als ich allmählich zu verstehen begann, wurden mir meine Wahrnehmungen auch gleich wieder ausgeredet. Von den Geschwistern. Von der Tante väterlicherseits. Aber auch von Außenstehenden, die mich eigentlich kaum kannten, mich jedoch verhöhnten oder nicht ernst nahmen, wenn ich davon zu erzählen versuchte.
Da ich das, was in unserer Familie geschehen war, nicht entsprechend zu verbalisieren in der Lage war, tat man sich leicht, mir zu unterstellen, dass ich übertreibe, und meine Versuche, von dem Geschehenen zu berichten, mit Allgemeinplätzen und Verharmlosungsformeln abzutun. Natürlich durften dabei auch das in unserer Gesellschaft übliche Victim Blaiming und die gängigen und allseits beliebten „Selber-schuld“-Phrasen niemals fehlen.
Eine Schlüsselsituation stellt für mich etwa dar, wie ich im Jahr 1990, kurz vor dem Selbstmord der Mutter, eine Postkarte mit einem verzweifelten Hilferuf an meine ehemalige Englischlehrerin schrieb.
Sie stimmte zwar einem Treffen zu, verhielt sich mir gegenüber dabei aber nicht bloß verständnislos, sondern geradezu wütend und aggressiv. Ich wurde von ihr nur als ein wehleidiger Jammerer hingestellt. Streit gebe es doch in jeder Familie, fauchte sie mich zornig an, und einsam sei auch ein jeder, was bilde ich mir ein, da so ein Theater darum zu machen und zu glauben, dass etwas Besonderes daran wäre.
Sie glaubte mir nicht.
Als meine Mutter sich bald darauf infolge der fast tagtäglich an ihr ausgeübten schweren Misshandlungen umbrachte, rief ich meine ehemalige Englischlehrerin wiederum an. Ich dachte, das sei Beweis genug dafür, dass das alles nicht bloß meine Einbildung gewesen sei. Sie aber schrie mich an, das sei die Entscheidung eines jeden selbst, ob er sich umbringe oder nicht. Dann habe meine Mutter halt sterben wollen.
Man wird also vielleicht mein damaliges Lebensgefühl, von der menschlichen Gesellschaft vollkommen im Stich gelassen worden zu sein, nachvollziehen können.
Selbst von Psychotherapeuten wurde ich nicht wirklich ernst genommen. Oder jedenfalls haben sie nie wirklich die Schwere dessen verstanden, was ich zu erzählen versuchte. Auch hier wurde ich beständig mit denselben Beschwichtigungs- und Verniedlichungsphrasen konfrontiert, die allgemein im Gebrauch sind.
Das hat mich oft eingeschüchtert, und es hat darum Jahre und Jahrzehnte gebraucht, bis ich begriffen habe, dass alle diese Leute sich irren.
Je weiter die traumatische Vergangenheit in die Ferne rückte und ich ein „normales“ Leben und „normale“ Beziehungen zu führen begann, je mehr ich, kurz gesagt, Lebenserfahrung sammelte, desto mehr wurde mir ja erst recht bewusst, wie irr, ungewöhnlich und extrem das war, was ich damals erlebt hatte.
Den vorliegenden Brief verfasste ich, weil ich im Frühjahr 2017 erfuhr, dass mein Zwillingsbruder, der ein schwerer Alkoholiker ist, möglicherweise nicht mehr lange leben würde. Und ich wollte noch einmal, kurz vor unserem 50. Geburtstag, die Gelegenheit nutzen, ihm etwas zu sagen, bevor es zu spät ist, bevor es diese Möglichkeit nicht mehr gibt.
Ich entschloss mich zu der Veröffentlichung des Briefes, als ich sah, dass ich noch niemals die ungefähr dreißig Jahre zurückliegenden Ereignisse so gut und verständlich zusammengefasst habe. Insbesondere ist er ein einmaliges Dokument des unfassbaren jahrelangen Martyriums meiner Mutter.
Ich spüre die Notwendigkeit, damit endlich an die Öffentlichkeit zu gehen. Es kommt mir vor, dass ich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, davon zu berichten, soweit ich dazu in der Lage bin. Das bin ich nicht nur mir selbst, das bin ich insbesondere auch meiner Mutter schuldig.
Ich weiß aber nicht, was das alles juristisch bedeutet. Ich weiß nur, dass meine nächsten Anverwandten eventuell wegen übler Nachrede, Verleumdung, Rufschädigung und dergleichen gerichtlich gegen mich vorgehen könnten.
Das heißt, ich begebe mich mit der Veröffentlichung des Briefes an meinen Zwillingsbruder auch in Gefahr.
Um eventuellen Angriffen auf mich keine Basis zu geben, aber gleichfalls um meine Angehörigen selbst vor – was ja ebenso im Bereich des Möglichen liegt - Anfeindungen von Lesern meines Blogs zu schützen, gebe ich in der veröffentlichten Version des Briefes nicht  ihre echten Vornamen an, sondern verwende für sie Pseudonyme:
Meinen Zwillingsbruder nenne ich „Hermann“.
Unseren älteren Bruder bezeichne ich als „Franz“.
Unsere ältere Schwester wird als „Ingrid“ angeführt. 
Auch andere Personen, die in dem Schreiben bei ihren Vornamen genannt werden, bezeichne ich mit Pseudonymen.
Die echten Namen der Vertreter von Institutionen wie Ärzte, Therapeuten und Richter lasse ich stehen. Sie am allerehesten sollten es aushalten, mit dem konfrontiert zu werden, was sie angerichtet haben.
Ernst Berger war oder ist auch noch ein berühmter Wiener Kinderpsychiater, der der Chef einer der beiden Stationen im Allgemeinen Krankenhaus war, in die mein Zwillingsbruder um 1980, also als Kind, wiederholt gewaltsam und gegen seinen Willen gebracht worden war. Offenbar war niemand aus dem Kreis jener dort wirkenden Experten in der Lage vorauszusehen, was es für ein ungefähr 12jähriges Kind bedeutet, regelrecht entführt zu werden, was das für Folgen haben würde und wie sehr das erst recht die Seele meines Bruders und die ganze Familie zerstören würde. Wann immer später mein Zwillingsbruder mir eine Erklärung für seinen exorbitanten Hass auf unsere Mutter gab, rangierte bei ihm ganz weit oben: dass er sie dafür verantwortlich machte, dass er damals von den Rettungsleuten gepackt, gewaltsam in den Rettungswagen verfrachtet, nach Wien gebracht und dort in der Klinik eingesperrt worden war.
Eva Novotny ist inzwischen eine renommierte Bildungswissenschaftlerin und Buchautorin.  Von Anfang bis Mitte der 80er Jahre fungierte sie allerdings als Therapeutin meines Zwillingbruders. Anstatt dass ihm das half, richtete sie mit ihren wilden freudianischen Deutungen nur einigen zusätzlichen Schaden an.
Bei Friedrich Racz handelt es sich um einen Richter des Bezirksgerichts Baden bei Wien, der auf das Betreiben unsere Vaters hin im Winter 1988/89 die Sachwalterschaft zuerst für die Mutter und dann für meinen Zwillingsbruder anstrebte. Er war ein autoritärer und leider von sich auch sehr überzeugter Beamter, der alles glaubte, was ihm unser Vater sagte, einem ansonsten nicht gut zuhören konnte und nicht im geringsten verstand, was in unserer Familie ablief. Durch sein bedrohliches Auftreten und sein unangemessenes Verhalten hat er die Gewalt in unserer Familie nicht abgestellt, sondern im Gegenteil nur alles eskalieren lassen.
Auch meinen eigenen Namen gebe ich richtig an, denn der Brief enthält meine Geschichte, und indem ich mich mit meinem echten Namen zu ihr bekenne, finde ich auch zu meiner eigenen Identität.
Desgleichen nenne ich im Titel des Blogs den echten und vollständigen Namen meiner Mutter. Sie, die ihr ganzes Leben lang an den Rand gedrängt gelebt hat und schließlich brutal ausgelöscht wurde, sie, deren schreckliches Schicksal seit Jahrzehnten keine Stimme bekommen hat, sie hat das Recht, dass sie hier endlich den Raum bekommt, der ihr zusteht, sie hat das Recht, dass sie hier ihren vollen Namen erhält und dabei an das erinnert wird, was ihr angetan worden ist.
Das bin ich ihr schuldig. Denn das, was ich hier geschrieben habe, ist ihrem Gedächtnis gewidmet.
Der Leser sei allerdings noch einmal daran erinnert, dass das Zeugnis, das dieser Brief darstellt, trotz seines Umfangs unvollständig und auch auf seinen Adressaten, meinen Zwillingsbruder, zugeschnitten und darum freilich schon einseitig ist.
Das Einfachste ist es hier noch, die im Brief immer wieder zitierten Bezeichnungen „Lupus“ und „Oberin“ zu erklären. Dabei handelt es sich um die Spitznamen unserer Eltern.
Vieles andere wird und muss allerdings zwangsläufig für den Leser unverständlich bleiben, viele komplexe Zusammenhänge werden ihm weiterhin verborgen bleiben.
Auch auf die Frage der Schuld wird man hier zwar viele und sogar recht drastische Antworten, aber dennoch keine letzte, umfassende Antwort finden.
Da der Brief an meinen Zwillingsbruder gerichtet ist, tritt der Terror, der von unserem Vater ebenso tagtäglich ausging, hier demgegenüber  - zu Unrecht - in den Hintergrund.
Die durchaus herausfordernde Frage nach der Mitverantwortung der Mutter selbst an dem Geschehenen - die sie, obwohl sie das größte (keineswegs das einzige!) Opfer der alltäglichen psychischen und physischen Gewalt in unserer Familie war, meiner Meinung nach durchaus trägt - findet nur einmal kurz und bloß andeutungsweise Erwähnung in dem Brief.
Dies aus gutem Grund. Ich wollte in dem Brief an meinen Zwillingsbruder nicht den Eindruck erwecken, dass dadurch auch nur irgendetwas von seinen massiven tätlichen Angriffen, die er tagtäglich auf sie ausübte, und den schweren Misshandlungen, denen er sie fortwährend aussetzte, gerechtfertigt werden könnte.
Und schließlich geht es natürlich auch um mich selbst. Keineswegs klage ich nur die anderen an. Der Brief spricht auch von meiner eigenen Mitschuld. Denn im Unterschied zu den anderen Beteiligten bin ich bereit zur Einsicht in meine eigene Verantwortung.
Der vorliegende Brief ist darum nicht nur eine Abrechnung mit meinem Zwillingsbruder und mit meiner Familie. Er ist auch eine Abrechnung mit mir selbst.

Ich weiß durchaus, wenn vielleicht auch noch nicht zur Genüge, dass es ein Risiko darstellt, seine persönliche Geschichte mittels Klarnamen ins Internet zu stellen. Ich sehe nur keine andere Möglichkeit, dem Geschehenen und insbesondere dem schrecklichen Schicksal meiner Mutter endlich den Platz und jene Stimme in der Gesellschaft zu geben, die ihm zustehen.
Das Risiko, dem ein solcher Blog unterliegt, ist ein Zweifaches. Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit, dass ihn überhaupt niemand liest und er darum jene Öffentlichkeit, die er anstrebt, nicht erreicht. Dann hätte der Text genauso gut zuhause in meiner Schublade bleiben können.
Die andere Gefahr besteht darin, dass ein solcher Blog abfällige Kommentare und Hasspostings gegen meine Verwandten oder mich auslöst.
Das ist freilich ebenso wenig mein Ziel. Allerdings wird schon die bloße Länge, Gewundenheit und Schwere meines Textes einen gewissen Schutz davor bieten, dass ihn überhaupt Leute lesen, die zu unreflektierten Reaktionen neigen.
Was ich mir wünsche, das sind Leser, die den vorliegenden Brief an meinen Zwillingsbruder nicht bloß wie Klatsch oder Sensation lesen, und ich will auch nicht der gängigen oberflächlichen Empörungskultur noch ein weiteres Element hinzuzufügen.
Was ich mir wünsche, sind Leser, die nicht der Meinung sind, dass da eben einer bloß sein „privates“ Schicksal „ablädt“.
Stattdessen sollten sie die Reife besitzen, um zu verstehen, dass solche Schicksale etwas sind, was die ganze Gesellschaft etwas angeht.
Es geht bei der Geschichte, die ich hier zu erzählen versuche, nicht um ein „tragisches Schicksal“, das irgendeine Familie in einer österreichischen Kleinstadt einmal vor dreißig Jahren zufällig erfahren hat.
Solche Dinge kommen nicht aus dem Nichts. Damit überhaupt so etwas in einer Familie vorkommen kann, muss sehr vieles andere in einer Gesellschaft nicht stimmen. Und es trägt auch immer die ganze Gesellschaft eine Verantwortung dafür.

Eine spezielle Zielgruppe für meinen Blog könnten Leute sein, die selbst in ähnlich gravierender Weise psychische und physische Gewalt erfahren haben. Und die genauso wie ich erlebt haben, dass sie damit ausgegrenzt werden, dass keiner ihre Geschichte hören will, dass man ihnen nicht glaubt.
Und die, wenn sie die hier von mir vorlegte Geschichte lesen, auch ihre eigene Geschichte besser verstehen und Mut fassen, etwas davon zu erzählen.

Ortwin Rosner




Lieber Hermann,

niemand von uns weiß, wann er gehen wird. Und niemand von uns weiß, wann der andere gehen wird, der ihm nahesteht. Oft wird man überrascht. So wie es – wenigstens für mich – bei unserer Mutter war.
Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass ich als letzter von uns Geschwistern dran komme. Franz und Ingrid sind deutlich älter als wir beide. Aber warum dennoch Du von uns allen vieren der Gefährdetste bist, brauche ich Dir wohl nicht zu erklären.
Wenn ich Dir schreibe, so nicht mehr, wie früher, aus der unsinnigen Hoffnung heraus, dass ich Dich irgendwie ändern oder Dich zu irgendwelchen Einsichten bewegen kann. Ich habe dabei stets das Ausmaß Deiner psychischen Erkrankung unterschätzt.
Dazu hast Du allerdings auch selbst beigetragen. Hast Du es doch selbst so trefflich verstanden, einen immer wieder dadurch zu verwirren, dass Du zwischen absolut gewalttätigen Phasen und vollkommen verrückten Dialogen, in die Du einen verstrickt hast, dann wieder ganz vernünftig, ja, freundlich, nett und bemitleidenswert gewirkt hast.
Du kannst Dich gut verstellen. Sehr gut verstellen. Damit hast Du sehr viele Leute getäuscht. Auch die Fachleute.
Vielleicht ist „Verstellen“ das falsche Wort. Aber jedenfalls hast Du sehr unterschiedliche Gesichter.
Bei Dir stehen sehr verschiedene Persönlichkeitsanteile unvermittelt nebeneinander. Das ist ungeheuer verwirrend für jeden, der mit Dir zu tun hat. Es ist aber etwas, was für Borderliner typisch ist, und irgendwie musst Du darum wohl mehr oder weniger jener Kategorie zugerechnet werden.
Eine schwere Persönlichkeitsstörung hast Du allemal.

***

Vor ungefähr zwei Jahren, in jenem Winter, in dem ich es geschafft habe, Dich ins Spital zu bringen, habe ich während vieler Wochen meine alten Tagebücher studiert, die ich nach der Matura und vor meinem Auszug nach Baden verfasst habe, also zwischen 1986 und 1991.
Es war entsetzlich, von all dem auch nur zu lesen.
Ich hatte das ja schon verdrängt und teilweise vergessen, wie ungeheuer grausam und gewalttätig Du unserer Mutter und mir gegenüber vorgegangen bist.
Wobei das mit unserer Mutter freilich noch viel schlimmer ist als mir gegenüber.
Man muss sich das einmal vorstellen: Beinahe jeden Tag über viele Jahre lang hast Du eine sechzig Jahre alte, schwer kranke und depressive Frau schwerstens misshandelt und geprügelt.
Wenn man davon liest, gefriert einem das Blut in den Adern.
Zeitweilig waren ihre Oberarme übersät von blauen Flecken.
Und sie hat sich überhaupt nur mit angstverzerrtem Gesicht aus ihrem Zimmer heraus getraut, um sich wenigstens aus der Küche ein Stück Brot zu essen zu holen.
Aber selbst dieser kurze Weg aus ihrem Zimmer heraus war ein Martyrium für sie.
Denn es konnte da leicht passieren, dass du dann aufgetaucht bist und geschrien hast: „Verschwind‘, du hässliche, alte Sau!“ und auf sie wild eingedroschen hast.
Wir beide haben uns oft vor Dir in unseren Zimmern eingesperrt. Stundenlang, ja, ganze Tage haben wir vor Dir eingesperrt auf unseren Zimmern verbracht. Dann hast Du, in einigen Fällen sogar wild mit dem Messer fuchtelnd, vor unseren Türen getobt und hast verlangt, dass wir Dir öffnen und Geld geben.
Wenn wir das nicht getan haben, konnte es auch schon passieren, dass Du den Kater gepackt und geschrien hast: „Gebt mir zehn Schilling, oder ich reiße dem Kater die Barthaare aus!“
Und Du warst dann sehr wohl in der Lage, den Kater zu misshandeln, bis er miaut hat.
Dann hat die Mutter Dir mit verzweifeltem Gesicht endlich geöffnet. Du hast Sie gepackt, gestoßen und gleich wieder mit zähnefletschender Grimasse zum Schlag ausgeholt.
„Gib her, Alte! Das reicht nicht! Dafür, dass Du mich warten hast lassen, muss ich mich extra ansaufen! Ich will mehr!“
Manchmal hast Du auch die Hunderter aus der Mutter raus geprügelt, nur um Deine Alkoholsucht zu finanzieren. Und es konnte überdies vorkommen, dass Du mich dazu gezwungen hast, auf die Bank zu gehen, das frische Geld vom Konto abzuholen und dann an Dich abzuliefern.
Wir haben in fortwährender Angst vor Dir gelebt, in fortwährendem Schrecken und Angst. Es war der nackte Terror, im dem wir gelebt haben.

***

Während der Lektüre der alten Tagebücher ist mir klar geworden, dass damals eigentlich die Polizei gerufen hätte werden müssen und Du abgeführt hättest werden müssen. Die Polizei hätte einschreiten müssen. Heute verstehe ich das. Ich hätte zur Polizei gehen müssen.
Du bist ein Verbrecher, ein Soziopath, ein chronischer Gewalttäter – und ein gewissenloser Muttermörder, dem immer noch jede Reue für seine Taten fremd ist.
Ich selbst wollte es lange nicht wahrhaben. Aber es ist so.
Und es ist mir auch klar geworden, dass das, was Du mit uns jahrelang getan hast, nicht viel dem nachsteht, was Gestalten wie Wolfgang Priklopil oder Josef Fritzl getan haben, die ihre Opfer gefangen gehalten und nach Belieben misshandelt haben, über viele Jahre lang.
Sicher, wir waren nicht im Keller, und theoretisch konnten wir auch die Wohnung verlassen. De facto aber waren wir Dir ausgeliefert, de facto konnten wir Dir nicht entkommen. Die Mutter konnte Dir nur entfliehen, indem sie sich immer wieder nach Gugging hat einweisen lassen. Ich blieb extra oft bis spät in die Nacht in Wien.

***

Aber irgendwann musste man ja heimkehren. Und dann hast Du einen manchmal sofort wieder geschlagen.
Eine Zeit lang bist Du sogar regelmäßig mit mir nach Wien gefahren. Ich habe Dich zum Dichowitz begleitet. Und Du mich auf die Universität.
Und selbst da hast Du mich verprügelt. Mitten auf der Straße in Wien. Sogar nachdem ich eine Prüfung auf der Universität hatte, zu der Du mich begleitet hattest – hast Du mich geprügelt, so dass die Leute verwundert geschaut haben.
Auch in Baden in aller Öffentlichkeit hast Du auf mich eingedroschen. Mitten im Supermarkt. Einmal auch vor dem Eisenberger. Das war im gleichen Moment, als zufällig einer meiner ehemaligen Schulkollegen vorbei gekommen ist …

***

… Der übrigens inzwischen ein bekannter Architekt geworden ist und die Theresienwarte neu erbaut hat. Aber das nur als Einschub. Und hast Du mitbekommen, dass Stefan Szirucsek, der dürre Bub, mit dem wir sozusagen im Sandkasten gespielt haben, Bürgermeister von Baden geworden ist? …

***

Doch Du hast meine Mutter und mich nicht nur geschlagen, wann immer Dir danach zumute war. Wir wurden auch von Dir mit voller Wucht auf den Kopf geprügelt, an den Haaren gerissen, gewürgt, geohrfeigt, gebeutelt, geschüttelt, zu Boden gestoßen, angespuckt, mit dem Kopf gegen die Wand gehaut und ins Kreuz getreten.
Und beschimpft wurden wir sowieso andauernd von Dir. Mit den ärgsten Ausdrücken.
Als Anlass haben Nichtigkeiten gereicht. Dass wir nicht schnell genug gespurt haben, wenn wir Dir Geld gegeben haben, ein Deiner Meinung nach falsches Wort, oder schlicht ein Blick, der Dir nicht gefallen hat.
Oft waren es auch nur völlige Einbildungen. Oder es reichte, dass ich in Dein Zimmer hinein geschaut habe. Das war manchmal auch schon ein Verbrechen in Deinen Augen.
Dabei hast Du freilich - wie bei allem – mit zweierlei Maß gemessen.
Du selbst bist nämlich nach Gutdünken in mein Zimmer eingedrungen und hast mich dann als Stück Scheiße bezeichnet, wenn Dir gerade danach zumute war, oder sonst wie gehänselt, gepiesackt, verspottet, beschimpft, gequält und schließlich auch unter irgendwelchen Vorwänden misshandelt und geschlagen.
Wenn ich dann mit den Nerven fertig war und Dich flehentlich gebeten habe, das Zimmer zu verlassen, hast Du mich nur mit großen Augen angeschaut und hast in aller Unschuld „Wieso denn?!“ gefragt.
Oder Du hast Unsinnigkeiten gerufen wie: „Beweis deinen Mut, dein Beuschl soll mein Zimmer zieren!“ und mich zum angeblich „fairen Kampf“ aufgefordert  („fair“, dass ich nicht lache, bei diesen Kräfteverhältnissen!).
Wenn ich mich dann verzweifelt zur Wehr gesetzt habe, dann hattest Du erst recht wieder einen Grund, mich zu verprügeln, zu würgen, zu ohrfeigen.
Oder Du hast Dich praktisch nackt – Deine vollkommen verdreckte Unterhose war ja völlig zerrissen – auf mich draufgelegt und hast geplärrt: „Aaaah! Schade, dass Du keine Frau bist!“ und hast hin und her gerüttelt.
Und dann durfte ich mir anhören, dass du 3mal, 5mal, einmal sogar 8mal am Tag onaniert hast. Und von der „Wut“, die Du immer in den „Eiern“ hast.
Oder Du hast meine Bücher und Comics zerrissen, weil Du fantasiert hast, ich würde Dich schief anschauen oder über Dich lachen.

***

Andererseits hast Du wie ein Schlosshund ganz herzzerreißend weinen können, dass es einen erbarmt hat – aber worüber? „Ich wünsche mir so sehr eine schöne Mutter, eine, die so schön ist, dass ich sie ficken wollen würde!“
Und damit hast Du allen Ernstes Deinen exorbitanten Hass auf unsere Mutter begründet. Weil sie nicht so schön sei, dass Du sie ficken wollen würdest!
Das war Ihr Verbrechen! Und das hast Du in vollem Ernst gemeint - und denkst Du vielleicht immer noch so!
Damals hattest Du diesen Film von Louis Malle angeschaut, „Herzflimmern“ aus dem Jahr 1971, in dem ein Fünfzehnjähriger mit seiner Mutter schläft – und dieser Film hatte eine verheerende Wirkung auf Dich.
Über eine Dauer von Wochen hat Dich dieser Film beschäftigt. Da bist Du dann in Deinem Bett gelegen und hast auf Deine entsetzliche, vollkommen hemmungslose und selbstmitleidige Art geheult, die typisch für Dich war und einem immer das Blut in den Adern hat gefrieren lassen, und hast mit Dir selbst gesprochen.
Stundenlang am Stück hast Du dann manchmal plärrend geschrien, geheult und gejammert darüber, dass Du Armer keine so schöne Mutter hast wie der Bub in dem Film, die Du ficken wollen würdest, und hast unsere Mutter allen Ernstes dafür angeklagt und ihr das vorgeworfen! Hast ihr das tatsächlich vorgeworfen, als wäre das das Unglück Deines Lebens, und als wäre sie eine Verbrecherin deswegen, weil sie nicht so schön und so toll ist, dass Du Dir vorstellen könntest, sie ficken zu wollen!
Und dann hast Du gefordert, dass ich Dich dafür bemitleide!
Und freilich hattest Du dadurch auch wieder einen Grund, Dich anzusaufen. Und nachher bist Du auf die Toilette gegangen, um Dich zu erbrechen.
Wochenlang musste ich dieses Schauspiel miterleben. 
Hinter dieser Traurigkeit und Heulerei hat freilich bei Dir auch immer die Bereitschaft zum sofortigen Gewaltausbruch gelauert. Du hast aus Deiner Frustration allen Ernstes das Recht abgeleitet, die Mutter zu bespucken, zu prügeln und sie alles in allem gnadenlos dafür zu bestrafen, dass sie keine so schöne Mutter war, wie Du sie gerne gehabt hättest!
Wenn ich irgendjemandem heutzutage davon erzählen würde, derjenige könnte das ja gar nicht begreifen! Ich habe einem einzigen Menschen bisher davon erzählt, und dieser Person hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt schon viel von all der Gewalt und den Verrücktheiten in unserer Familie erzählt, aber diese Mitteilung hat sie vollkommen fassungslos gemacht!
Wenn ich dann zwar voll Mitleid, aber ganz perplex neben Dir gestanden bin und diesen Heulausbrüchen und Hasstiraden auf die Mutter zugehört habe – dann hatte ich freilich oft gleich selbst wieder ein paar Hiebe von Dir.
So geschehen beispielsweise bei einem Spaziergang mit Dir im Kurpark im Februar 1988, den ich im Tagebuch dokumentiert habe.
Nur deswegen weil ich Dir nicht genug in Dein Selbstmitleid eingestimmt habe, hast Du auf mich eingedroschen, bis ich im Boden gelegen bin, und selbst dann hast Du mich noch in den Bauch getreten – und dabei allen Ernstes noch behauptet, ich hätte Dich ja viel mehr gehaut als Du mich!
Die irrsten und perversesten Psychospiele hast Du mit mir veranstaltet. Das alles, das reicht wahrhaft an das heran, was Michael Haneke in seinem Film „Funny Games“ geschildert hat, - oder nein, vielmehr übersteigt das, was ich mit Dir erlebt habe, noch alles, was jemals in einem Film gezeigt worden ist, so verrückt war es.
Denn obwohl ich Dir überhaupt nichts getan hatte, obwohl Du es warst, der auf mich eingedroschen hat, hast Du hast allen Ernstes getan, als wärst in dieser Auseinandersetzung Du das Opfer, und hast mich angeplärrt: „Ich leide so sehr darunter, dass du mich nicht verstehst!“

***

Es war vollkommen unmöglich, mit Deinem Verhalten auf eine vernünftige Weise umzugehen. Abgesehen davon dass es mir selber damals psychisch sehr schlecht gegangen ist – auch wenn Du mich immer nur angekeift hast: „Du hast ja eh keine Probleme!“
Tja. Klar. Du misshandelst und verprügelst unsere Mutter und mich täglich. Aber – ich habe keine Probleme!
Diesen Satz hast Du mir absurderweise auch manchmal gesagt, währenddessen Du mich gerade verprügelt hast!
Dafür hast Du stets verlangt, dass man Deine Probleme immer vollkommen ernst nimmst, dass man in Mitleid mit Dir zerfließt - so absurd das auch war, was Du dabei vor einem als Deine Probleme ausgebreitet hast. Da hast Du keinen Spaß verstanden.

***

So etwa, als Du Dir plötzlich eingebildet hast, an Hautkrebs zu leiden. Das war ein weiterer Höhepunkt in der endlosen Serie von Züchtigungen, zu denen Du Dich berechtigt gefühlt hast.
Diese Phase war im Sommer 1989. Da hast Du nichts gehabt, als eine kleine Hautveränderung, einen unbedeutenden Fleck.
Aber das war Anlass genug für Dich, Dich im Selbstmitleid zu wälzen und von mir Mitleid zu verlangen.
„Das ist ein Hautkrebs! Ich werde bald sterben!“ hast Du mit dem Ausdruck vollkommener Gewissheit geschrien und hast mir vorgeworfen, dass ich nicht genauso in Panik verfalle.
Natürlich wolltest Du dennoch nicht zum Arzt gehen. Als ich bloß in Zweifel zog, dass es sich bei der Hautveränderung überhaupt um Hautkrebs handle, wurde ich von Dir gewürgt, zusammengeprügelt, in die Hoden getreten, und Du hast Flaschen nach mir geworfen, und Teller hast Du auch zerbrochen.
Und ich musste Dir hundert Schilling aushändigen, damit Du Deine Angst niedersaufen konntest.
Ununterbrochen hast Du einem ein schlechtes Gewissen eingeredet, wenn man nicht sofort pariert hat und getan hat, was Du wolltest.
Aus einer Tagebucheintragung:
„Er tobt und flucht, er brauche Zigaretten zur Beruhigung und ich könne ja nicht tun, als wäre er ein Fremder, ich sei ja schuld.“
Und woanders habe ich geschrieben:
 „Weil er heute den letzten Hunderter genommen hat, habe ich noch keinen Bissen gegessen, während er den ganzen Tag völlt.“
Und dann hast Du mir noch vollmundig erklärt, - ich sei „selber schuld“ daran.
Sicher. Die anderen waren in Deinen Augen immer selber schuld, wenn es ihnen schlecht ging. Aber wenn es Dir schlecht ging, dann warst freilich nie Du selbst schuld, - sondern immer nur die anderen. Sogar wenn Du Dich ganz von selbst irgendwo angehaut hast:
 „Als er sich am Kasten anhaute, nahm er das zum Anlaß, seine Wut bei mir abzureagieren und mich sehr [zu] prügeln. Ich schrie vor Schmerz.“
Bei dieser Tagebuchstelle erwähne ich überdies Deine „satanisch zähnefletschende Grimasse“.
Tja, die werde ich tatsächlich meinen Lebtag lang nicht vergessen.
Und als ich dann gewagt habe mich zu wehren, hast Du aus Rache gleich den Teller zerbrochen, den ich soeben neu gekauft hatte, nachdem Du meinen vorigen zerbrochen hattest.
Nachher bin ich, ohne etwas gegessen zu haben, allein auf den Badener Lindkogel raufgegangen.
Die Natur war damals manchmal meine einzige Rettung.

***

Eine eigene Bewandtnis hatte es auch mit dem Spucken. Wenn wir einmal beim Reden versehentlich gespuckt haben, dann hast Du Dich sofort berechtigt gesehen, uns nicht nur voll ins Gesicht zurück zu spucken, sondern uns dafür auch zu verprügeln und zu misshandeln.
Du hast noch nicht einmal den einfachen Unterschied zwischen einer feuchten Aussprache und dem absichtlichen Anspucken eines Gegenübers verstanden!
Was Du für Gewaltorgien aufgeführt hast, nur weil Dich mal ein paar Tröpfchen von Spucke eines Gegenübers getroffen haben! Das ist unglaublich, das gehört ja auch zu den Sachen, die mir kein Außenstehender glaubt und verstehen kann, wenn ich ihm das erzähle!
Wie sehr Du aber auch dabei mit zweierlei Maß gemessen hast, zeigt folgende Tagebucheintragung aus dem Dezember 1988:
„Hermann kam ins Zimmer und spuckte mich beim Reden an. Da er mich, wenn ICH das tue, immer verprügelt, spuckte ich leicht zurück. Darauf packte er mich am Hals, prügelte mich und betonte auf mein Einwenden, das[s] zwischen ihm und mir ein Unterschied sei.“
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
„Er wurde, wie immer, doppelt wütend, trat mich ins Kreuz, prügelte auf meinen Kopf […] Es ist bei ihm überhaupt nicht wie bei mir oder jemand anderen, daß ein paar Hiebe oder Rückgabe gleichen Grades zur Befriedigung der Rache reichen.  Er schlägt und schlägt und kennt keine Grenzen.“
Durch Dein Verhalten uferte die Gewalt freilich vollkommen aus:
„Die Oberin war inzwischen erschienen. Ich hatte so eine Wut, daß ich in Hermanns Zimmer rannte, um eine Bierflasche zu zertrümmern, denn ich hielt es nicht aus.
Oberin rannte mir natürlich nach und Hermann hinterher. Er holte sie ein und trampelte buchstäblich über sie hinweg […] und verprügelte dann mich. Die Oberin wurde dabei verletzt. Hermann: ‚Sie ist schuld. Was war sie denn im Wege!‘  […] Ich schloß mich ein, aber Hermann rannte allen Ernstes im Vorzimmer noch mit dem Messer auf und ab, um mich abzustechen.
Und so, wie die Sache eskaliert, meint er es immer ernster. Er hat immer weniger Hemmschwellen, prügelt immer grundloser, akzeptiert immer weniger das Recht und die Gefühle des anderen, bricht Streit vom Zaun, überdimensioniert immer mehr seine Motive, die ja nur vorgeschobene Anläße für seine Agressionen [sic!] sind.“
„Grad hat Hermann mich eben durch die Tür wieder als Sau beschimpft.“
Im Folgenden zeugt diese Tagebucheintragung von meiner damaligen Unfähigkeit zu verstehen, was mit Dir los war. Die Mischung aus ganz normalem Benehmen und vollkommen irren Ausbrüchen verwirrte mich. Der Begriff der „Persönlichkeitsstörung“ fehlte mir damals noch:
 „Dabei ist er zwischendurch untertags ganz normal und ruft mich wie gewöhnlich oft zum Fernseher, wenn er glaubt, es sei was Besonderes, damit ich nichts versäume.“
„ … er redet doch untertags vernünftig.“

***

Das alles ist freilich nur ein kleiner Querschnitt aus dem Meer von Gewalttätigkeiten, die in meinen Tagebüchern dokumentiert sind. Und er zeigt wahrscheinlich noch nicht einmal Deine grausamsten Ausbrüche. (Abgesehen davon dass der ganze Schrecken, den Du damals verbreitet hast und in dem wir tagtäglich gelebt haben, sowieso dadurch keineswegs plastisch genug rüberkommt.)
Tatsächlich könnte man damit einen eigenen Roman füllen. Den werde ich auch einmal schreiben.
Ich schreibe Dir das alles aber nicht, weil ich glaube, dass Du das, was Du anderen angetan hast, nun plötzlich verstehen könntest und mir recht geben würdest.
Diese Hoffnung habe ich schon lange nicht mehr. 
Nein, Hermann, das ist nicht der Grund dafür, dass ich Dir diesen Brief schreibe. Du hast eine unheilbare Persönlichkeitsstörung. Und Du wirst sterben, ohne je irgendetwas begriffen zu haben.

***

Mehr aber noch: Du hast eine pathologische Unfähigkeit zu einem jeden echten Unrechtsbewusstsein, wirklichen Schuldgefühlen oder Reue.
Das musste ich beispielsweise (im Juli 2013 nach der Wanderung zum Steinbruchsee) feststellen, als ich mit Dir über einen ganz bestimmten Vorfall reden wollte, vom Tag meines Auszugs aus Baden im Juni 1991, als Du mich da noch einmal schwerstens verprügelt hast, Ja, sogar noch an meinem letzten Tag in Baden, sozusagen als Abschiedsgeschenk, hast Du mich verprügelt.
Ich wollte also von Dir - im Juli 2013 - wissen, wie Du diese Szene wahrgenommen hast.
Dann hast Du mir in aller Seelenruhe nacherzählt, was damals – aus Deiner Perspektive - geschehen ist, und mir erklärt, wieso Du mich verprügelt hast.
Ingrid und ich haben damals gestritten. Das hat Dich geärgert. Du hast gemeint, dass ich schuld wäre, weil ich sie zum Weinen gebracht hätte und sie dann deswegen etwas Negatives über Dich gesagt hätte – und daran war ich dann Deiner Meinung nach natürlich somit auch schuld. Deswegen hast Du mich verprügelt.
Das erzähltest Du mir (wie gesagt 2013, nach der Wanderung zum Steinbruchsee) so einfach nach, aber vor allem: in einer unglaublichen Seelenruhe, voll Selbstbewusstsein, ohne irgendeine Regung Deines Gewissens, überhaupt ohne jede erwartbare Regung, vollkommen ungerührt und ungeniert, ohne auch nur den geringsten Anflug von Reue, Mitleid, Mitgefühl, Scham oder Entschuldigung, so hast Du das mir gegenüber allen Ernstes nacherzählt und direkt ins Gesicht gesagt.
Und da war nirgendwo auch nur der geringste Anflug von Nachdenken darüber, ob das vielleicht falsch gewesen sein könnte, was Du damals getan hast, ob Du mir damit vielleicht Unrecht getan haben könntest, ob Du mir vielleicht Schaden damit zugefügt haben könntest.
So hast Du mir das nacherzählt.
Wenn das nicht Soziopathie ist, dann weiß ich nicht, was sonst Soziopathie sein könnte.
Ich war fassungslos. Mal abgesehen davon dass Deine damalige (im Juni 1991) Wahrnehmung natürlich falsch war, weil Ingrid den Streit begonnen hatte – Du kommst noch nicht einmal auf die Idee, dass es vollkommen inakzeptabel ist, jemanden anderen zu schlagen, ganz gleich mit was für Begründungen (es sei denn im Falle von Notwehr)!

***

Noch schlimmer aber: es hat jahrzehntelang gebraucht, bis ich selbst kapiert habe, dass Dein Verhalten inakzeptabel ist!
Es hat jahrzehntelang gedauert, bis ich selbst kapiert habe, dass ich grundlegende Menschenrechte habe!
So sehr hast Du mich über Jahre und Jahrzehnte eingeschüchtert und es geschafft, mir einzureden, dass es in Ordnung ist, dass Du mich verprügelst, und dass ich kein Recht mich darüber zu beschweren habe und es eine Frechheit ist, dass ich Dir deswegen überhaupt Vorwürfe mache!
Und es hat daher auch jahrzehntelang gedauert, bis ich die eigentlich selbstverständliche Sache kapiert habe, dass ich das Recht, ja die Pflicht mir gegenüber habe, mich vor Dir zu schützen, indem ich den Kontakt mit Dir meide oder sogar die Polizei rufe!
Noch 2009 habe ich mich von Dir auf der Mariahilfer Straße als bereitwilliges Opfer zusammenschlagen lassen!
Heute könntest Du das mit mir nicht mehr machen!
Heute würde ich das nicht mehr zulassen. Ich würde die Polizei rufen.

***

Nein, ich schreibe Dir das alles keineswegs, weil ich erwarten würde, dass Du, nachdem Du 30 Jahre lang wie ein Tier gelebt hast und Dich auch so verhalten hast, plötzlich Einsicht haben und Deine Verbrechen einsehen würdest.
Ich schreibe Dir, um meine Sprache zu finden. Meine Sprache, die Du mir gestohlen hast. Um überhaupt eine Sprache zu finden. Eine Sprache, die das ausdrücken kann, was geschehen ist.
Was Du davon hältst, das kann mir eigentlich ziemlich gleichgütig sein. Du bist ein psychisch schwer kranker Mensch, dessen Urteil über das, was ich sage, sowieso immer gleich abfällig lautet.
Darum ist auch kein Grund da, besondere Rücksicht auf Dich zu nehmen.
Ich schreibe, weil ich gewisse Dinge loswerden will, mich von ihnen befreien will, indem ich sie ausspreche.
Ich habe Jahre, ja Jahrzehnte gebraucht, um diese Sprache halbwegs zu finden.
Ihr alle, Du, der Lupus, die Geschwister, Tante Mitzi, ja, sogar fremde Leute, die noch nicht einmal dabei gewesen sind, ihr alle habt mir immerzu nur auszureden versucht, was ich Schlimmes erlebt habe.
Und was ungeheuer Grauenhaftes meine eigene Mutter durchlitten hat.
Der Lupus hat uns immer nur erklärt, dass es uns ja eh gut gehe und wir „keine Probleme“ hätten. Franz hat ab einem bestimmten Zeitpunkt ins gleiche Horn gestoßen. Ingrid gelegentlich auch. Selbst Du hast das nachgeplappert – aber natürlich nur, wenn es um mich gegangen ist. Dann hast Du mir erklärt, dass es mir ja eh gut gehe und ich „keine Probleme“ hätte. Sobald es um Dich gegangen ist, dann waren es natürlich immer ganz furchtbare Dinge, die Du erlebt hast und die wir übrigen alle nie verstehen können.
Wie auch immer, auf Euer aller Verständnis brauche ich darum gar nicht hoffen.
Und das interessiert mich auch gar nicht mehr.
Ich schreibe diesen Brief für mich.
Um Dir etwas zu sagen. Solange es noch Zeit ist, solange Du noch lebst.
Was Du aber damit anfängst, das ist ganz allein Deine Sache und interessiert mich nicht mehr.
Deine Reaktion ist stereotyp eh immer gleich. Du wirst halt wie üblich wieder über mich schimpfen und Dich ansaufen. Business as usual.
Wenn ich von Dir verstanden werden wollen würde, dann wäre es wahrscheinlich sinnvoller, dass ich einen kurzen Brief schreibe, alles möglich kompakt zusammenfasse und besser und klarer strukturiere.
Bei diesem langen und ein wenig ungeordneten Brief hier wird erst recht wieder jeder in der Familie sagen: Ja, da sieht man mal, was der Ortwin für ein Spinner ist, dass er so einen langen Brief schreibt. Und ihr werdet euch wieder bestätigt fühlen.
Aber abgesehen davon, dass es schwer ist, all diese Verrücktheiten, die in der Familie passiert sind, strukturiert zu beschreiben, weil sie eben tatsächlich so vollkommen wirr und irr sind, dass nur mehr die fragmentarische Form passt – abgesehen davon würde es letztlich keinen Unterschied machen.
Eure Reaktion wäre am Schluss die gleiche. Weil sie immer dieselbe ist. Ich habe Dir ja auch schon einmal einen kurzen Brief geschrieben.
Was hat es bewirkt? Du hast mir ja doch nur genauso erklärt, wie gestört das alles ist, was ich da sage.
Es ist mir also vollkommen egal, was Du von meinem Brief hältst. Ich schreibe das für mich, und es ist ein langer Brief, weil ich einfach viel loszuwerden habe.
Du hast mich über viele Jahre lang geschlagen, gefoltert, misshandelt, gequält, gewürgt, beschimpft, ich war über viele Jahre lang wehrloses Opfer Deiner körperlichen wie verbalen Übergriffe, Deiner psychischen wie physischen Gewalt.
Was ist angesichts dessen ein Brief von bloß 20 oder 30 oder 40 Seiten, den Du in wenigen Stunden gelesen hast? Wie dick war denn das Buch, das Natascha Kampusch über ihr Martyrium geschrieben hat?
Mein Brief ist nur ein kleiner Versuch, das Unaussprechbare festzuhalten.
Das Grauen, das ich damals tagtäglich erfahren habe. Das ungeheure Grauen.
„Ich habe das Grauen gesehen“ – das ist der letzte Satz im Film „Apokalypse now“, falls Du Dich daran erinnerst.
Das ist mein Satz.
Das ist auch das, was ich erlebt habe.
Ich habe das Grauen gesehen.
Tagtäglich.
Ohne dass ich in Vietnam war.
Du hast mit uns Vietnam gemacht.
Du und der Lupus, ihr habt Vietnam veranstaltet. Ein kleines Vietnam in der Antonsgasse 1b/4 in einer Wohnung im 2. Stockwerk.
Wobei mir das, was man da in dem Film sieht, noch harmlos vorkommt im Vergleich zu dem, was ich erlebt habe. Denn eins sieht man dort nicht: Wie da einer eiskalt und erbarmungslos seine eigene Mutter in den Tod prügelt und dann nachher noch über sie höhnt.
Das, was damals alles passiert ist, das ist einzigartig. Das war eine ganz eigene irre Welt, in der wir damals gelebt haben, abgekapselt von allen normalen Menschen.
Voller Schrecklichkeit, in gewisser Weise inmitten allen Schrecklichens aber auch von einer unnennbaren Schönheit durchflutet.
Es ist etwas, was unwiederholbar ist.
Wir waren in einem ganz eigenen Universum, das nichts mit dem Universum der übrigen, der normalen Menschen und ihren Leben mehr zu tun hatte. Wir lebten wie in einer abgeschlossenen Blase, vollkommen isoliert, in diesen Jahren.
Ich habe diese Blase unter ungeheuren Anstrengungen und Schmerzen verlassen und bin in die Welt der normalen Menschen gegangen, - in der ich dennoch nie heimisch geworden bin. 
Du … Du bist letztlich in dieser merkwürdigen Welt geblieben. Manchmal habe ich Dich auch dafür beneidet. Denn ich wollte nie erwachsen werden. Ich wollte immer Kind bleiben. Du bist es in gewissem Sinn geblieben, auf schreckliche Weise.

***

Ein weiterer Grund dafür, dass ich lange nicht den ganzen kriminellen Ernst der Gewalt, die von Dir ausging, zu begreifen in der Lage war, war der fließende Übergang von harmlos anmutenden Kinderraufereien zu den massiven Gewalttätigkeiten der Mutter und mir gegenüber, wie ich sie hier geschildert habe.
Schließlich ist es ganz normal, dass Buben miteinander raufen. Das ist dann so schrittweise und unmerklich in die schon ernsthafteren Auseinandersetzungen von uns zwei heranwachsenden Burschen und dann schließlich ganz schlimmen Prügeleien zwischen uns zwei als erwachsenen Männern übergegangen, dass ein Teil von mir das immer noch selbstverständlich genommen hat, weil es ja stets so gewesen ist.
Hinzu kam natürlich die generelle moralische Verwahrlosung in der Familie, so dass mir ganz allgemein die moralischen Maßstäbe verloren gegangen sind. Schließlich war Gewalt, verbale und psychische, aber auch physische, ja generell in unserer Familie der Alltag. Du warst ja nicht der einzige, von dem Gewalt ausgegangen ist.  
Abgesehen davon warst Du mein Zwillingsbruder, und schon deswegen habe ich Dich sowieso immer verteidigt, in Schutz genommen und für die mir am nächsten stehende Person gehalten. Als uns Franz etwa einmal erzählt hat, dass sein Freund Edmund meine, man müsse Deiner Gewalttätigkeiten der Mutter wegen die Polizei einschalten, da war ich darüber hellauf empört.
Erst vor zwei Jahren, bei der Lektüre meiner alten Tagebücher, habe ich kapiert, dass natürlich die Polizei geholt gehört hätte, - und das ist das, was jeder zivilisierte Mensch genauso darüber denken würde. Es ist ein unglaublicher Skandal, dass die ganze Familie dabei zugeschaut hat, wie eine alte, kranke Frau tagtäglich verprügelt und schwerstens misshandelt wurde – und keiner etwas dagegen getan hat!
Was damals aber weiters hinzu kam, das war, dass Deine eigene Haltung ja auch immer total undurchsichtig war. Man hat ja nie gewusst: Hasst Du einen jetzt wirklich – oder ist Deine Aggression doch nur eine momentane Laune?
Aufgrund der Vertrautheit zwischen uns habe ich immer an letzteres geglaubt.
Wie schon gesagt, das war ja das Verwirrende: Du konntest einen zwar in einem Moment wild verprügeln und auf einen gnadenlos wie auf einen absoluten Todfeind eindreschen, - aber ein paar Momente später war dann oft wieder eine irrsinnige Nähe zwischen uns beiden, da konntest Du auf einmal wieder der liebe Bruder sein, der zutraulich wie ein Hund zu einem kommt und ganz freundlich, beinahe unterwürfig sagt: „Komm, gehen wir miteinander spazieren“, „Schau Dir den Film an, Ben Hur, der ist echt gut“ - oder in der Abendstimmung zum Fenster hinaus deutet und einem sagt: „Schau zum Fenster raus, da ist ein Vogel, der da oben kreist, siehst Du den Vogel, hörst Du ihn kreischen?!“
Das waren dann plötzlich wieder Momente tiefer Verbundenheit mit Dir, ja der – mir kam vor, gegenseitigen - Liebe.
Man hat nie gewusst, woran man mit Dir war.
Das war das Verwirrende.

***

Wobei rückblickend gesehen die Abnormitäten bei Dir schon sehr früh eingesetzt haben. Wir waren noch im Volksschulalter oder so um die zehn Jahre alt, da sind die Streitereien und Raufereien mit Dir bereits gelegentlich auf einmal sehr wunderlich geworden. Da hast Du dabei plötzlich eine derartige Verbitterung, Verzweiflung und Wut an den Tag legen können, dass wir beide, die Mutter und ich, eine richtige Angst vor Dir bekommen haben, das war, erinnere ich mich, schon damals für uns beide erschreckend und unverständlich.
Schon damals ist sie Deinem Verhalten hilflos gegenüber gestanden, - und einmal, kommt mir vor, haben wir uns da sogar schon vor Dir eingesperrt, weil Du so getobt hast.
Sie hat dann mit verzweifeltem Gesichtsausdruck zu mir gesagt, Du seist „moralisch schwachsinnig“.
Einige Male hat sie mir gegenüber diesen Ausdruck gebraucht.
Das ist zwar nicht sehr fein, dass eine Mutter so etwas über ihr Kind sagt, aber rückblickend muss ich sagen: Sie hat damit einiges getroffen.  
Eine dieser frühen, wilden, außer Kontrolle geratenen Auseinandersetzungen hat die Mutter dann, ein wenig märchenhaft und anekdotisch, so wie es ihre Art war, im Nachhinein den Maikäferstreit genannt.
Worum es da aber dabei im Detail ging, das weiß ich nicht mehr.

***
Als Du so 12, 13, 14, 15 Jahre alt warst, nach Deinen Psychiatrie-Aufenthalten, da begannen die wirklich massiven Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und Dir.
Ich habe damals noch verhältnismäßig wenig mitbekommen, weil ich ja meist in der Schule war, während die Mutter viel allein mit Dir war.
Vieles, was ich selbst nur mehr verschwommen in Erinnerung habe, habe ich durch einen Blick auf die Notizen in ihren Kalendern aufgefrischt, die ich noch habe. Ich persönlich habe ja damals noch kein Tagebuch geführt.
In dieser Zeit hat es allmählich begonnen, dass Du die Mutter regelmäßig geschlagen, geohrfeigt und bespuckt hast.
Und Du hast begonnen, ihr dauernd solche Nettigkeiten zu sagen wie: sie wäre ein stinkendes Schwein, und sie gehöre vergast, und das wäre noch eine Gnade für sie.
Wenn ich vom Astronomischen Abend zurückgekommen bin, dann hatte sie sich in der Regel schon lange vorher aus Angst vor Dir in ihr Zimmer zurückgezogen.
Dass es sich dabei um etwas Ernsthaftes handelt, habe ich erst allmählich kapiert, und ich war ganz schockiert, als sie mir einmal bei meiner Heimkehr mit aufgelöstem Gesichtsausdruck erzählt hat, dass Du sie getreten, geschlagen und angespuckt hast – und das nur deswegen, weil sie ein falsches Glas Pfefferoni gekauft hatte, welche aus Bulgarien.
Daraufhin hatte sie sich drei Stunden lang aus Angst vor Dir in mein Zimmer eingesperrt.

***

Was freilich – das kapiere ich auch erst heute – vollkommen unmenschlich war, das waren die Reaktionen der Familie darauf.
Für den Lupus war sowieso die Mutter selbst an allem schuld. Der hat ihr nicht im Geringsten geholfen.
Dasselbe sagte auch Ingrid, - nur dass sie noch hinzufügte, all diese Probleme wären ihr eigener Kaffee, und sie hätte uns ja abtreiben können.
Unsere Schwägerin, Gilla, die hat die Mutter wiederum am Telefon verhöhnt, dass ihr das keiner glauben würde, dass der zarte Bub – also Du – sie schlüge und sie sich nicht gegen Dich wehren könne, sie habe doch wahrlich genügend Gewicht, um Dich flach zu machen.

***

Nicht weiter geholfen hat der Mutter freilich auch die Weisheit ihrer Therapeutin, Frau Dr. Moers, dass es sich um einen „psychisch-dynamischen Affekt“ handle, wenn Du sie ohrfeigst.
Womit ich zu einem weiteren, sehr umfangreichen Punkt komme, der wesentlich für Deinen Fall wurde: das völlige Versagen der gesellschaftlichen Institutionen, deren Vertreter durch ihr dummes Verhalten sogar wesentliche Mitschuld daran tragen, dass in unserer Familie die Situation derart eskalieren konnte.
So habe ich mittlerweile, um vorläufig einmal nur ein zweites Beispiel zu nennen, unter den alten Unterlagen ein psychiatrisches Attest über Dich gefunden. Das hast Du mit 17, also Jahre, nachdem Du dort interniert warst, vom AKH für die Stellung beim Bundesheer bekommen.
Das Attest bezeugt, dass bei Dir bereits im Alter von 14 Jahren bei einem Deiner stationären Aufenthalte auf der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ diagnostiziert wurde.
Als „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ bezeichnet man aber, so viel weiß ich inzwischen, die Vorform einer Persönlichkeitsstörung beim Heranwachsenden.
Die Persönlichkeitsstörung wiederum jedoch wird, so gut habe ich die psychiatrische Literatur studiert (Kernberg etwa ist hier ein Fachmann, den zu lesen sich lohnt), zu denjenigen psychischen Krankheitsformen gezählt, die im Grunde als beinahe unheilbar gelten, beziehungsweise sind für eine Behandlung ganz besondere therapeutische Maßnahmen notwendig.
Kriminelle wie Jack Unterweger, Josef Fritzl und die Eislady haben an einer Persönlichkeitsstörung gelitten beziehungsweise haben diese immer noch.
Deine Ärzte wussten es also die ganze Zeit! Die Psychiater der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dein Oberarzt Doktor Berger, sie alle wussten ganz genau, dass Du eine Persönlichkeitsstörung hast!
Aber uns von der Familie hat keiner davon etwas gesagt! Stattdessen haben alle immer nur von Deinen „Phobien“ geredet! Auch Du selbst hast immer nur von Deinen „Phobien“ geredet!
Dabei hätte man bei so einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung die Familie natürlich umfassend informieren müssen, hätte sie aufklären müssen, hätte mit ihr ausführliche Gespräche führen und Anweisungen und Empfehlungen geben müssen, wie damit umzugehen ist!
Natürlich hätte man auch eine Art von institutioneller Kontrolle einrichten müssen, insbesondere als Deine Persönlichkeitsstörung einen enormen Hang zur Gewalttätigkeit mit sich gebracht hat!
Nichts dergleichen! Man hat uns alle dumm sterben lassen!

***

Freilich, man darf auch in Zweifel ziehen, ob solch eine Aufklärung durch die Institutionen tatsächlich viel geholfen hätte.
Und zwar deswegen weil es in unserer Familie eigentlich keinen vernünftigen und handlungsfähigen Ansprechpartner gegeben hat.
Wer hätte das denn sein sollen?
Unser Vater vielleicht, der selbst an einer gewaltigen Persönlichkeitsstörung litt, der selbst jeden Tag vor Aggressivität explodiert ist und mit dem man kein vernünftiges Wort hat reden können?
Der hätte ja selbst zuallererst weggesperrt gehört! Der war ja die Ursache allen Übels, von dem kommt doch das Ganze her!
Der hat doch das alles in die Familie eingeführt, all die cholerische Gewalt, das irre Schreien, das Toben, das Schneiden zähnefletschender Grimassen und das Schimpfen!
Von dem hast Du das alles doch überhaupt! Der war und ist doch Dein Vorbild!
Von der Mutter kommt das jedenfalls nicht her, die hat das alles doch nie getan!
Ein irrer Vater, der schon längst geschieden von der Mutter war, seit Jahren bereits mit einer anderen Frau an einem ganz anderen Ort verheiratet war, bei uns also eigentlich gar nichts mehr verloren hatte, - aber abartigerweise trotzdem jeden Tag zu uns nach Baden gefahren ist, ohne auch nur, wie das ein normaler Mensch tut, wenigstens zu grüßen, in die Wohnung getreten ist und dort ansatzlos mit hochrotem Kopf wie Klaus Kinski zu toben angefangen und am Fließband vollkommen irres und unsinniges Zeugs herum geschrien hat!
Ein Spinner, der nichts als Hass und Zwietracht gesät und eine Religion des Hasses um sich verbreitet und gepredigt und uns alle damit vergiftet hat!
Ja, das hast Du allerdings inhaliert, das hast Du gründlich in Dich aufgesaugt.
Wer war außer ihm da in der Familie, auf den man zählen hätte können?
Die Mutter etwa?
Sie war sowieso komplett überfordert und vollkommen wehrlos. Sie hast Du ohnehin nach Gutdünken zusammengeschlagen und geohrfeigt.
Für mich gilt Ähnliches, außerdem war ich noch ein Kind und hätte auch dann nicht verstanden, was eine Persönlichkeitsstörung ist, wenn man es mir erklärt hatte – ganz abgesehen davon, dass ich meinem eigenen heutigen Urteil nach selbst an einer, wenn auch etwas anders gearteten, gelitten habe.
Überdies: Selbst wenn ich alles verstanden und begriffen hätte, ich hätte mich ja nie gegen den Vater, die Mutter und Dich durchzusetzen können. Ich war macht- und rechtlos in diesem Gefüge.
Wir alle waren ein Haufen von Unmündigen, könnte man sagen. Das waren wir, wir alle, die wir in Baden waren.
Und die zwei älteren Geschwister, die schon in Wien wohnten und nur gelegentlich nach Baden kamen, Franz und Ingrid, mit denen zumeist nur ein telefonischer Kontakt bestand, die waren nicht viel besser. Auch wenn ich das damals noch nicht kapierte und glaubte, wenigstens die wären normal.
Tatsächlich hatten die aber auch nichts anderes zu tun, als andauernd Öl ins Feuer zu gießen und alles nur noch schlimmer zu machen durch ihr vollkommen unangemessenes Betragen.  
Franz und Ingrid haben ihrerseits eine Unmenge von Hass und Zwietracht gesät, ja, uns Jüngere zu allem Überfluss auch noch in ihre Streitereien untereinander verwickelt und dabei zu instrumentalisieren versucht, - und, und, und, vieles, vieles andere Schreckliche und Dumme, was sie zur Eskalation beigetragen haben.  

***

Die grässlichsten Ausmaße nahm all der familiäre Wahnsinn in Folge einer wirklich schweren körperlichen Verletzung an, die Du unserer Mutter am 8. August 1989 zugefügt hast, die auch einen Spitalsaufenthalt nötig machte und am Ende sogar zu einer Gerichtsverhandlung führte.
Was damals geschah, ist ziemlich gut und ausführlich in meinen Tagebüchern dokumentiert. Und es ist grauenhaft und nach menschlichen Maßstäben eigentlich kaum mehr fassbar.
Erst am 16. Juli abends war unsere Mutter nach einem längeren Aufenthalt aus der Nervenheilanstalt Gugging zurückgekehrt.
In den ersten Stunden ging es ihr auch noch ganz gut.
Aber nur in den ersten Stunden.
Am nächsten Tag, am 17. Juli, hast Du ihr bereits höhnisch angekündigt, dass Du sie wieder fertig machen würdest:
„In 3 Monaten bist du schon wieder runter mit den Nerven! Dafür werde ich schon sorgen!“
Am 18. Juli gabst Du für Essen und Trinken auf einen Sitz 200 Schilling aus.
Das hat Dich natürlich nicht zufrieden gestellt. Du wolltest dann auch noch einen Bankschein an Dich reißen, der auf sage und schreibe 2000 Schilling ausgestellt war.  
Ein Vermögen für uns damals. Und wir mussten noch bis Monatsende mit dem Geld auskommen.
Es gelang mir, Dich daran zu hindern, dieses Papier an Dich zu reißen. Aber dabei kam es wieder einmal zu einer schweren Rauferei, mit Würgen, Prügeln und Spucken. Und das Glas meiner Armbanduhr ging dabei kaputt. Nicht zum ersten Mal. Solche Schäden gehörten damals zur Normalität.

***

30. Juli 1989:
„Wieder Scherben! Es braucht fast gar nicht mehr erwähnt zu werden. Er will wieder Geld von ihr, ich stelle mich in den Weg, sie sperrt sich ein. Hermann bedrängt mich in meinem Zimmer, fuchtelt mit dem Messer […], ich hoffe, ihn durch […] Schreien rauszuekeln (wie sonst soll ich mir helfen?!). Er sagt, ich sei verrückt, was schreie ich denn so?
Ich bekomme Wut und stammle, schreie nochmals. […] Er kriegt dann seine Wut und zerbricht etwas. Ich sperre mich ein. Er sieht nie ein, was er anderen zufügt.“

***

Einschub:
Offenbar ist es mir hier gelungen, Dich durch mein Schreien aus meinem Zimmer zu vertreiben.
Moralische Bedenken uns zu misshandeln, hast Du zwar nie gehabt. Was das betrifft, warst Du wahrlich vollkommen schamlos, ohne jedes Unrechtsbewusstsein.
Aber davor, dass die Nachbarn das Schreien der Mutter und von mir hören könnten, davor hast Du Dich gefürchtet.
Leider hat uns beiden das auch nur bis zu einem gewissen Grad geholfen. Das Ergebnis war, dass Du uns auch noch das Schreien verboten hast.
Da hast Du dann allen Ernstes verlangt, dass wir uns von Dir verprügeln lassen – aber ohne zu schreien!
Wir sollten dabei schön stillhalten, das hast Du allen Ernstes von uns verlangt! Ohne uns zu wehren und auch ohne zu schreien!
Wenn wir uns nicht daran gehalten haben, hast Du einen Grund darin gesehen, noch viel schlimmer und noch viel brutaler auf uns dreinzuschlagen.
 Oder Du hast denjenigen von uns, der geschrien hat, mit zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse extra stark gewürgt, hast einem extra stark die Kehle zugedrückt und einen angezischt:
„Hör auf zu schreien! Willst Du, dass die Nachbarn das hören! Die denken doch dann gleich wieder, dass ICH hier schreie und dass ICH der Verrückte bin! Kapierst Du das nicht?! Die glauben doch, dass ICH der Verrückte bin, der so schreit, seit ich auf der Psychiatrie war! Dabei bist DU das! Kapierst Du das nicht, es ist alles erlaubt, Prügeln, Schlagen – aber nicht das Schreien! Weil das bekommen die Nachbarn mit!!! Die dürfen nichts hören!!! Kapierst Du das nicht?!“
So kann wirklich nur ein vollkommener Psychopath argumentieren.

***

Dann aber eben die Tagebuch-Eintragung vom 8. August 1989, die ein neues und noch grauenvolleres Kapitel im jahrelangen Martyrium unserer Mutter aufgeschlagen hat:
Der Hermann hat wieder einen Teller zerbrochen: Die Oberin blutete stark am Fuß.“
Am Morgen des folgenden Tages (9. August) zeigte sich, dass die Wunde nicht von selbst verheilte. Es war eine tiefe Schnittwunde, die immer wieder aufplatzte und weiter blutete.
Und trotzdem bist Du weiterhin auf die Mutter losgegangen.
„Die hat sich selber geschnitten – absichtlich“, hast Du gehöhnt.
Auch die folgenden Tagebuchzeilen zeugen nur einmal mehr von meiner vollkommenen Hilflosigkeit und meiner damaligen Unfähigkeit, Dein irres Verhalten zu verstehen:
„Er muss wirklich gestört sein. Er hat auch schon Gedächtnislücken. Und er ist völlig uneinsichtig. Er prügelt und schreit, aber dann pumpert er laut an unsere Tür und fragt: ‚Warum sperrt’s ihr euch denn ein?‘ ‚‘Macht’s auf‘ schreit er.“
Natürlich war es aber nicht möglich, sich den ganzen Tag vor Dir einzusperren, ohne einmal rauszukommen:
„Ich wollte jetzt raus, um Essen zu holen. Hermann hat das Honigglas zerbrochen und das Brot auf den Boden gehaut. Dann drang er gewaltsam in mein Zimmer zur Oberin ein. Sie glaubte, ich sei es[,] öffnete, wollte wieder schließen[,] und er stemmte sich dagegen und stand bei ihr im Zimmer, ein[e] alte, kleine Frau und ein massiger, grinsender Orson Welles, der die Hand herhält und sagt: ‚ich will geld‘.
Voller Wut über diesen gewaltsamen Einbruch und aus Erwartung weiterer Schläge [Erklärung: So wie Du dastandest, erwartete ich, dass Du die Mutter gleich wieder schlägst] hieb ich in seinen Bauch. Er war wütend. Ich floh. Es wurde eine lange prügelreiche Rauferei. Er hieb oft auf meinen Hinterkopf und zerriß mein Gewand, ich boxte in seinen Bauch.
Er ohrfeigte die Oberin und mich schwer.
Ihre Fußwunde platzte wieder auf[,] und wir sind jetzt eingesperrt in meinem Zimmer.
Müssen wir so den ganzen Tag verbringen?
Wir machten sehr viel Lärm[,] und ich schrie viel Hilfe. Daß die Polizei noch nicht da ist, ist ein Wunder.
Der Hermann sagt wütend: ‚Er hat ja angefangen‘
Er schreit jetzt wieder: ‚Ihr hab’s ja angefangen‘
 Das Schlimme ist, daß er sich wirklich völlig im Recht fühlt!
Er wollte jetzt mehr Geld für Bier. Wegen uns braucht er noch mehr. Ich schrie: ‚Ja, wer hat denn angefangen.‘
[Deine Antwort:]
‚Ja, ich natürlich. Ich bin immer der Schuldige!‘“
Und daneben blutete immer noch die Wunde der Mutter und hörte nicht auf.

***

Der Fuß schwoll immer mehr an. Dass es dann gelang, die Mutter am Abend desselben Tages endlich ins Spital einliefern zu lassen, ist nicht selbstverständlich.
Du hast über Deinen Tellerwurf nur gelegentlich trotzig und stumpfsinnig „Das war ja nicht absichtlich“ gesagt, so als wäre damit allen Ernstes Deine Verantwortung schon getilgt.
Tatsächlich war Dir aber die Verletzung der Mutter vollkommen gleichgültig. Und kaum war sie weg, hast Du mich wieder nur in einer Tour um Geld gefragt. Das war das einzige, was Dir wichtig war.
Das Allerunglaublichste aber: Nach ihrer Entlassung aus dem Spital hast Du genauso weiter gemacht wie zuvor, ohne irgendeine Veränderung, - hast uns beide genauso weiter beinahe jeden Tag wegen Kleinigkeiten geprügelt, misshandelt, geschlagen, Dinge zertrümmert und Geld aus uns rausgepresst.
So hast Du etwa – um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen, die ich aus meinen Tagebüchern zitieren könnte - am 2. September 1989 den kleinen Radiowecker in meinem Zimmer in einem Wutanfall zertrümmert, weil ich einmal etwas anhören wollte, als Du – untertags - schlafen wolltest. Dabei war Dein Zimmer ganz am anderen Ende der Wohnung, so dass Du im Grunde kaum etwas hören konntest.
Es war eine furchtbare Rauferei mit Dir, und die Mutter hat verzweifelt um Hilfe und nach der Polizei gerufen.
Du hast sie aber angebrüllt:
„Du weißt noch nicht, was Prügel sind! Glaubst du, das, was du bis jetzt bekommen hast, sind Prügel?! Hast du den Film mit der Farah Fawcett gesehen?!“
Und wenn ich während Deiner Misshandlungen verzweifelt geschrien habe, dann hast Du mir höhnisch erklärt, ich sei „schizophren“, da sehe man es ja, diese „feurigen Augen“, hast Du gespottet, man müsse eigentlich gleich einen Arzt rufen.
So hast Du Dich weiterhin recht selbstbewusst verhalten, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon vom Spital aus eine Anzeige wegen Körperverletzung bei der Polizei gegen Dich vorlag und bereits ein Prozess gegen Dich im Raum stand.
Das ist das Allererstaunlichste, nicht nur in diesem Fall, sondern überhaupt bei Deinem ganzen Lebensweg: Deine vollkommene Lernresistenz.

***

Noch erstaunlicher ist aber, dass Du damit durchgekommen bist. Der ganze familiäre Wahnsinn kommt darin zum Ausdruck, dass in der Familie am Ende da alle mitgespielt haben, Dir recht gegeben und die Mutter beschuldigt haben, selbst in dieser Situation noch, und Dich keiner an die Polizei oder an das Gericht ausgeliefert hat.
Wenn es darauf ankam, wenn es derart ernst wurde, dann haben doch alle zu Dir gehalten und für Dich gemauert, wollten das, was geschehen war, nach Möglichkeit vertuschen.
Am allermeisten ich selbst. Das ist ja das Verrückte.
So unverständlich ist es aber freilich nicht. Wenn ich heute meine Tagebücher von damals durchlese, dann bezeugen sie, dass meine Emotionen damals eine einzige Achterbahnfahrt waren.
Ist ja logisch! Du warst ja doch mein eigener Zwillingsbruder! Niemand ist mir so nahe gestanden wie Du!
Unzählige Tagebucheintragungen bezeugen, wie viel Du mir bedeutet hast, wie viel Angst und Sorgen ich mir um Dich machte und wie ungeheuerlich ich trotz all Deiner Gewalttätigkeiten an Dir gehangen bin!
Ich habe mich ja überhaupt nicht mehr ausgekannt, habe überhaupt nichts begriffen, habe nicht verstanden, warum Du das überhaupt tust, war vollkommen verwirrt, - und meine Gefühle waren ein andauerndes Jojo-Spiel.
Ich habe mich darum dann damals vor Gericht total falsch verhalten. Das habe ich erst vor zwei Jahren eingesehen, als ich die alten Tagebücher durchgelesen habe.
Ich hätte damals vor Gericht über Dich auspacken sollen.
Ich hätte damals den Behörden die ungeschminkte Wahrheit erzählen müssen, ich hätte alles erzählen müssen, wie Du uns tagtäglich schwerstens misshandelst und verprügelst.
Dann hätte unsere Mutter nicht sterben müssen.
Stattdessen habe ich aus lauter Angst um Dich - aus lauter, blanker, panischer Angst, Du könntest ins Gefängnis oder ins Heim gesteckt werden - den Mund gehalten.
Ja mehr noch, ich habe auch Einfluss auf unsere Mutter genommen, ja, sie geradezu dazu genötigt, dass sie ihre Anzeige widerruft beziehungsweise ebenfalls keine Aussage vor Gericht macht.
Das hätte ich nicht tun dürfen. Das hätte ich niemals tun dürfen. Dazu hatte ich nicht das Recht.
Das war ein Verbrechen von mir.
Damals bin ich, ohne noch davon zu wissen, mitschuldig an ihrem Tod geworden. Daran gibt es nichts schönzureden.
Zu der allgemeinen moralischen Verwahrlosung in der Familie, die mich so weit getrieben hat, zu der Gefühllosigkeit und Verrohung im allgemeinen sowie im speziellen in dieser Situation haben aber freilich auch die älteren Geschwister ganz wesentlich beigetragen.

***

Unser großer Franz hat sowieso zu Dir gehalten und das nachgebetet, was Du ihm vorgesagt hast: Die Mutter sei ja „selbst schuld“, sie sei Dir ja damals in die Küche nachgerannt, also sei sie selbst schuld daran, dass sie dann den Teller von Dir auf den Fuß bekommen habe.
Eine Äußerung, deren Logik noch heutzutage frappiert.
Immerhin ist mir heute der Begriff „Täter-Opfer-Umkehr“ geläufig – und das ist etwas, was Du wirklich stets beherrscht hast, nicht nur damals, sondern Dein ganzes Leben lang.
Du warst und bist (um diese Metapher zu gebrauchen; aber es ist nicht nur eine Metapher) jemand, der imstande ist, einem voll ins Gesicht zu schlagen - und ihm danach vorzuwerfen, er habe mit seinem Gesicht Deine Hand verletzt!
Die Frau von Franz, Gilla, wiederum hatte zwar den verletzten Fuß nie gesehen, erklärte aber unserer Mutter dennoch vollmundig am Telefon, die Verletzung sei ja eine Kleinigkeit, und sie, die Mutter, habe mit der Anzeige den Familienfrieden gebrochen.
!!!
Eine Aussage, die auch insofern irreführend ist, als die Anzeige ja wahrscheinlich am Beginn gar nicht von unserer Mutter ausgegangen ist, sondern das Spital wohl Anzeige erstattet hat – und das auch tun musste. Dadurch kam alles doch erst in Gang.
Ja, unsere Mutter hätte freilich lügen und sagen können, sie habe sich selbst den Teller auf den Fuß geworfen. Anscheinend ist es das, was man sich in der Familie erwartet hat.
Ingrid schließlich hat mir erklärt, dass ich selbst schuld sei, als ich ihr von Deinen Gewalttätigkeiten erzählte. Und das ebenfalls auf eine Weise, wo man nicht nach der Logik fragen darf, die dahinter steckt.

***

Sicher, ich weiß, was Du Dir jetzt denkst, Hermann (falls Du den Brief überhaupt so weit gelesen hast).
So gut kenne ich Dich, dass ich weiß, dass Du jetzt immer noch genauso wie damals davon überzeugt bist, dass Du damals im Recht warst.
Du würdest mir jetzt noch genauso mit einem Gesicht wie ein Unschuldslamm antworten, dass Du ja den Teller nur fallen gelassen hättest und der Fuß der Mutter ganz versehentlich davon getroffen worden wäre.
So hast Du selbst als Angeklagter ja auch dem Gericht den Vorfall erzählt.
Und da die Mutter und ich uns der Aussage entschlagen haben, hat es zu einem Freispruch gereicht.
Aber täusche Dich nicht.
Wenn ich die Wahrheit erzählt hätte, wenn ich über Dich ausgepackt hätte, dann wäre das ganz anders ausgegangen.
Und wenn der Richter wollen hätte, dann hätte er Dich auch aufgrund Deiner eigenen Aussage wegen Körperverletzung verurteilen können. Das hätte gereicht. Dann wäre es zwar keine absichtliche, aber fahrlässige Körperverletzung gewesen. Der war wohl milde gestimmt.
Auch weil Du die Leute gut täuschen kannst.
Ich kann mich erinnern, wie Du selbst mir nachher erzählt hast, dass Du den Richter und das Gerichtssaalpublikum mit einem Petrocelli-Witz zum Lachen gebracht hast.
Aber wenn die auch nur die geringste Ahnung gehabt hätten, was für ein gewissenloser Psychopath hinter dieser jovialen Fassade steckt …
Wenn ich ausgepackt hätte …
Wenn ich dem Gericht ganz einfach gesagt hätte, dass Du die Mutter und mich regelmäßig schlägst, ohrfeigst, würgst, trittst, misshandelst, prügelst, verängstigst, beschimpfst, Gegenstände herumwirfst und zerbrichst und gelegentlich sogar mit dem Messer in der Wohnung umherläufst, um uns zu bedrohen und Geld aus uns herauszupressen …
Wenn ich dem Gericht ganz einfach gesagt hätte, wie Du die Mutter auch noch nach der Verletzung verhöhnt, bedroht und verdroschen hast. Und Dir ihre Wunde vollkommen gleichgültig war …
Wenn ich dem Gericht ganz einfach gesagt hätte, dass Du zwar den Teller vielleicht nicht vollkommen absichtlich auf den Fuß geworfen hast – dass es Dir aber auch ganz egal war, ob Du sie nun triffst oder nicht …
Ja, mache Dir nichts vor, Hermann, wenn ich damals mit all dem ausgepackt hätte, dann wäre es unter Umständen vielleicht sogar gelungen, Dich dahin zu bringen, wohin Du damals wirklich gehört hättest: in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.
Und unsere Mutter würde noch leben.

***

Es hat ziemlich genau die von Dir höhnisch angekündigten drei Monate gebraucht: Am 19. Oktober 1989 ist unsere Mutter wieder in die Nervenheilanstalt Gugging gekommen, als ein vollkommenes nervliches Wrack.
Ihren Tod, der sich dann fast genau ein Jahr später ereignete, als „Selbstmord“ zu bezeichnen oder, wie es danach auch versucht wurde, ihn sogar als ein bloßes „Versehen“ abzutun (sie habe sich ja gar nicht wirklich umbringen wollen, sondern nur zu viele Tabletten erwischt, wurde plötzlich von Gilla, der Frau unseres großen Bruders, behauptet) und auf diese Weise die Wahrheit zu vertuschen, - beides ist ein Witz.
Den Tod unserer Mutter kann ich nicht als Selbstmord ansehen, sondern nur als Mord.
Es mag sein, dass meine Sicht juristisch nicht hält, aber menschlich war es so.
Sie ist über viele Jahre lang in den Tod hinein getrieben worden.
Und auch wenn ich weiß, dass Du verlogen genug bist, um jetzt alle Deine Schuld abzustreiten und alles so herumzudrehen, wie es Dir passt – Deine Reaktion, als ich nach dem Tod unserer Mutter von der Polizei vernommen worden war (einer von uns beiden musste zur Kripo, um über ihre letzte Nacht in der Wohnung zu berichten; und Du hast Dich freilich gedrückt), hat Bände gesprochen.
Du hast Dich damals angeschissen, dass ich dort irgendetwas gesagt haben könnte, was etwas anderes als ihre eigene psychologische Disposition als Ursache ihres Todes in das Blickfeld rücken könnte.
„Wegen dir komme ich vielleicht noch ins Gefängnis, du Spinner, kapierst du das nicht?!“ hast Du da zähnefletschend gekreischt, als ich von der Vernehmung zurückkehrte.
Das ist verräterisch genug. Das sagt eigentlich alles.

***

Du hast diese arme, alte, wehrlose Frau in den Tod hinein geprügelt. Du hast sie tagtäglich geohrfeigt, geschlagen, misshandelt und gequält und damit in den Selbstmord getrieben - aber Deine ganze Perversität kommt darin zum Ausdruck, dass Du sogar in dieser Situation, unmittelbar nach ihrem grässlichen Tod, nicht das geringste Mitgefühl mit ihr hattest, sondern Dich wie üblich bloß angesoffen und selbstmitleidig geplärrt hast: „Ihr beide, du und die Oberin, ihr habt mein Leben zerstört!“

***

Ich habe sie noch wenige Stunden vor ihrem Tod im Spital gesehen, am späten Nachmittag oder frühen Abend des 20. Oktober 1990 (ein Samstag).
Sie „sah furchtbar aus. Die rechte Wange war tief eingefallen, sie schlief tief und röchelte schwer.“
 Erst da habe ich den Ernst der Situation überhaupt kapiert.
Freilich habe ich ihn immer noch unterschätzt. Im Rückblick wäre es am besten gewesen, ich wäre bei ihr geblieben, und hätte ihr die Hand gehalten.
Oder mehr noch: ich hätte warten müssen, bis sie wach wird, und sie dann einfach nehmen und umarmen und ihr sagen müssen, dass ich sie lieb habe.
Aber erstens hatte es in unserer Familie solche Gesten nie gegeben und wäre ich darum damals gar nicht auf so eine Idee gekommen.
Und zweitens kapierte ich nicht, dass mir nur ganz wenige Stunden blieben. Ich glaubte, es wäre noch mehr Zeit sie zu retten. Der zuständige Arzt, Oberarzt Doktor Beck, nahm sich keine Zeit für mich, deutete aber mit ein paar Worten an, dass sie nicht kooperiere. Er erklärte mir aber nicht, was er genau damit meinte.
Ich ging nachhause und hatte den Plan, die Familie, d.h. die Geschwister plus Ehepartner, zusammenzutrommeln, weil ich die Idee hatte, dass wir alle am nächsten Morgen an ihr Bett kommen, und, wenn sie wach wird, uns ihr von unserer guten Seite zeigen, ihr zeigen, dass wir für sie da sind und sie dazu überreden, dass sie wieder leben will.
Es sagt sehr viel aus über die Familie, dass auf meine verzweifelten Telefonate hin niemand von den Geschwistern aus Wien her kam – sondern nur der Schwager.
Und der saß dann mit Dir und mir in der Wohnung und redete mit uns ein wenig, - als dann, ungefähr um dreiviertel 9h abends der Anruf aus dem Spital kam, dass sie gestorben ist.

***

Aber ihren schrecklichen, leidenden, gemarterten Gesichtsausdruck, den sie hatte, als sie da am Nachmittag tief schlafend (oder vielleicht im Grunde schon irgendwie bewusstlos) und röchelnd lag … den werde ich nie vergessen.
Er war jedoch letztlich nur die Steigerung der angstverzerrten, verzweifelten, gequälten Miene, die sie über viele Jahre lang in unserer Wohnung aufgrund der tagtäglichen Misshandlungen trug.
Dieses Gesicht werde ich nie vergessen.
Dieses gequälte Gesicht hatte sie auch noch ein paar Tage später bei der Aufbahrung.

***

Die ganze Verrohtheit und Verwahrlosung der Familie hatte sich auch wenige Tage vor dem Tod der Mutter in aller Deutlichkeit gezeigt, in jener Nacht, als sie ins Spital eingeliefert wurde.
Leider kann ich mich hier nicht ausnehmen.
Wären wir beide, Du und ich, irgendwie normal gewesen, wäre unsere Familie irgendwie normal gewesen, - so wäre es uns beispielsweise gleich aufgefallen, dass die Mutter sich seltsamerweise im schönen Gewand niedergelegt hatte.
Es war die Nacht vom Mittwoch, dem 17. Oktober 1990, auf Donnerstag, den 18. Oktober 1990.
„Um ca. ½ 2h in der Früh wachte ich durch das Brechen der Oberin auf. ‚Was ist?‘ fragte ich. Sie kniete schon vollkommen angezogen, mit einem blauen Kleidchen und feinen Schuhen, über der Klomuschel und brach – PERMANENT! Ich wusste nicht, was ich tun sollte!“
Man darf nicht vergessen, ich war ein hochneurotischer und vollkommen ängstlicher Mensch. Ich hatte Scheu, die Rettung zu rufen.
Die Mutter log mich an: „Nur eine kleine Magenverstimmung!“
„Ich weckte Hermann auf, ein wenig wütend, daß er sich um nichts kümmerte. Er sagte, das sei doch nichts Arges. Bricht sie halt!
Ich blieb ca. bis ½ 3h wach und teilweise bei ihr.
Ich sagte ihr, sie müsse viel trinken, damit der Körper nicht austrocknet, brachte ihr ein Kotzlavor ins Zimmer, damit sie nicht immer auf’s Klo rennen muss. Sie spie rotes Wasser, weil sie eine Blutorange gegessen hatte, wie sie sagte. Ich hielt es schon für Blut.
Soweit meine positive Seite.
Dann schrie ich aber auch mit ihr mitten in der Nacht, weil sie nie etwas tue und auf ihre Gesundheit nicht aufpasse, und darum sowas ja kein Wunder sei. Und es kann sein, daß ich auch noch Schlimmeres schrie und schimpfte. Ich war verärgert, weil ich meinen Schlaf brauchte und müde war. Und schon genug Sorgen habe.
Irgendwann schlief sie dann wieder ein. Ich zog mich in mein Zimmer zurück.
Ich träumte gerade etwas Schönes und wachte dementsprechend verärgert auf, als sie rief: ‚Ich habe im Schlaf erbrochen!‘
Ich weckte dann den Hermann auf und zwang ihn, mir zu helfen, sie zum Speiben aufzurichten. Prügelte ihn auch. Wir stritten, rauften. Sie sagte: ‚Streitet nicht!‘
Noch an ihrem Totenbett prügelten wir uns.
Schließlich schrie Hermann: ‚Erbrechen, Verwirrtheit – ja siehst du denn nicht, daß das Anzeichen eines Gehirnschlags sind? Wer ist hier der Maturant?‘
Ich rief den Notarzt.
Oberin war unansprechbar. Ich richtete sie wieder auf und sie sank immer wieder über dem Speiblavor zusammen. Sie wollte sich wieder auf den Rücken legen, aber das wollten wir nicht, damit sie sich nicht selber ankotzt und erstickt.
Die Sanitäter begriffen nicht, wie unansprechbar sie ist, und sagten, sie solle mithelfen, als wir sie in den Tragstuhl hoben. Es war ein schrecklicher Anblick. […]

***

Es ist eine unauslöschliche Schande: Das war das Letzte, was unsere Mutter von uns beiden, von ihren jüngsten Söhnen, in ihrem Leben sah - dass wir beide neben ihr miteinander schrien, stritten, rauften und prügelten, währenddessen sie gleichsam schon im Sterben lag. Das ist derart beschämend, wenn ich das heute lese. Es sagt aber alles über diese kranke, barbarische Familie.
Ebenso wie der Umstand, dass wir uns nicht weiter darüber wunderten, dass sie im schönen Kleid im Bett lag, dass wir noch nicht einmal darüber nachdachten.
Wir glaubten, sie sei halt wieder einmal krank.
Ich fuhr nicht mit der Rettung mit, sondern befolgte die Anweisung des Sanitäters, packte die Medikamente der Mutter ein und ging um ca. halb sechs Uhr früh, noch im Dunklen, zum Spital nach, um sie dort abzugeben.
„Gott! Warum immer nur Horror! Horror! Horror! Immer nur Leiden! Leiden! Leiden!“
dachte ich mir während des ganzen Weges.
„Oben auf 3 B lag meine Mutter auf dem Gang in einem Bett.
Eine Infusion hatte sie am Arm. Sie schlief nun tief und fest.
Ich wollte erleichtert sein, aber sie war trotzdem noch so ein schrecklicher Anblick.
Die Schwester erklärte mir, daß a) Oberin Tabletten genommen habe und b) wesentlich der Zucker entgleist sei.“
Selbst dann aber kapierte ich den Ernst der Situation nicht. Nämlich, dass sie immer noch in Lebensgefahr schwebt. Ich dachte, sie ist im Spital, also ist sie gerettet.
Was daraufhin medizinisch wirklich passierte, ist auch bis heute äußerst unklar. Dazu gab es ganz unterschiedliche Aussagen.
Als ich am Samstag mit dem Oberarzt Doktor Beck sprach, erklärte er mir ganz im Gegensatz zu dieser Krankenschwester, dass von einer Entgleisung des Zuckers keine Rede sein könne, sondern unsere Mutter eine Lungenentzündung habe (daher käme das Röcheln), und es schlecht enden würde, „wenn sie so weiter mache“, - wobei er mir keine Erklärung gab, was er damit meinte. Und: „In das Innere der Organe kann ich nicht reinsehen“, sagte er etwas unwirsch. Und dann war er schon wieder auf und davon.
Du erzähltest mir unmittelbar danach, dass dem Lupus im Spital gesagt worden sei, dass sie die Nahrung verweigere. Und sie habe sich von ihm weggedreht, als er zu Besuch gekommen sei, habe sich zur Mauer gedreht und nichts mit ihm reden wollen. (Da war sie also wach. Ich könnte nun natürlich nachdenken über das, was geschehen wäre, wenn sie wach gewesen wäre, als ich kam … Ich weiß es nicht. Aber es beschäftigt mich. Zumindest heute weiß ich, was das Richtige zu tun gewesen wäre.)
Die Frau von Franz, Gilla, jedoch sagte mir in der Woche nach dem Tod unserer Mutter bei einem Telefonat, dass sie dem Obduktionsbericht (den ich selbst aber persönlich nie gesehen habe) zufolge an einer Gehirnblutung gestorben sei. Von Tabletten, die sie geschluckt habe, war da auf einmal überhaupt nicht mehr die Rede, und auch eine Lungenentzündung soll sie gar nicht gehabt haben. Woher die 41 Grad Fieber (die sie außerdem gehabt haben soll) gekommen seien, wüsste niemand zu sagen, das habe wohl andere Ursachen gehabt.

***

Im Nachhinein muss ich Gillas Auskunft allerdings als nicht vertrauenswürdig einstufen. Es ist ziemlich offenkundig, dass sie versucht hat, das, was geschehen ist, zu vertuschen. Und sie hat dabei nicht vor Lügen, Verdrehungen und wilden Behauptungen aller Art zurückgeschreckt. Ein anderes Mal hat sie ja – wie schon oben erwähnt – dann plötzlich gesagt, die Mutter habe zwar Tabletten geschluckt, aber nicht wirklich sterben wollen …
Es waren lauter diffuse Wischi-Waschi-Behauptungen, die da in der Familie in Umlauf gesetzt wurden, um alles nicht so schlimm aussehen zu lassen und auch um sich selbst etwas vorzumachen. Widersprüchlich und wirr waren die Äußerungen zum Tod unserer Mutter, mal so und mal so. (Beim Franz sowieso, der es ja auch heute noch zustande bringt, in einem Satz das genaue Gegenteil von dem zu sagen, was er gerade im Satz zuvor gesagt hat, ohne dass ihm das selbst auffällt.)
All das passt aber keineswegs zu den Abschiedsbriefen.
Diese sind eindeutig.
Auch die Umstände, wie diese Briefe aufgefunden wurden, sind nebenbei ein weiterer Beleg für die Verwahrlosung in unserer Familie und die grässlich-wirren Umstände des Todes unserer Mutter:
Mehr als ein Monat danach (!) fandest Du ganz zufällig in einem Deckenstapel am Fußende ihres Bettes nicht nur diese in total zittriger Schrift auf zerknitterte Zettel geschriebenen, verzweifelten Abschiedsbotschaften, sondern auch die Dokumente (Lebensversicherung, Geburtsurkunde, Wiener Verein), die wir vergeblich für die Beerdigung gesucht hatten.
Diese Dinge hatte sie dort für uns hinterlegt, ohne allerdings vorherzusehen, dass wir dort wochenlang gar nicht nachschauen würden.
Das bezeugt jedoch eindeutig, dass die Mutter ihren Tod geplant und vorbereitet hatte und, obwohl sie dabei ein wenig linkisch vorgegangen war, zu sterben entschlossen gewesen war.
Wahrscheinlich hatte sie bloß zu wenig Tabletten genommen oder hatte deren Wirkung nicht richtig einschätzen können. Darum kam es in der Nacht dann zu Erbrechen und Übelkeit, anstatt zum Wegdämmern in den Tod, wie sie es sich wahrscheinlich gewünscht hatte.

***

Es mag sein, dass die Ärzte im Badener Krankenhaus nicht gerade den Durchblick hatten und alles andere als kompetent agierten.
Wahr ist aber auch, dass es nachher in unserer Familie nie mit irgendeinem normal über diese Ereignisse zu reden möglich war. So etwas wie eine ordentliche Aufarbeitung gab es nie. Bis heute nicht.
Da hätte man sich denn doch auch zu sehr mit der jeweils eigenen Schuld auseinandersetzen müssen.
Stattdessen regierte nach dem Tod unserer Mutter, ohne dass man daraus etwas gelernt hatte, in unserer Familie weiterhin die blanke Gehässigkeit. Und es wurde dann plötzlich ausgerechnet mir die Schuld an ihrem Tod in die Schuhe geschoben – aufgrund eines Briefes, den ich an unsere Mutter nach Gugging geschrieben hatte.
Den schrieb ich ihr übrigens lange vor ihrem Tod. Und es war ein Brief, von dem keiner von euch überhaupt weiß, was da drin stand und warum ich ihn geschrieben hatte. Und das hat mich auch niemand von euch je gefragt.
Das hielt Franz und Dich nicht davon ab zu verbreiten, dass ich es sei, der die Mutter damit in das Grab gebracht hätte, dass ich schuld an ihrem Selbstmord sei.
Das ist mal wieder so typisch für euch. Für den ganzen Wahnsinn und die ganze Gehässigkeit in dieser Familie.

***

Dabei habe ich mein Letztes gegeben, um alles zu retten, noch in den letzten Monaten vor ihrem Tod.
Und niemand hat mir dabei geholfen. Niemand von euch allen.
Ich hatte kapiert, dass in unserer Familie nur mehr die blanke Gewalt herrscht, dass unser Leben in der Wohnung in Baden eine Rattenkäfigsituation darstellt und dort alles untergeht.
Ich habe versucht, irgendwie eine Möglichkeit zu finden, damit wir beide ausziehen können, Du und ich, nach Wien, damit wir von Baden wegkommen, weg von den Eltern, die ich damals noch als alleinige Ursache allen Übels sah.
Wenn ich das geschafft hätte, dann wäre auch die Mutter sicher vor Dir gewesen.
Aber ich habe kein Geld für die Ablöse einer Wohnung gehabt. Was da gefordert wurde, war ein Vermögen für meine Verhältnisse, auch wenn ich eine gewisse Summe aus meiner Zeit vom Zivildienst über hatte.
Und Job habe ich auch keinen gefunden.
Du hattest sowieso kein Einkommen, nicht einmal mehr Familienbeihilfe, die hatte ich wenigstens noch.
Und niemand, niemand in der Familie hat mir geholfen. Niemand.

***

Besonders das Verhalten der älteren Geschwister in diesen Jahren vor dem Tod unserer Mutter war an Absurdität und an Gemeinheit kaum überbietbar. Sie haben einen vollständig im Stich gelassen.
Franz und Ingrid haben sich auf eine Art und Weise verhalten, die an Doppelbödigkeit nicht zu überbieten ist.
Zuerst haben sie einen über viele Jahre lang gegen die Eltern aufgewiegelt. Haben Öl ins Feuer gegossen und das Familienklima dadurch verschlimmert.
Franz und Ingrid haben über viele Jahre lang auf uns eingeredet und uns erklärt, wie schlimm, gestört und unerträglich unsere Eltern wären. Haben über sie in den ärgsten Ausdrücken geschimpft und versucht, uns auf ihre Seite zu ziehen. Haben uns sogar Anekdoten aus den Zeiten vor unserer Geburt erzählt, die belegen sollten, wie abnormal und irre unsere Eltern wären.
Was für ein Spinner der Lupus sei! Was für eine Gestörte unsere Mutter sei! Wie arm wir „zwei Kleinen“ doch bei denen wären!
Dadurch haben Sie Dich in Deinem krankhaften Hass auf die Mutter auch noch angestachelt und bestärkt!
Bei den Streitereien um Deine mögliche Entmündigung im Winter 1988/89 hat die Ingrid überdies im speziellen mich erfolgreich mit allen Kräften gegen die Mutter aufgehetzt, hat so getan, als wäre sie unsere Verbündete, die nun Dir und mir gegen die Eltern helfen würde – und hat dadurch am Ende nur zur Eskalation beigetragen, hat dadurch nur noch mehr Angst, Streit, Hass und Panik verursacht, was im Endeffekt sogar bewirkte, dass auch ich auf die Mutter physisch losging.
Und beide, Franz und Ingrid, haben uns außerdem über viele Jahre lang ganz große Versprechungen gemacht, wie sehr sie uns helfen und sich immer uns kümmern würden! Wie sehr sie uns unterstützen würden, wenn wir einmal aus der Wohnung der Mutter in Baden nach Wien auszögen! Was sie alles für uns tun würden!
Was ist uns da alles versprochen worden!
Und dann, als es ernst wurde, da war natürlich auf einmal nichts mehr davon über. Als ich dann wirklich fragte, ob sie uns nicht helfen könnten, eine Wohnung in Wien zu finden, ob sie uns dabei unterstützen würden  – da war auf einmal die Wende um 180 Grad. Bei beiden.
Da wurden wir zwei auf einmal verspottet und verhöhnt.

***

Als auf einmal wirklich etwas getan hätte werden müssen, als schöne Reden nicht mehr ausreichend waren - da wollten Franz und Ingrid auf einmal nichts mehr davon wissen.
Da wurden wir beide auf einmal beschimpft dafür, dass wir überhaupt etwas von ihnen erwarteten.
Und über die Eltern und unsere Situation in Baden wurde uns nun plötzlich das genaue Gegenteil von dem gesagt, was uns vorher jahrelang immer gesagt worden war!
„Ja, was habt ihr überhaupt für Probleme da draußen! Euch geht es ja eh gut! Schlecht geht es doch den hungernden Kindern in Äthiopien, aber nicht euch!“
hat Franz mir plötzlich am Telefon erklärt. Keinen Finger hat er für uns gerührt. Stattdessen hat er mich als „Klugscheißer“, als „Trottel“ und als „Geistesgestörter“ bezeichnet und dann sogar zornentbrannt unsere Mutter angerufen (24. Februar 1989) und bei ihr intrigiert, dass sie mich bei meinen Auszugsplänen ja nicht unterstützen solle!
Ingrid ist immerhin einmal, ein einziges Mal, widerwillig mit mir zu einer Wohnungsbesichtigung mitgegangen (26. Juli 1989).
Das war ihr schon zu viel. Dann hat sie sich schon beschwert über die „Belastung“, die ich ihr damit zumute.
Und ab dem Moment hat sie mir Reden gehalten, dass wir zwei „faul“ wären, dass wir zwei „selbst schuld“ an unserem Schicksal wären und sie nicht einsehe, wieso sie uns helfen solle, wir sollten das gefälligst „selbstständig“ machen, ich würde anscheinend nur warten, dass mir „die gebratenen Tauben“ in den Mund flögen, warf sie mir vor, ihr habe ja auch keiner geholfen, behauptete sie, jeder müsse es allein schaffen, es hänge nur von mir selbst ab, eine Wohnung zu finden, und ob man glücklich werde oder nicht, hänge sowieso immer nur von einem selber ab.
Wenn es uns schlecht gehe, dann sei das „unser Bier“, was gingen denn sie meine Raufereien mit Dir und dem Lupus an, daran sei doch allein ich „selbst schuld“, was gehe das sie überhaupt an, wir hätten ja „eh keine Probleme“, „allen Leuten gehe es schlecht“, nicht nur uns, was wollen wir denn überhaupt, wir sollen unsere Probleme „selber lösen“, und sie wolle davon gar nichts mehr hören, uns sei offensichtlich „ganz einfach nur fad im Schädel“.
Ihr selbst würde es ja eigentlich gut gehen, betonte sie, nur unseretwegen gehe es ihr schlecht, wir zwei seien schuld daran, denn wir wären so „negativ“.
Und gelegentlich konnte sie auch einstreuen, dass wir beide eigentlich „abgetrieben“ gehört hätten.
Von oben bis unten wurde ich, wurden wir beide in den Telefonaten mit Ingrid auf diese Weise beschimpft, erniedrigt und heruntergemacht – während ich verzweifelt irgendeinen Ausweg suchte.
Das war es, ja, - das war die ganze Hilfe, die ich von den älteren Geschwistern in dieser schlimmsten Zeit meines Lebens bekommen habe.

***

In dieser ausweglosen Situation habe ich etwas ganz Heroisches getan. Etwas, was niemand von euch verstanden hat. Niemand von euch allen, so kommt mir vor, hat überhaupt kapiert, was ich damit wollte.
Ich weiß, auch Du, Hermann, hast nie verstanden, was eigentlich meine Gedanken waren, als ich Dir im Sommer 1990 den Vorschlag unterbreitete, dass wir beide gemeinsam eine Interrailreise unternehmen und nach Athen fahren.
Dass es diese einfache Möglichkeit gab (mit der Eisenbahn nach Griechenland fahren), diesen konkreten Tipp hatte mir nicht irgendjemand aus der Familie gegeben, sondern jemand Außenstehender, Waldemar, den ich damals gerade kennengelernt hatte. (Eine Seltenheit, denn damals kannte ich eigentlich sonst kaum jemanden aus dem Universum außerhalb der Familie, - jemanden, der nicht so gehässig war wie die Menschen in unserer Familie.)
Wir waren (mit fast 23!) niemals im Ausland gewesen, hatten noch niemals das Meer gesehen. Ich hatte wie gesagt noch Geld vom Zivildienst über, und Griechenland war damals sehr, sehr billig.
Ich hätte nun ganz allein meinen Rucksack nehmen, mich für ein Monat von den Schlägereien in der Familie vertschüssen und mir ein schönes Leben machen können.
Aber so ein egoistisches Schwein war ich nicht. Ich war nie einer, der nur an sich selber dachte.
Ich stand damals schwere innere Kämpfe aus und fragte mich immer wieder, was zu tun richtig sei. Du selbst wolltest ja am Anfang auch nicht mit mir mit und erklärtest mir, dass Du aufgrund Deiner Phobien und Deiner Alkoholsucht gar nicht mit könntest.
Außerdem wusste ich, dass ich einen großen Teil der Kosten für uns beide mit meinem eigenen Ersparten zahlen müssen würde und die Eltern uns nur einen begrenzten Zuschuss geben würden.
Vor allem aber ahnte ich, dass es wirklich schwer und anstrengend werden würde, diese Reise mit Dir. Während ich sehen würde, wie andere junge Leute am Strand ihren unbeschwerten Spaß haben würden, würde ich Dich quasi als Klotz am Bein mit mir herumschleppen und mich dauernd um Dich kümmern müssen.
Es hätte also genügend Gründe gegeben, die es mir leicht gemacht hätten, mich einfach aus dem Staub zu machen.
Und dennoch habe ich es durchgedrückt. Dennoch habe ich Dich nach und nach dazu überredet mit mir mitzukommen.
Ich wollte Dich aus der Scheiße herausholen. Ich glaubte, so eine Reise wäre eine Möglichkeit Dich zu retten.
Es war alles andere als eine einfache Entscheidung. Es war ein großes Opfer. Aber Du warst es mir wert.
Du bist mein Bruder, habe ich mir gedacht. Mein Zwillingsbruder. Es ist das erste Mal, dass ich ins Ausland reise. Ich will Dich nicht allein im Elend zurücklassen. Ich will Dich dabei haben.
Und ich glaubte damals fest daran, dass Dich so eine Reise verändern, ja, „heilen“ würde.  
Denn Du hast Dich doch immer darüber beklagt, dass Du nie etwas vom Leben gehabt hättest. Damit hast Du Deinen Hass auf alles und jeden begründet.
Und Du hast durchaus oft selbst von Deiner Sehnsucht nach Reisen gesprochen. Ich habe darum damals angenommen, dass so eine Reise Dich von Deiner mürrischen und aggressiven Stimmung befreien müsste, von diesem krankhaften Hass auf alle Menschen und das ganze Leben, den Du andauernd zelebriert hast (und – nebenbei – immer noch zelebrierst).
Und dadurch würde dann auch alles in der Familie besser werden. Du würdest die Mutter nicht mehr schlagen, Du würdest mich nicht mehr schlagen, nicht nachdem ich Dir diese Reise geschenkt hätte.
Du würdest eine neue Perspektive auf das Leben bekommen. Du würdest sehen, dass das Leben nicht so grauslich, hässlich, trostlos und ausweglos ist, wie Du dauernd glaubst, sondern stattdessen erkennen, dass es im Grunde sehr schön ist.
Das würde Dir Hoffnung geben.
Und so habe ich das wirklich auf mich genommen und habe Dich mit mir mitgenommen.
Und es war tatsächlich sehr schwer, ja, es war sogar noch schlimmer als befürchtet. Selbst mitten auf dem Victoria Square von Athen und auf den Brücken von Venedig hast Du auf mich mit zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse eingeprügelt und mir bei den Raufereien sogar mein Leiberl zerrissen.
Sobald wir in einer Stadt ankamen, wurde der ganze Ablauf fast durchwegs von Deinen Bedürfnissen bestimmt. Zuallererst musste für Dich stets irgendwo Alkohol besorgt werden, und dann ging es freilich ums Essen für Dich. Und wenn ich, damit unser Geld für die ganze Reise reicht, mich nicht in einen Gasthof setzen oder Dir eine Pizza kaufen wollte - dann hagelte es schon schwere Schläge.
Alles Organisatorische musste ich ganz allein regeln. An und von den Bahnhöfen aus musste ich herumlaufen und Unterkunft suchen, Stadtpläne besorgen, öffentliche Verkehrsmittel ausfindig machen und auch die Informationen für die Weiterfahrt organisieren, Travellerschecks einlösen, Geld wechseln, Gepäckaufbewahrung checken und, und, und …
Während Du stets irgendwo in einem Eck gehockt bist und dabei gesoffen, gegessen und immer nur gemeckert und einen beschimpft hast.
Am Ende der Reise war ich darum auch vollkommen abgemagert, während Du dasselbe enorme Übergewicht hattest wie zuvor.
Und trotzdem hatten wir ein paar wunderschöne Momente, während der Zugfahrt durch das damals noch bestehende Jugoslawien, auf den griechischen Fähren (ungeachtet meiner schweren Seekrankheit), auf den Inseln, auf ihren Campingplätzen, die direkt am Strand waren … aber dann auch noch in Venedig, Pisa, Nizza und am Schluss sogar in Paris.
Ich habe damals beinahe Übermenschliches geleistet, habe etwas getan, was sonst keiner geschafft hätte. Kein Franz, keine Ingrid, kein Lupus hat jemals so etwas getan! Ich habe meinen psychisch schwer kranken Bruder auf eine Bahn- und Schiffsreise durch halb Europa geführt!
Ich habe es aus Bruderliebe getan!
All die schweren Opfer, die ich dafür bringen musste, all die Mühsalen, die Quälereien und Streitereien, - das war es mir wert, weil ich glaubte, nachher würde es Dir besser gehen!
Und weil ich Dich liebte, wie ein Bruder seinen Bruder nur lieben kann!
In der Tat: In all Deinem krankhaften Hass auf mich, den Du auch heute noch selbstmitleidig pflegst, vergisst Du immer ganz, wie viele Dinge Du mir eigentlich zu verdanken hast!
Unter vielem anderem: Ohne mich hättest Du es noch nicht einmal geschafft, je Deinen Fuß auf außerösterreichischen Boden zu setzen!
Und ohne mich hättest Du niemals das Meer gesehen!

***

Ich war perplex, als wir zurückkamen und ich sah, dass sich nichts an Dir geändert hatte. Aber nichts, gar nichts, überhaupt nichts.
Die Prügelei ging ganz genauso weiter wie zuvor.
 Es war, als hätte es die ganze Reise überhaupt nicht gegeben, als wären wir beide gar nicht weggewesen.
Du warst ganz der Gleiche wie vorher. Es war, als wäre diese Reise in Deinem Bewusstsein gar nicht vorhanden.
Mit demselben stumpfsinnigen Rasen wie zuvor hast Du auf einen eingedroschen, einen gequält, misshandelt und gefoltert, - die Mutter und mich.
Tagebucheintragung vom 22. August 1990:
„Es ist unglaublich. Eine Woche sind wir zurück[,] und Hermann führt sich ärger auf als je zuvor! Fuchtelt mit dem Messer vor mir rum, preßt täglich 150 S[chilling] aus der Oberin heraus, quält den Kater, wenn sie es nicht tut, wirft ihr Bücher u. a. Sachen an den Kopf, schreit, hat laute Krämpfe in seine Fäuste brüllend in seinem Zimmer, frißt ungeheuer viel Spaghetti und säuft Unmengen, und verordnet mir höhnisch Diät, damit wir Geld sparen […]
Die Oberin bat mich, ihren Schlüssel aus Hermanns Zimmer zu holen. Ich ging, aber Hermann war schneller. Er hielt den Schlüssel hinter seinen Rücken, stellte sich vor die Oberin und fragt: ‚Wie viel ist dir der Schlüssel wert?‘ Die Oberin ist von dem allen schon ganz kaputt mit den Nerven. Diesmal fing sie ganz furchtbar zum Schreien an, ‚Gibt mir den Schlüssel‘ und verzerrte ihr armes Gesicht zur von Leid und Wut geplagten Grimasse. Ausnahmsweise gab Hermann nach.“
Das war aber nur für den Moment.
„Dann pumperte er in ihr Zimmer: ‚Ich will Geld‘ – ‚Ich habe keinen Geldscheißapparat‘ – ‚Nur 100 Schilling‘ – ‚Ich kann nicht.‘ – Gib her.‘
Er beginnt dann aggressiv zu werden und sich Zugang zur Geldschatulle zu verschaffen. Auch diesmal schreit die Oberin wütend. Sie ist am Ende ihrer Nerven.
‚Schrei nicht mit mir‘, wagt dann dieses Schwein zu sagen.“
Ich machte nun den Fehler, mich von meinem Gefühl der Empörung mitreißen zu lassen. Das war vollkommen sinnlos, weil Du viel stärker als ich warst und Dich jede Gegenwehr nur noch rasender gemacht hat:
„Ich schlage voll gegen seinen Rücken […] Voll Aggression stürzt er sich auf die Oberin und schreit: ‚Jetzt gibst ma owa des Göd.‘ – ‚Ja, ich geb’s dir, ich geb’s dir ja!‘
[…]
‚Vieh‘ schreit sie ihm nach, als er das Geld hat. – ‚Wenn du mich no amal Vieh nennst, dann …‘“

***

Am 2. September 1990:
„Vorhin hat mir Hermann so in den Bauch geschlagen, daß ich für ein paar Augenblicke wirklich Angst hatte, keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken.“
Am 19. September 1990 machte ich den „Fehler“, Dir endlich doch einmal Dein Selbstmitleid vorzuwerfen.
Das hast Du selbst mir damals zwar auch oft höhnisch vorgehalten und mich regelmäßig auf noch viel schlimmere Weise beschimpft. Du hast mich beispielsweise in diesen Wochen nach der Interrailreise als „Morphiumsüchtigen“ verspottet, weil ich so abgemagert war und so schlecht aussah.
Nur galt da halt für Dich immer zweierlei Maß. Ausgeteilt hast Du gerne. Du hast es als Selbstverständlichkeit angesehen, dass Du den anderen beschimpfen darfst, wie es dir passt. Aber wehe, es hat einmal einer Dich kritisiert:
 „Als ich dann in der Küche war, kam er plötzlich daher – so furchtbar habe ich ihn seit dem Polizeiverhör nicht mehr erlebt!
Er würgte u prügelte mich unbeschreiblich, weil er sich sowas [das mit dem Selbstmitleid] nicht sagen lasse.
Ich prügelte zurück. So cholerisch … Wie ein Irrsinniger …
Oh … Gott … Es entstand ein großer Lärm … die Oberin kam dazwischen … Sie wollte Ruhe schaffen, weil sonst die Polizei kommt … Er würgte sie und prügelte sie […]
Ich nahm meinen Stecken und prügelte dauernd den Hermann!
Ich schlug so stark zu, daß der Stecken brach!!!
Aber Hermann ließ sich trotzdem! nicht davon abhalten, die Oberin zu würgen. Er wolle sich das nicht gefallen lassen.“

***

Das war jetzt nur ein allerkleinster und bei weitem unvollständiger, ja im Grunde vollkommen oberflächlicher kurzer Einblick in Deine grausigen und abstrusen Gewalttätigkeiten, die auch im Spätsommer und Frühherbst 1990, nach unserer gemeinsamen Interrailreise, sich beinahe täglich abspielten, kurz vor dem „Selbstmord“ der Mutter.
All meine Bemühungen waren vergeblich gewesen.
Und die älteren Geschwister hatten nichts anderes zu tun als dazwischen weiterhin Öl ins Feuer zu gießen und tagesordnungspunktmäßig die Mutter noch zusätzlich mit ihren Gehässigkeiten zu überschütten:
„Jetzt eben kam die Oberin rein [in mein Zimmer] und sagte mir etwas (der Franz werfe ihr vor, daß sie mir nicht beibringe, um ein Stipendium anzusuchen.) Wie sie ausschaut, wie ein Gespenst, es ist einfach unbeschreiblich. Ihre weiße Haut hängt in Falten vom verzogenen Mund herunter …“
Ja, diese Unverschämtheit besaß Franz: Er selbst hat keinen Finger gerührt für Dich und für mich!– Aber der alten, zuckerkranken, schwer depressiven Frau, die kaum die Wohnung zu verlassen imstande war, auf die ist er dann losgegangen, weil sie nichts tue!

***

Im selben Herbst brach ein anderer Hoffnungsschimmer zusammen. Ich hatte mich als Billeteur im Stadttheater Baden beworben. Zuerst hatte es nach einer Zusage ausgesehen. Dann kam plötzlich der Anruf, dass sie mich doch nicht brauchen (19. September 1990).
Ohne dass mich irgendjemand von der Familie dabei unterstützt hätte, habe ich schließlich erst mehr als ein halbes Jahr nach dem sogenannten „Selbstmord“ der Mutter im Oktober 1990 einen Job als Museumsaufseher im Schloss Schönbrunn und zumindest eine vorübergehende Bleibe in einem WG-Zimmer in Wien gefunden.
Und auch ohne dass mir irgendwer bei diesem Umzug geholfen hätte, bin ich dann Ende Juni 1991 siebenmal (!) mit dem Zug von Baden nach Wien und wieder zurückgefahren, um meine notwendigste Habe in die neue Unterkunft zu transportieren. Und das, obwohl es in den Familien unserer beiden älteren Geschwister Autos gab.
Dass auf der einen Seite wir zwei, Du und ich, bis zu meinem Auszug weiterhin beinahe jeden Tag von dem wie Klaus Kinski besinnungslos tobenden Vater niedergeschrien und beschimpft wurden und ich auf der anderen Seite außerdem zusätzlich nach wie vor von Dir regelmäßig mit zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse tätlich angegriffen und misshandelt wurde, das brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Nichts hatte sich an euch beiden Klaus Kinskis geändert, nicht einmal nach dem grausigen Tod der Mutter, der wohl jeden normalen Menschen zur Besinnung gebracht hätte – aber nicht euch beide.
Rückblickend kann ich froh sein, dass ich irgendwann einsah, dass es trotz aller Bruderliebe unmöglich sein würde, mit Dir gemeinsam auszuziehen und die Verantwortung für Dein Leben auch noch zu übernehmen. Es ist absehbar, dass ich auch in einer neuen Wohnung wie ein Sklave von Dir gehalten worden wäre. Am Ende hätte ich dort alles für uns beide tun müssen: Studieren, Wohnung putzen, Geld beschaffen, Einkaufen gehen, Alkohol für Dich besorgen, - und zusätzlich wäre ich nach wie vor täglich von Dir verprügelt und gewürgt worden, wenn Dir gerade etwas nicht gepasst hätte. Ansonsten hättest Du nur gesoffen und gefressen, so wie Du das ja auch in Baden gemacht hast.
Und selbst an meinem letzten Abend in der Wohnung in Baden hattet ihr von der Familie nichts anderes zu tun als mir noch einmal eure hässlichste Fratze zu zeigen.
Da kam Ingrid nach Baden raus und beschimpfte mich einfach ansatzlos als „faulen Hund“, weil die Küche dreckig war.
Und weil ich mir das nicht gefallen ließ und zurückschimpfte, begann sie dann zum Weinen und fing auch noch mit Dir zu streiten an.
Wie ich schon oben berichtet habe, hast Du dann allen Ernstes daraus neuerlich eine Berechtigung abgeleitet, auf mich einzudreschen. Nicht etwa auf Ingrid, dafür warst Du freilich zu feig, die ist dann abgefahren und hat das gar nicht mehr mitbekommen, was sie angerichtet hat, - sondern auf mich.
Zum letzten Mal hast Du auf mich eingedroschen. Leider nicht zum letzten Mal überhaupt, aber zum letzten Mal in der Badener Wohnung.
Das war der Abschied meiner Familie bei meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung am 29. Juni 1991!
Das muss man sich auch einmal vorstellen! Wenn ich das irgendjemandem erzähle, der kann das ja gar nicht begreifen!

***

Immerhin hat Ingrid in diesen Zeiten vollkommener Turbulenzen auf mein Betreiben hin wenigstens den Kater an sich genommen. Der konnte ja nicht in der Badener Wohnung gelassen werden, nur mit Dir und dem wahnsinnigen Vater zusammen. Du hast ihn im Zuge Deiner Schübe von Gewalttätigkeit oft geärgert, gepiesackt und gequält, mit Pölstern nach ihm geworfen oder mit dem Ball auf ihn geschossen oder eben, wie schon geschildert, als Geisel benutzt, um Geld zu erpressen. Dabei hast Du ihn am Schwanz gezogen, gezwickt oder sogar gewürgt, bis er miaut hat.
Und manchmal, wenn Du getobt hast, wenn Du wutschäumend mit Dingen um Dich geschleudert und etwas zerbrochen hast, dann ist er in wilder Panik davon gelaufen, so dass man seine Tatzen richtig am Parkettboden wetzen hören konnte.
Den konnte man nicht Dir überlassen. Was Du mit dem getan hättest, war nicht absehbar. Du warst ihm gegenüber nicht weniger gewissenlos als gegenüber der Mutter und mir. Ein Tierquäler.
Ich selbst war zum Zeitpunkt meines Auszugs ein psychisches Wrack, hatte eine sehr unsichere Wohnsituation und war nicht imstande, ihn mit mir zu nehmen, um ihn vor euch zu schützen und für ihn zu sorgen.
Ja, ich weiß, Dir war der Kater beinahe vollkommen egal, und Du weißt noch nicht einmal, wie gern ich ihn gehabt habe, wie sehr ich an ihm gehangen bin. Ich selbst hatte damals auch ganz andere Probleme. Ich hatte vieles andere im Kopf.
Schon deswegen habe ich mit Dir nie darüber geredet. Erst in den letzten Jahren ist mir das auch erst so richtig bewusst geworden, dass das Schicksal des Katers zu all Deinen Verbrechen noch dazu kommt.
Über viele Jahre lang ist der Kater jede Nacht zu mir gekommen, oder wann immer ich in meinem Zimmer war. Gelegentlich lag er bei der Mutter, oft ist er aber auch in mein Zimmer gekommen. Ich habe ihn gestreichelt, und er hat mich sehr gemocht.
Nur zu Dir ist er freilich weniger gern gekommen, bei Deinem Verhalten. Der hatte das schon verstanden, was Du für einer bist.
Deine ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre immer massiver werdende Gewalttätigkeit hat auch meine Beziehung zu diesem Tier zerstört. Zuvor hatte ich die Tür meines Zimmers angelehnt lassen können, damit er hinein und heraus konnte, wann er wollte. Nun aber musste ich meine Zimmertür immer häufiger zusperren, um mich vor Deinen Übergriffen zu schützen.
Da ist der anhängliche Kater dann oft vor der Tür gesessen und hat erbärmlich miaut, weil er zu mir rein wollte. Das arme Tier hat ja gar nicht gewusst, was da überhaupt los war und warum ich meine Tür plötzlich verschlossen hielt.
Wenn ich ihm aber öffnete, dann konnte es leicht geschehen, dass ich sehen musste, dass ich gerade einen Fehler begangen hatte – weil Du unmittelbar neben dem Kater vor der Tür gelauert und bereits mit einem hämischen Psychopathen-Grinsen Deinen Fuß in den geöffneten Spalt geschoben hattest. Dann hast Du mich zur Seite gestoßen, bist in mein Zimmer eingedrungen und hast sogleich unter irgendeinem Vorwand mit mir einen Raufhandel begonnen hast, so wie es ständig Deine Art war.
Aber auch abgesehen davon haben mich die andauernden familiären Gewalttätigkeiten in diesen Jahren derart nervlich zerrüttet, dass ich mich dem Kater gegenüber meist nur mehr apathisch, abweisend, unfreundlich oder sogar aggressiv verhielt.
Am 2. Juni 1991, also kurz vor meinem Auszug aus der Badener Wohnung, ist dann Ingrids damaliger Ehemann gekommen und hat das Tier mit sich genommen.
Er war nur etwas mehr als ein halbes Jahr in seinem neuen Zuhause. Am 30. Dezember 1991 bekam ich den Anruf von Ingrid, dass der Kater gestorben sei.
Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn dazwischen überhaupt noch einmal gesehen habe. Ingrid betonte freilich, dass er es bei ihr gut gehabt habe und dass sein Tod nicht mit dem Ortswechsel in Zusammenhang stünde.
Ich bezweifle das. Ich hatte ein sehr vertrautes Verhältnis zu dem Kater. Ich habe ihn besser als ihr alle gekannt. Er war ein sehr anhängliches Tier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er diese radikale Veränderung nicht gespürt hat und der alsbaldige Tod reiner Zufall war. Der Verlust der ihm bekannten Bezugspersonen und der vertrauten Umgebung. Plötzlich aus einer luftigen und sozusagen mitten im Grünen liegenden Riesenwohnung in eine winzige Wohnung im grauen Wien verfrachtet.
Auch sein Tod geht auf Dein Konto.  

***

Ich habe im Grunde Großartiges geleistet. Das hast Du nie verstanden. So wie Du Dich  tagtäglich verhalten hast, so wie meine ganze Lebenssituation war, all die Sachen, die damals geschehen sind – ich hätte im Grunde genauso gut irgendwann durchdrehen, die Nerven verlieren, ein Küchenmesser aus der Lade nehmen und es Dir dann in den Hals rammen können.
Dass das nicht passiert ist, ist wahrlich nicht Dir zu verdanken. Nein, das ist meiner Selbstbeherrschung zu verdanken.

***

Da habe ich mich eher schon selbst verletzt. Beispielsweise Ende März 1989, als ich von diesen ganzen Streitereien und Raufereien mit Dir endlich so aufgebracht, verzweifelt und fertig war, dass ich, nachdem Du mich wieder einmal verdroschen hattest, vollkommen die Nerven verlor, Dir nachlief und dann so heftig gegen die Glastür schlug, die Dein Zimmer vom Vorzimmer trennte, dass ich als Ganzer durch die Scheibe hindurch stürzte.
Ich blutete daraufhin natürlich aus einigen Schnittwunden relativ stark, ich kann mich noch erinnern, überall am Boden waren dicke, rote Blutspritzer. Die Rettung wurde gerufen. Ich wurde eingeliefert. Die Vene im rechten Handgelenk war aufgeschlitzt. Einen Splitter hatte ich in der Ferse. Je 2 Schnitte hatte ich überdies im Oberschenkelbereich und am Knie. Plus einige weitere kleine Schrammen und Schnitte im Gesicht.
Die ärgsten Verletzungen wurden genäht. Und die Narbe am rechten Handgelenk habe ich jetzt noch. Sie schaut ein wenig so aus, als hätte ich mir dort die Pulsadern aufzuschneiden versucht.
Die im Spital konnten sich freilich nicht recht erklären, was passiert war, und verdächtigten mich der Schizophrenie, weil ich nur wirres Zeugs hervorbrachte und teilweise sogar aggressiv wurde, wenn ich den Unfallhergang erklären sollte.
Franz relativierte das einerseits, andererseits griff er diese Diagnose gleichzeitig doch mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit auf und mimte – heute sehe ich das – auf ganz verantwortungslose Weise den Amateurpsychologen. Er erklärte mir: „Nein, nein, schizophren bist du nicht! Höchstens schizoid! Das ist jeder Popstar! Du bist bizarr!“
Du wiederum hast mich, kaum dass ich aus dem Spital draußen war, ohne Rücksicht auf die frischen Nähte, weiter verdroschen. – Und Du hast mich fast wahnsinnig gemacht, indem Du mir gleich wieder mit Deinem Selbstmord gedroht hast, weil Du keine so schöne Mutter hättest wie der Junge in dem Film von Louis Malle! Das war damals Dein Lebensthema!
Und Du hast gleich wieder Geld für Alkohol wollen und ohne Unterlass „Roby Tuesday“ und „Paint it black“ gespielt, was mich ganz fertig gemacht hat.
Meine Verletzung war Dir total gleichgültig und Du hast Dir auch nicht die Frage gestellt, was dazu geführt hat. Du hast das überhaupt nicht kapiert, was da passiert ist!
Ingrid erklärte mir unterdessen am Telefon: „Ihr könnt’s mich alle am Arsch lecken!“
Und ich fragte mich natürlich verzweifelt, ob ich wirklich schizophren sei, wie die Ärzte im Verdacht hatten.
Erst heute, im Rückblick, wenn ich diese Tagebuchnotizen durchlese, kann ich das, was damals geschehen ist, viel klarer und nüchterner verstehen. Ich habe den Ärzten nichts vom Unfallhergang mitgeteilt, weil ich nicht wollte, dass die etwas von den Streitereien in der Familie erfahren, erstens, weil ich wusste, dass die das nicht verstehen würden und es sie auch (das war damals noch meine Meinung) nichts anging – und zweitens speziell auch, um DICH zu schützen!
Denn damals, März 1989, war es erst wenige Monate her, dass der Bezirksrichter Racz vergeblich versucht hatte, Dich unter Sachwalterschaft zu stellen. Und ich wollte nicht, dass der irgendetwas von Raufereien in der Familie erfährt und vielleicht einen Grund findet, um wieder gegen Dich vorzugehen.  
Ja, so sehr habe ich damals zu Dir gehalten! Dass ich sogar quasi den Wahnsinnigen gespielt habe, damit Du keine Schwierigkeiten bekommst! So sehr habe ich mich für Dich geopfert! Und Du hast das überhaupt nicht bemerkt und hast mich weiterhin bloß verdroschen und verdroschen und verdroschen

***

Eine andere furchtbare Szene gab es am 4. November 1989. Das war also in der Zeit vor der Gerichtsverhandlung wegen der schweren Fußverletzung, die Du der Mutter zugefügt hattest. Sie aber war gerade wieder in der Nervenheilanstalt Gugging (siehe oben).
Wie ich schon berichtet habe, ging Deine Gewalttätigkeit trotz dieser schrecklichen Resultate ungebrochen weiter. So etwas wie Reue, Schuldbewusstsein, Besinnung, Einsicht, wie man das bei jedem normalen Menschen erwarten kann, gab es bei Dir einfach nie.
Du hast mich auch in dieser Zeit weiter verprügelt und gewürgt und Dinge zerbrochen, wie es Dir gepasst hat, mit der Begründung, dass alles „wurscht“ sei, weil Du ja doch nicht die schöne Novotny (Anm: Deine ehemalige Therapeutin vom AKH) „ficken“ könntest.
Wir sind zusammen einkaufen gegangen, wir haben gestritten, und Du hast vor allen Leuten auf mich eingedroschen.
Zuhause schleuderte ich wütend das Geschirrspülmittel und das Waschmittel zu Boden, weil ich mich endlich einmal nicht mehr zusammenreißen und alles immer nur schlucken wollte.
Ich wollte endlich auch einmal etwas kaputt machen. Schließlich nahmst Du Dir auch immer dieses Recht heraus, wenn Dir das passte.
Ich war hungrig, wir hatten nicht sehr viel für das Wochenende. Und Du erklärtest mir, zur Strafe für mein Verhalten würde ich keine Salami bekommen.
„Ich schüttete den Reis aus. Er prügelte auf meinen Kopf ein.“
Und dann drehte ich endlich tatsächlich durch.
„Ich zerbrach und zerstörte und wirklich einiges: endlich auch mal zerstören, nicht nur immer er: ich zerbrach den Besen, warf meinen Multivitaminsaft zu Boden, daß er den Boden jetzt noch verglennt [verpickt], zerriß das Plastiktischtuch, den Spielkarten (Joker-)deckel und vielleicht noch mehr.
Dazu heulte und weinte ich ununterbrochen 1 ½ Stunden mindestens.“
Was für mich aber total unfassbar war, das war Deine Reaktion auf meinen Nervenzusammenbruch:
„Er, der immer so viel Verständnis für sich verlangt […], zeigte für meinen Zusammenbruch nicht das geringste Mitgefühl.
Ja, er blieb vollkommen ungerührt, richtig cool und schrie mich an, weil ich Dreck gemacht hatte, und solle er das jetzt zusammenputzen?“
Ich wollte nur meine Ruhe, hatte mich in die Küche gesetzt und heulte.
„Er machte wieder Vorwürfe, ich gab sie zurück, mir war schwummerig, nur geheult, nichts gegessen, er schlug wieder auf meinen Kopf ein. Aber dann hab‘ ich ihm […] gesagt, er könne sich aufhängen, mir sei es egal.
Er saufe, wieso dürfe ich nicht mal heulen.“
Und dann hast Du etwas getan, was sehr typisch für Dich ist, was Du damals oft getan hast, vor mittlerweile fast dreißig Jahren, und was Du bei unseren letzten Konfrontationen in Wien vor wenigen Jahren auch noch ganz genauso getan hast.
Das ist einfach dieselbe Masche, seit dreißig Jahren.
Du hast Dich vor mir aufgepflanzt, während ich geweint und geheult habe, und mir allen Ernstes erklärt:
„Warum heulst Du? Du hast ja keine Probleme! Probleme habe doch ich, aber nicht Du!“
Und dann hast Du mir eine Rede gehalten: Ich hätte keine Neurosen, die hättest ja nur Du, ich könnte ja ficken, im Unterschied zu Dir (tatsächlich war ich damals noch ganz genauso einsam und jungfräulich wie Du), Du hättest ja Probleme ganz anderer Dimension, das verstünde ich eben nicht!
Und Du hast mir erklärt, dass ich keine Argumente hätte! Ich hätte keine Probleme, die Dir groß genug wären, damit Du deswegen Rücksicht auf mich nehmen müsstest!
„Und wer hat denn gerade den Nervenzusammenbruch gehabt?“
wandte ich fassungslos ein.
Deine Antwort:
„Ich habe jeden Tag einen Nervenzusammenbruch! Also winde Dich nicht so in Selbstmitleid!“
Allein wenn ich heute diese Tagebucheintragung durchlese, die fast dreißig Jahre alt ist, dann fröstelt es mich angesichts dieser kalten Brutalität.
Du sagst mir da allen Ernstes direkt ins Gesicht, ich hätte keine Probleme, währenddessen alles, was gerade vor Deinen Augen geschieht, doch der Gegenbeweis ist, währenddessen ich unmittelbar vor Dir zusammenbreche …
So eine gewissenlose, unmenschliche Unverschämtheit muss man einmal zustande bringen.

***

Einige Stunden später rief Franz an. Ich muss ihm zu Gute halten, dass er in dieser Situation (was sonst keineswegs selbstverständlich war) spontan Menschlichkeit zeigte.
„Ohne dass ich es wollte, fing ich an zu weinen und erzählte von meinem Zusammenbruch.
Er lud mich ein[,] und ich übernachtete bei ihm.“
Also fuhr ich nach Wien zu Franz und blieb bei ihm.
Die Krone ist aber, dass Du mir selbst daraus noch einen Vorwurf machtest: „Hermann warf mir vor, er müsse sich deswegen besaufen.“

***

Ja, für Dich waren tatsächlich immer die anderen schuld. Immer. Und an allem. Bloß Du selbst warst nie für irgendetwas verantwortlich.
(Und ich weiß, dass das auch heute noch Deine Sichtweise ist. Darin erschöpft sich letztlich Dein ganzes Weltbild.)

***

Wie das in der Familie so üblich war, zerstritten Franz und ich uns freilich binnen kurzem wieder. Er hat überhaupt nie kapiert, dass es – neben dem Toben unseres Vaters – ganz konkret die tagtäglich von Dir ausgehende Gewalt war, die mich kaputt machte. Stattdessen wollte er mir einreden, dass all mein Leiden daher käme, dass ich nicht Wirtschaft studierte oder mich zum Werbefachmann ausbilden ließ. Ja, er meinte allen Ernstes, daher kämen alle – meine/Deine/unsere - Probleme.
Und wenn er diese absurden Ansichten vertrat und ich ihm widersprach, konnte er sehr ungut und aggressiv werden. Da ich aber einfach nicht Wirtschaft studieren wollte, wurde ich natürlich von ihm beschimpft und erklärte er mir, ich sei „selbst schuld“ an allem. U.s.w., u.s.f. Auch das also nur ein Feld unnötiger und vollkommen absurder Streitereien in dieser Familie.

***

Und jetzt kommt das Erstaunliche: Ich habe Dir alle Deine enormen Gewalttätigkeiten nie übel genommen. Jedenfalls nie auf Dauer. Trotz allem, was Du mir antatest, und so sehr ich darunter gelitten habe.
Wenn ich heute in den meine damalige vollkommene Verwirrung belegenden Tagebucheintragungen jener Zeit lese, dann zeugen sie stattdessen von einem fortwährenden Verdrängungsprozess.
Einem fortwährenden Verdrängungsprozess in Bezug auf Deine Gewalttätigkeiten.
Immer wieder findet man in meinen Tagebüchern diesen Kreislauf:
Wenn Du die Mutter und mich wieder einmal schwerstens misshandelt und geschlagen hast, dann habe ich mir zwar jedes Mal zutiefst verbittert geschworen, dass ich nun endlich mit Dir brechen würde.
Aber einige Zeit später war das schon wieder ganz vergessen, und dann zeugen meine Tagebucheinträge erneut davon, wie ungeheuer viel Du mir bedeutet hast, wie sehr ich an Dir gehangen habe und wie sehr ich Dich retten habe wollen.
So ging das andauernd im Kreis.
Ganz im Gegensatz zu dem, was Du fantasierst, nämlich dass ich immer nur Dein Feind gewesen sei und Dir immer nur Böses getan hätte und Du immer nur das arme Opfer gewesen wärst – ist leider das absolute Gegenteil wahr, habe ich immer eisern zur Dir gehalten, mit einer, aus heutiger Perspektive, schon erschreckenden Nibelungentreue, und war in hohem Maße emotional abhängig von Dir – was auch verheerende Folgen hatte.   
Denn ich habe mich von Dir dadurch auch ungeheuerlich aufhetzen, manipulieren, benutzen und missbrauchen lassen. Und ich habe darum am Ende überdies Dinge getan, die ich nie hätte tun dürfen und heute zutiefst bereue.
Ich meine Sachen, die ich unserer Mutter gegenüber getan habe.
Mit Zähnen und Klauen habe ich Dich wieder und wieder gegen alle Kritik und Angriffe verteidigt, gegen unseren Vater, gegen Franz, und auch gegen unsere Mutter. Ja, Du hast mich mit Deinen gehässigen Tiraden so erfolgreich gegen sie aufgehetzt, dass leider auch ich auf sie tätlich losgegangen bin. Das ist das Erschreckende, was ich heute sehe, wenn ich die alten Tagebücher lese.
Jahrelang, ja jahrzehntelang, selbst über meine Zeit in Baden hinaus, war ich Dir hörig wie die sprichwörtliche dumme Ehefrau, die immer noch zu ihrem Ehemann hält, egal, wie oft er sie geschlagen und misshandelt hat, weil sie in ihrer starrsinnigen Liebe immer noch davon überzeugt ist, dass er nur ein unglückliches Opfer der Umstände sei, und immer noch an die grundsätzliche Unschuld und Herzensgüte ihres Peinigers glaubt.

***

Du hattest, könnte man in Variation davon sagen, bei uns in der Badener Wohnung in etwa die Rolle inne, die sonst eher der Familienvater hat. Der Familienvater, der Alkoholiker ist, seine Frau und seine Kinder schlägt und misshandelt und ihnen vielleicht sogar noch das Geld abknöpft und alles vertrinkt. Das ist ja das klassische Klischée, wenn man an Gewalt in der Familie denkt.
Bei uns aber warst Du das.
Den wirklichen Vater als cholerisch Tobenden, den hatten wir zusätzlich allerdings auch noch. Der hat aber wenigstens „nur“ nervenzerfetzend und mit Klaus-Kinski-Grimasse um sich gebrüllt.
Auch noch schlimm genug. So waren wir gleich doppelt und dreifach bedient, im Verhältnis zum geläufigen Klischée.

***

Unsere Mutter hat nicht Selbstmord begangen. Sie ist auch nicht, diese Version wäre euch wohl am liebsten, einfach ihren Erkrankungen erlegen.
Sie ist definitiv ermordet worden. Ob das jetzt juristisch hält oder nicht, das ist mir gleichgültig. Für mich ist das so.
Es war ein jahrelang andauernder Mord. Ein Mord auf Raten.
Sie ist freilich nicht von Dir allein ermordet worden, - auch wenn Du eindeutig der Haupttäter warst. Am Ende ist unsere Mutter von der ganzen Familie in den Tod getrieben worden, auf eine brutale, grausame und perverse Weise, die wohl einzigartig dasteht.
Eine 60jährige, schwer kranke und depressive Frau, die jeden Tag beschimpft, erniedrigt, gedemütigt, geschlagen und misshandelt wurde.
Und alle haben dabei zugesehen und auf die eine oder andere Weise mitgetan. Alle haben ihr Blut an Händen kleben.
Ich wünschte, ich könnte mich davon ausnehmen.
Leider ist es stattdessen anhand meiner Tagebücher erkenntlich, dass es, zwar vereinzelt, aber doch, in dieser extremen Rattenkäfigsituation, inmitten all der herrschenden moralischen Verwahrlosung, in diesem Meer alltäglicher Gewalt, in der ich nicht mehr den Durchblick hatte (und NIEMAND ihn mehr hatte) auch Momente gab, in denen ich die Nerven verlor und, wie schon erwähnt, selbst auf sie tätlich losging und sie erniedrigend beschimpfte.
Im Unterschied zu Dir bereute ich, auch davon legen meine Tagebücher Zeugnis ab, das nachher immer zutiefst. Und ich könnte auch andere Entschuldigungen und Relativierungen anführen.
Aber das will ich gar nicht. Dann wäre ich ja genauso ein gewissenloser Psychopath wie Du selbst, der sich immer alles gerichtet hat und stets sofort alle möglichen Gründe und Erklärungen angeführt und allen Ernstes geglaubt hat, damit wäre das Grauenhafte, was er getan hat, erledigt.
Nein. Im Unterschied zu Dir übernehme ich die Verantwortung für mein Handeln. Ich habe Erklärungen dafür, aber diese Erklärungen, nun ja, wenn ich Glück habe, mildern sie etwas von meiner großen Mitschuld ab, aber keinesfalls löschen sie sie aus.
Ich habe Dinge getan, die ich niemals hätte tun dürfen. Das kann ich erst heute erkennen.

***

Der gewaltsame Tod unserer Mutter ist aus dem Kontext extremer verbaler, psychischer wie körperlicher Gewalt nicht loszulösen, die in unserer Familie gang und gäbe war. Unsere Mutter hatte das Pech, dass sie dabei die Schwächste war, diejenige, die sich am wenigsten wehren konnte.
An ihr haben alle stets ihre schlechte Laune abreagiert, ohne dass sie irgendeinen nennenswerten Widerstand zu befürchten hatten.
Du warst auf Lupus wütend, weil der Dich mit seiner Klaus-Kinski-Grimasse niedergebrüllt hat? Hast aber vor ihm selbst Angst gehabt? Für Dich kein Problem – Du hast stellvertretend auf die Mutter eingedroschen, ihr die Schuld an allem gegeben und so die Wut rausgelassen.
Du warst aber da nicht der einzige.
Umgekehrt hat Lupus ja ganz ähnlich funktioniert. War er Deiner Schulprobleme wegen wütend, war aber selbst unfähig, etwas daran zu ändern – kein Problem, er hat dann eben der Mutter die Schuld dafür gegeben und hat sie beschimpft.
Und mit den älteren Geschwistern war es ganz ähnlich.
So wurde jahre-, wenn nicht jahrzehntelang, aller Müll auf ihr abgeladen.
Die Mutter ist an allem schuld, das war eine Parole, die generell von allen (mit Ausnahme von mir, aber mit Lupus inkludiert) in der Familie schon ungefähr zehn Jahre vor ihrem Tod ausgegeben worden war, als die Sache mit Deinen Schulängsten begonnen hatte.
Und über viele Jahre lang wurde das in der Familie immer wieder wiederholt, wie ein Mantra.
Die Mutter war der Supersündenbock für alles und jeden.
So unterschiedlicher Meinung alle in der Familie waren, so sehr alle übrigen sich auch untereinander dauernd bekriegt und miteinander gestritten haben – in dem Punkt waren sich alle einig.
Die Hetz- und Hassreden gegen die Mutter und das abfällige Geschimpfe über sie waren das tägliche Brot in der Familie.
Und ihr gegenüber war darum auch alles erlaubt. Jeder hat nach seinem Gutdünken seinen Frust und seine schlechte Laune, ja seinen blanken, primitiven Hass auf ihr abgeladen, jeder hat ihr die Schuld für alles und jedes zugeschoben, sie beschimpft und beleidigt, wie er wollte, weil er wusste, dass sie sich nicht wehren konnte.
Und das über viele Jahre lang.
Erst vor diesem Hintergrund ist es überhaupt verständlich, dass Du Dich derart ausbreiten konntest, dass Du Dir derartige Gewalttätigkeiten ihr gegenüber leisten konntest und Dir nie jemand entgegen getreten ist.
Der Mutter und mir (als zweitschwächstem) gegenüber war das möglich.
Hättest Du Dir freilich nur einen Bruchteil dessen, was Du uns angetan hast, gegenüber Franz, Gilla, Ingrid oder Lupus erlaubt, dann … dann hättest Du schnell ein paar Ohrfeigen von denen gehabt.
Aber bei denen hast Du Dich freilich das nie getraut.
Zu Franz bist Du ja nicht in die Wohnung gegangen, hast seinen Kater gepackt und geplärrt: „Ich will 100 Schilling für Alkohol, sonst reiße ich dem Tier die Barthaare aus!“
Nein.
Denn da konntest Du auf einmal erstaunlich schlau sein. Und Du warst im Grunde ein Riesenfeigling:
Du hast Dich immer nur mit Schwächeren angelegt. 

***

Welche absurden Formen das in unserer Familie so beliebte Spiel des Mutter-Bashings annehmen konnte, zeigt eine Tagebuchnotiz unserer Mutter vom 16. Oktober 1982:

Ingrid: Telepho: [sic!]
Über Billet an Alfons: Ich habe ihr kein Billet ins Spital geschickt. Habe als Mutter ständig mein Kranksein demonstriert. (Auf dem Boden liegen – 1968) Jetzt habe ich d. Hermann ruiniert.

Da greift Ingrid die Mutter allen Ernstes an, weil sie ihrem (Ingrids) damaligen Freund Alfons, der im Spital war, eine Grußkarte geschickt hat!
Das muss man sich einmal vorstellen!
Jeder normale Mensch würde sich zuerst einmal dafür bedanken, wenn die Mutter seinem Partner eine Grußkarte ins Spital schickt!
Unsere Mutter aber wurde das vorgeworfen!
Wenn ich das irgendeinem normalen Menschen erzähle, der kann das ja gar nicht begreifen!
Es zeigt aber, wie unserer Mutter wirklich aus allem und jedem ein Strick gedreht wurde, sogar aus einer gutgemeinten Grußkarte!
Das muss man sich mal klarmachen! Neidisch auf eine Grußkarte an den eigenen Partner!
Der Rest der Tagebucheintragung bietet einen Einblick in die massiven Beschuldigungen, die in Bezug auf Dich, Hermann, damals andauernd auf die Mutter niederprasselten. Sie habe Dich „ruiniert“.
Unter solchen drastischen Ausdrücken wurde ja in unserer Familie gar nicht erst angefangen miteinander zu reden.
Und dann wurde ihr fortwährend ihre „Schwächlichkeit“ und „Kränklichkeit“ vorgehalten, als wäre das per se schon ein Verbrechen!

***

Auch hier in diesem Telefonat mit Franz am 14. Juni 1982.
Da warst Du gerade krank und konntest nicht nach Wien zu Franz fahren. Da musste Franz natürlich sofort dafür jemanden beschuldigen. Natürlich die Mutter, denn die war ja immer an allem schuld:

F. ruft an ob H. kommt.
„Er ist immer krank, wie du“
Ich: Du bist wegen 37 3 eine Woche im Bett
Er: „Fängst wieder an zu streiten.“

Wohlgemerkt: Franz ist es, der hier zu streiten beginnt, ganz eindeutig. Und dann bringt er es fertig, der Mutter vorzuwerfen, sie hätte angefangen zu streiten!
Denn die Mutter, die war ja an allem schuld.

***

Das sind keineswegs bloß Bagatellstreitereien. Das ist massive psychische Gewalt, die hier andauernd auf unsere Mutter ausgeübt wurde. Was das für Ausmaße annehmen konnte, zeigt ein anderer Tagebucheintrag unserer Mutter (23. Februar 1980):

Ingrid böse, weil ich Hermann verbiete, mir immer das Götzzitat zu sagen. Ich: „Werde doch das Recht haben, ihm das zu verbieten.“
Ingrid: „Du bist ein Narr, der gar kein Recht auf was hat.“

Ja, so wurde unsere Mutter tatsächlich von ca. 1980 an bis zu ihrem Tod mehr oder weniger in unserer Familie behandelt. Als eine Person, die jeder einfach beschimpfen darf, wie er will, als eine vollkommen rechtlose Person, als jemand, „der gar kein Recht auf was hat“.

***

Das ist freilich nur ein allerkleinster, ein allerallerkleinster Ausschnitt der alltäglichen seelischen Grausamkeiten in unserer Familie, ein allerallerkleinster Ausschnitt davon, wie regelmäßig mit unserer Mutter geredet wurde, über viele Jahre lang, wie sie beinahe jeden Tag von oben bis unten beschimpft und gedemütigt wurde.
Ich war anfangs anders. Ich war über lange Zeit der einzig Verbliebene, der noch zur Mutter gehalten hat. Dafür bin ich von euch Geschwistern, insbesondere von Franz und Dir, ja auch schief angeschaut und verachtet worden. Du warst sowieso immerzu vom chronischen Neid geplagt, weil Du der Meinung warst, dass von uns zweien ich der von der Mutter Bevorzugte sei, dass ich derjenige sei, den sie mehr liebe als Dich, und dass Du der von ihr Benachteiligte seist. Du hast darum ohnehin einen andauernden krankhaften Grundhass auf uns beide gehabt, den Du bei jeder Gelegenheit rausgelassen hast, und sei es unter auch noch so fadenscheinigen Vorwänden.
 Ihr alle habt so getan, als sei etwas mit mir nicht in Ordnung, als wäre ich geistig nicht ganz gesund, ihr habt mich verhöhnt und verspottet, weil ich nicht mit euch über die Mutter schimpfte, sondern sie verteidigte. Ich war der „Brave“, der „Musterknabe“, und das habt ihr mir alle sehr, sehr übel genommen. Deswegen war ich das Feindbild, - das „blasierte Muttersöhnchen“, der „Kollaborateur“ oder so ähnlich. Franz hat mir mal in einer Situation am Telefon ganz drastisch vorgeworfen, ich wäre die „ökonomische Pfeilspitze der Mutter“, nur deswegen, weil sie und ich gerade verhindern hatten wollen, dass Du alles Geld gewaltsam an Dich nimmst und versäufst!

***

Irgendwann aber habe ich mich leider von der um mich tagtäglich herrschenden Brutalität und Gehässigkeit anstecken lassen, habe ich mich von euch aufhetzen lassen und habe auch über sie zu schimpfen begonnen.
Was anderes habe ich ja nicht um mich gehört. Ich hatte leider Gottes nicht genügend Charakterfestigkeit, um mich auf Dauer eurem Einfluss zu entziehen. Meine eigenen schweren psychischen Probleme nach der Matura kamen dazu. Ich war sehr labil und hatte viel Hass und Verzweiflung in mir und war darum leider für vieles empfänglich. Um mich andauernd Gewalt, in vielen Varianten. Und irgendwann in diesen Jahren, ich weiß nicht mehr, wann genau, habe ich unsere Mutter mit der gleichen Selbstverständlichkeit als „alte Sau“ bezeichnet, wie Du das immer getan hast.
Heute schäme ich mich dafür, wenn ich nur daran denke. Damals aber habe ich nicht kapiert, dass das falsch ist, weil ja andauernd in unserer Familie nur in solchen Schimpfwörtern und noch ärgeren geredet wurde.
Daraus bestand im Wesentlichen unsere Kommunikation. Es war eigentlich unmöglich, sich anders zu unterhalten.
Vor allem von Dir ist das ausgegangen. Und, wenn auch mit anderem Vokabular, vom Lupus. Aber im Prinzip haben da alle mitgetan, jeder auf seine Weise.
Es gab ja tatsächlich genügend Sachen, die kritisch bei unserer Mutter zu sehen waren, sehr, sehr kritisch sogar. Das will ich gar nicht abstreiten.
Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, dann wäre ich nicht so leicht zum „Überläufer“ geworden.
Aber nichts, gar nichts, gibt das Recht, einen Menschen so zu behandeln! Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich das begriffen habe!
Und erst recht rechtfertigt nichts Deine Gewaltorgien, die Du tagtäglich veranstaltet hast! Das ist kriminell, was da abgegangen ist!

***

Typisch für Dich war freilich Deine Reaktion, als ich im Jahr 2013 (25. Februar) einen ohnehin nur zaghaften Versuch unternahm, mit Dir über Deine Gewalttätigkeiten der Mutter gegenüber zu sprechen. Du hast mich den betreffenden Satz, so wie es Deine Art ist, freilich gar nicht zu Ende reden lassen. Stattdessen hast Du mich unterbrochen und mir beinhart erklärt, dass ich sie umgebracht hätte – dadurch, dass ich mich von ihr abgewandt hätte.
Im gleichen Moment hast Du auch nur den Gedanken, dass Du etwas mit ihrem Tod zu tun haben könntest, als vollkommenen Unsinn zurückgewiesen, mit einer zwar bloß krankhaften, aber leider sehr trügerischen Selbstsicherheit, gegen die man nicht ankommt.
Und dann hast Du gleich höhnisch von den Ohrfeigen geredet, die sie von mir bekommen hätte.
Du hast schon immer eine Rhetorik beherrscht, mit der Du binnen Sekunden alle Schuld auf jemanden anderen abwälzen und denjenigen zutiefst verletzen konntest. 

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Von solcher Psychopathen-Selbstsicherheit war ich leider – oder Gott sei Dank – meistens meilenweit entfernt. Deine Behauptung verunsicherte mich, weil ich um meine Mitschuld weiß, im Unterschied zu Dir, der Du gar keine Schuld anerkennst, keine Reue, keine Einsicht kennst und kein Gewissen hast.
So niederträchtig und wirksam, so durchsichtig ist aber doch auch Deine Rhetorik. Das ist ja, wie wenn der größte Übeltäter eines Bankraubs dann die Schuld auf den schiebt, der Schmiere gestanden hat.
Deine damaligen Äußerungen, also die vom 25. Februar 2013, die ja Teil eines längeren Gesprächs waren, eines Dialogs, den ich zu führen versuchte, haben mir sehr zu denken gegeben.
Nachdem ich jahre- und jahrzehntelang -  trotz aller Streitereien und Auseinandersetzungen zwischen uns, trotz allem, was Du mir in der Vergangenheit angetan hattest - immer noch prinzipiell zu Dir gehalten hatte, – ist mir damals zum ersten Mal bewusst geworden, was für ein durch und durch widerwärtiger Mensch Du eigentlich bist.
Damals – und nicht in den früheren Jahren, wo ich regelmäßig von Dir verprügelt und misshandelt wurde – ist mir das erst bewusst geworden.
Denn solche Äußerungen deuten nicht bloß auf eine schwere psychische Erkrankung. Sondern überdies auf einen wirklich niederträchtigen Charakter.

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Besonders perfid ist Dein Vorwurf an mich unserer Mutter betreffend, weil Du selbst mich doch über Jahre lang gegen sie aufgehetzt hast und weil Du regelrecht den Hass auf die Mutter von mir gefordert, ja mir ihn regelrecht angezüchtet hast!
Im Unterschied zu Dir ist mir trotzdem ihr gegenüber nur wenige Male die Hand ausgerutscht, - aber wenn das geschehen ist, dann war es immer, weil ich bei euch zwischen die Fronten geraten bin.
Wenn ich Dich leiden gesehen habe und Du mir in langen Tiraden erklärt hast, dass unsere Mutter daran schuld sei. Oder wenn ich Dich vor den Eltern, vor ihr und Lupus schützen zu müssen glaubte.
Deinetwegen bin ich auf sie losgegangen, aus Angst und Sorge um Dich, aufgehetzt von Dir. Ich war Dein nützliches Werkzeug. Dein Idiot. Und jetzt erklärst Du mir mit Häme, dass ja alle Schuld bei mir läge.

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Ich bin damals (1986-90) auf Dich hereingefallen. Das ist die Wahrheit. Ich habe mich von Deinen Psychospielen durch und durch manipulieren lassen. Das ist mir erst 2014/2015 beim Studium der alten Tagebücher in seiner ganzen Tragweite bewusst geworden.
Dass Du stundenlang ganz herzzerreißend hast weinen, heulen und plärren hast können, das habe ich schon oben erwähnt. Das war ja das Furchtbare. Du konntest entsetzlich mitleiderregend sein.
Ich habe mich total aufstacheln lassen von Deinem andauernden grässlichen Geweine, Gejaule und Gejammere, dass Du immer der Arme seist und dass die Mutter an allem schuld sei. Ich habe mich verrückt machen lassen von Deinen permanenten überdramatisierenden und einseitigen Schilderungen, was sie Dir alles angeblich angetan hätte. Dein andauerndes selbstmitleidiges Gejeiere und Gezetere über sie,  - was für eine schlechte, schwache Mutter sie sei, was sie Dir alles Schlimme angetan hätte, dass sie keine ordentliche starke, schöne, wunderbare Mutter sei, wie Du sie Dir gewünscht hättest, dass sie Dein Leben verpfuscht hätte – davon habe ich mich damals leider vollkommen aus der Fassung bringen lassen. Ich war, mit meinen 21 Jahren, nicht in der Lage, das vernünftig zu filtern.
Beispielsweise als Du mir einmal halb weinend und klagend, halb zornig und zähnefletschend geschildert hast, wie Du als ungefähr zehnjähriges Kind (vom damaligen Standpunkt also ungefähr zehn Jahre früher, Ende der 70er Jahre) plötzlich diesen unerklärlichen enormen Bluthochdruck bekommen hattest und unsere Mutter Dich daraufhin zu den Ärzten gebracht hatte und wie diese dann nicht verstehen konnten, was mit Dir los war; wie Du deswegen von einem Arzt zum anderen herumgereicht und schließlich auf eine Station der Kinderpsychiatrie gebracht worden warst.
Deine umfangreiche Tirade diesbezüglich habe ich in einem längeren Protokoll festgehalten, das ich am 18. Dezember 1988 gegen 2 Uhr in der Früh aufgeschrieben habe.
Die ganze Niederschrift belegt in ihrem Ton, wie ungeheuer erschüttert und tief betroffen ich von Deiner Mitteilung war. (Denn ich hatte im Alter von zehn Jahren ziemlich wenig von dem mitbekommen, was mit Dir geschehen war. Für mich war das alles darum ziemlich neu.)
Entscheidend dafür, dass ich mich von Deiner Empörung so sehr mitreißen ließ und Dir das alles eins zu eins so glaubte, wie Du erzähltest, war aber natürlich der Umstand, dass dieses Gespräch zwischen uns gerade in den Monaten stattfand, wo die Rede davon war, dass unsere Eltern Dich entmündigen lassen wollten, und ich darum ohnehin vollkommen aufgebracht gegen sie war, so dass ich sehr leicht auf Deine Seite zu ziehen und für solche Horrorstorys ganz besonders empfänglich war, wie Du sie einem gerne mitgeteilt hast, um zu beweisen, was für ein armes Opfer Du schon immer gewesen bist.
Etwas anderes kommt aber noch dazu. Du konntest ja auch leicht wütend werden und mir eine herunterhauen, wenn ich nicht sofort allem bedingungslos zugestimmt habe, was Du mir gesagt hast. Das war also ein sehr merkwürdiges emotionales Abhängigkeitsverhältnis zwischen uns.
Das ganze sehr umfangreiche Protokoll der Rede, die Du mir damals gehalten hast, kann ich leider aus Platzgründen hier nicht wiedergeben.
Auch heute noch klingt vieles davon bizarr und unbegreiflich für mich, - etwa Dein immer wiederkehrender Hinweis auf starke „Krämpfe in den Eiern“, die Du schon mit 8 Jahren gehabt hättest und für die kein Arzt eine Erklärung gehabt hätte.
Natürlich floss Deine Tirade über von Angriffen auf all die Psychiater und Ärzte, denen Du alle möglichen Fehler vorwarfst, ja, Du nanntest sie mir gegenüber „arrogante Schwachköpfe“.
Und dann, last but not least, selbstverständlich die erbitterten Vorwürfe gegen die Mutter, die nicht fehlen durften, die Du allein für Deine Einweisung in die Psychiatrie verantwortlich machtest und die nichts als „Schwächedemonstrationen“ geliefert hätte, anstatt dass sie für Dich da gewesen sei.

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Damals, mit 21 Jahren, habe ich mich wie gesagt unter dem unmittelbaren Eindruck Deiner emotionalen Tirade total aufwühlen lassen, damals war ich von Deiner Erzählung ganz entsetzt und habe einen ungeheuren Zorn auf unsere Eltern und speziell auf unsere Mutter entwickelt, freilich auch einen ungeheuren Zorn auf die Ärzte und Psychiater, die das alles mit Dir gemacht haben.
Erst 2014/2015, als ich das Protokoll wiederfand, war ich imstande, dazu Distanz einzunehmen und seinen Inhalt vernünftig zu filtern.
Erst da war ich in der Lage, mir die Frage zu stellen, ob das alles überhaupt so stimmt, wie Du es mir damals erzählt hast. Besser als damals weiß ich heute, wie wenig Du auch vor vollkommen Verdrehungen der tatsächlichen Umstände zurückschreckst, wenn es Dir darum geht zu beweisen, wie „böse“ Dein Leben lang alle anderen immer zu Dir gewesen wären. Das ist Teil Deiner Psychopathie.
Und dann las ich mit dieser geänderten, vernünftigeren und distanzierteren Einstellung beispielsweise diese Passage aus Deiner von mir protokollierten Schilderung:

Er kam deswegen [wegen des Bluthochdrucks] ins Breyer’sche [richtig: Preyer’sche] Kinderspital. Dort hat er jede Nacht geweint. Daneben war die Babystation.
Jede Nacht: ‚Wäh, wäh‘ von dort.
Die Babys waren so schrecklich. Sie hielten ihn die ganze Nacht wach.
Herz-Röntgen wurde gemacht, Blutuntersuchungen, Blutdruck, Leber, Nieren. Die Gallfy hat ihn hingeschickt.
Es wurde immer versucht, alles organisch zu begründen.
Für ihn sei es schrecklich gewesen: einerseits die starke Muttergebundenheit, andererseits dieses [sic!] Schwächedemonstratationen und Familienstreitigkeiten und Spitalsaufenthalte.
Ich sehe Dich ja wieder leibhaftig vor mir und höre richtig vor meinem geistigen Ohr Deine Stimme wieder, wenn ich jetzt diesen Text lese. So getreu habe ich da Deine Art zu reden wiedergegeben.
Wie „schrecklich“ alles für Dich gewesen sei. Die „schwache Mutter“. Ihre „Schwächedemonstrationen“. „Die Babys waren so schrecklich“.
Dieser ganze dramatisierende selbstmitleidige Tonfall, den Du immer drauf gehabt hast.
Ja, sicher, Du hast schlimme Dinge erlebt! Das will ich gar nicht abstreiten. Das stelle ich mir sehr schlimm vor, da als ungefähr zehnjähriges Kind von den Ärzten herumgereicht zu werden und dann allein in einem Spital übernachten zu müssen.
Aber spätestens bei der Stelle, wo Du von den schreienden Babys sprichst, werde ich kritisch.
Da schilderst Du sogar diesen banalen Umstand schon wie eine ganz große Katastrophe. Ganz theatralisch. Als etwas Ungeheuerliches, was man Dir angetan hat!
Sogar den Babys hat man Dich ausgeliefert!
Ja, Hermann, ich bin mir sicher, dass das alles schlimm für Dich war. Mit einer schwachen Mutter, die nicht wusste, was sie tun sollte. Mit unfähigen Ärzten. Nein, ich bezweifle gar nicht, dass das alles wirklich „schrecklich“ für Dich war.
Nicht wahr ist aber, wenn Du behauptest, andere hätten keine so schwache Mutter. Solche Geschichten gab und gibt es genug.
Daran ist nichts Besonderes, und weder ist Dein außergewöhnliches Selbstmitleid durch solche Geschichten gerechtfertigt noch Dein enormer, krankhafter Hass auf die Mutter, den Du immer mit dem Verweis diese Vorkommnisse gerechtfertigt hast und immer noch rechtfertigst.
Waren diese Ereignisse schlimm für einen zehnjährigen Buben?
Ohne Zweifel.
Ist das aber ein Grund, in der eigenen Mutter einen absoluten Todfeind zu sehen, so wie Du das immer getan hast?
Ganz gewiss nicht.
Leitet sich irgendwie daraus das Recht ab, die eigene Mutter tagtäglich als „hässliche, alte Sau“ zu beschimpfen, sie zu misshandeln und zu verprügeln, wie Du das getan hast?
Nein.
Das steht ja in keinem Verhältnis zueinander!
Unsere Mutter war schwach gewesen, Du warst allein im Spital, die Ärzte waren unfähig, und Du hattest ein paar Babys neben Dir schreien – aber deswegen verdient sie doch nicht Prügel, Misshandlungen, Folter und Tod!

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Immerhin warst Du damals, als Du mir diese Dinge erzähltest, bereits 21 Jahre alt und eben kein zehnjähriges Kind mehr. Klar, auch immer noch jung, aber doch schon ein erwachsener Mensch und nicht mehr in einem Alter, in dem man sich argumentativ immer nur darauf zurück ziehen kann, was einem Leute einmal angetan haben, als man ein kleines Kind gewesen war.
Genau das aber war da offenbar der Fall: Du warst in Deiner Selbstwahrnehmung immer noch auf dem Stand eines kleinen Kindes und spieltest das ewige Opfer, während Du in Wahrheit damals bereits selbst längst zum gnadenlosen Täter mutiert warst.
Als treuer Zwillingsbruder habe ich damals leider diese Selbstinterpretation von Dir übernommen, habe ich mir das von Dir so einreden lassen.
Erst 2014/2015, mehr als 25 Jahre später, bei der Relektüre dieses Protokolls, konnte ich die Schieflage der damaligen Perspektive kapieren. Und heute ist die Diskrepanz ja noch viel offensichtlicher!
Ein Mann Ende 40, der über seine Mutter, die vor mehr als 25 Jahren seinetwegen in den Tod gegangen ist, immer noch nur in den vulgärsten Tönen schimpft und auch seither nicht im geringsten die Verantwortung für sein Leben übernimmt, sondern stets allen anderen die Schuld gibt!
Damals, vor 25 Jahren, ja damals, bin ich auf Deine Selbstmitleidsmasche noch voll reingefallen und habe mich davon voll manipulieren lassen.
Heute nicht mehr!

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Damals war es leider freilich noch anders. Damals habe ich mich von Dir verrückt machen lassen. Und jetzt kommt noch das Grauen all dieser Jahre mit Dir hoch, wenn ich solche Tagebucheintragungen lese:
19. Februar 1988:
„Weil es jetzt dunkel wird, fängt Hermann wieder an, auf seine entsetzliche Art zu heulen.“

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Oder genauso einige Tage vorher, am 12. Februar 1988:
„Hermann sitzt wieder in seinem  Zimmer (liegt) und heult wieder auf seine entsetzliche Art – wie nach dem Ödipus-Film; laut, schluchzend depressiv und dabei sprechend, wobei für mich, der ich ihn kenne, auch eine latente Aggressivität dahintersteckt, so daß ich fast Angst habe, er knallt mir gleich eine oder haut alles zusammen. […] Ah – jetzt geht er auf’s Klo und speibt. Ja, er hat viel gesoffen heute – und gestern. […] Und schon all die letzten Wochen belastet ihn verstärkt der Haß auf die Oberin und ihre Passivität und daß er gerne eine ganz andere, schöne, gemeinschaftliche Mutter hätte – sein Ödipuskomplex.“
Ich kann auch hier unmöglich den ganzen Tagebucheintrag wiedergeben, der sehr drastisch, wirr und schwer verständlich ist, überhaupt für einen Außenstehenden. Aber er zeugt von meiner vollkommenen Zerrissenheit und Hilflosigkeit angesichts Deiner perversen Ausbrüche, weil ich überhaupt nicht verstand, was da überhaupt passierte und was da mit Dir los war.
Auf der einen Seite das Mitleid mit Dir, auf der anderen Seite der Ärger über Dich, der Zorn darüber, wie Du Dich da gehen lässt; und natürlich deswegen die wüstesten Streitereien mit Dir.
„Und anstatt zu schauen, daß er was für sich tut, um rauszukommen, heult er dauernd deswegen, weil die Oberin so eine schlechte Mutter ist, weil sie nicht auf sich achtet, weil er keine richtige Mutter hat, etc.
Und diesen Frust reagiert er an der Oberin ab und bespuckt sie.“
Mein Verhalten in diesen Situationen war bisweilen merkwürdig ambivalent. Auf der einen Seite habe ich Dich von der Gewalt gegen die Mutter abzuhalten und sie mit aller Macht vor Deinen Übergriffen zu schützen versucht. Auf der anderen Seite habe ich mich dann meinerseits von Deinen ganzen Heulereien und Vorwürfen gegen sie derartig aufpeitschen lassen, dass ich auch auf sie losgegangen bin, sie beschimpft habe und leider auch tätlich geworden bin.
„‘Ich bin so traurig‘ – heult er.“
In meiner Hilflosigkeit bin ich auf euch beide losgegangen. Ich habe Dich wütend angeschrien, habe paradoxerweise mich aber trotzdem gleichzeitig mit Deinen Vorwürfen gegen unsere Mutter identifiziert und sie ebenso angegriffen:
„Ich habe einen Haß auf ihn, schimpfe ihn jetzt ‚Schwein! Drecksau! Verschwind!‘ Die Oberin habe ich geboxt und angespuckt: ‚Hörst du, wie er heult? Du und der Lupus, ihr Verbrecher?‘“

***

Die größte Schuld unserer Mutter gegenüber habe ich aber, und daran gibt es nichts schönzureden, ohne Zweifel im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Körperverletzungsprozess auf mich geladen.
Auch hier kam die allergrößte Ambivalenz zum Tragen.
Ich hing ja an euch beiden. 
Als die Mutter von Deinem Tellerwurf schwer verletzt war und Du Dich so viehisch betragen hast, da war ich zuerst natürlich in furchtbarer und panischer Sorge um sie. Ich fürchtete um ihr Leben und hatte eine irrsinnige Wut auf Dich. Ich kritzelte finster in mein Tagebuch, dass Du es büßen würdest, dass Du zu weit gegangen seist und dass ich nun endgültig mit Dir brechen würde.
Solche Schwüre gab es in Folge Deiner Gewaltorgien allerdings öfter in meinen Tagebüchern. Als es dann aber ernst wurde mit Polizei und Gerichtsverhandlung, bin ich natürlich wieder in das totale Gegenteil gekippt, bin aus Sorge und Angst um Dich halb wahnsinnig geworden.
Ich geriet in vollkommene Panik, als die Vorladungen zur Polizei ins Haus flatterten.
Heute schäme ich mich zutiefst dafür, wenn ich in meinen alten Tagebüchern lese, dass ich dann tatsächlich in meiner Hysterie meiner Mutter gegenüber ausgerastet und massiv gewalttätig geworden bin. Ich habe sie mehr oder weniger in Eigenregie dazu gezwungen, die Anzeige am Telefon und ebenso schriftlich zu widerrufen. Ich habe dann sogar persönlich den Brief zur Post getragen. (Tagebucheintrag 24. September 1989.) (Das Gerichtsverfahren konnte dadurch allerdings nicht mehr verhindert werden.)
Das war verbrecherisch von mir, und das hätte ich niemals tun dürfen.
Noch mehr aber schäme ich mich fast, wenn ich lese, wie ich wenige Tage zuvor (Tagebucheintrag 19. September 1989) mit Dir zusammen auf die Rudolfshofwiese ging, mich dort von Deinen andauernden abfälligen Reden über die Mutter aufhetzen ließ, schon ganz genauso wie Du sie für alles Übel in der Familie verantwortlich machte und dann in Dein wildes Geschimpfe über sie einstimmte, mit Formulierungen, die ich hier gar nicht wiedergeben mag, so sehr schäme ich mich heute dafür.

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Wenn ich das in meinen alten Tagebüchern lese, dann sehe ich entsetzt, dass das das Allerböseste ist, was ich in meinem Leben getan habe. Damals jedoch war ich wirklich davon überzeugt, dass ich das Richtige tue. So verrannt kann man sein.
Ich glaubte, ich tue etwas Gutes, weil ich Dich damit rette. Dass ich meiner Mutter gegenüber schlicht nicht das Recht hatte das zu tun, was ich tat, das verstand ich damals nicht. Ich sah auch nicht voraus, dass sie sich das Leben nehmen würde.
Dabei – warst Du mir nicht einmal im Geringsten dankbar dafür oder erkanntest das irgendwie an, was ich da in dieser prekären Situation tat, um Dich aus der Misere rauszuholen.
Nein, Du warst einem nie für irgendetwas dankbar, was man auch für Dich tat. Du hast nie nach einer allgemein nachvollziehbaren menschlichen Logik funktioniert.
Damals ging ich so weit, dass ich in dieser schrecklichen Situation meiner eigenen Mutter in den Rücken fiel, und das um Deinetwillen, aus Angst um Dich. Und ich wurde dadurch mitschuldig an ihrem Tod.
Ich habe das Äußerste getan, was ein Mensch für einen anderen eigentlich tun kann, wenn man von der Hingabe des eigenen Lebens absieht.
An Deinem Verhalten mir gegenüber hat das nichts geändert. Gar nichts an Deinem Verhalten hat sich dadurch geändert.
Es ist weiter gegangen wie zuvor. Weiterhin wurde ich von Dir geschlagen und misshandelt und Du hast mir weiterhin erklärt, dass ich (zusammen mit der Mutter) an Deinem Unglück schuld sei. Und das tust Du auch noch heute.

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Ja, darin liegt meine Mitschuld, meine Komplizenschaft mit Dir. Das kann und will ich gar nicht abstreiten. Dass Du aber bei dem Gespräch mit mir am 25. Februar 2013 alle Schuld auf mich abgewälzt hast, das ist perfid. Das Entsetzen, das tagtäglich in das Gesicht unserer Mutter geschrieben stand, das hatte sie nicht meinetwegen, das hatte sie Deinetwegen, aus Angst vor Dir. Weil Du bei jeder Gelegenheit wie ein Tier über sie hergefallen bist und sie erbarmungslos verdroschen hast. Ich habe manchmal die Nerven verloren. Aber so etwas habe ich nie getan.

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Das Entscheidende war jedoch ganz allgemein der alltägliche lieblose und total verrohte Umgang in unserer Familie.
Eine Familie, in der es selbstverständlich war, dass wir beide, Du und ich, uns gegenseitig als „Schwein“, „Drecksau“, „Arschloch“, „Beidl“, „Hund“, „Trottel“ u.s.w. beschimpft haben, ohne Unterlass. (Wobei ich betonen muss: das ist von Dir ausgegangen, nicht von mir.)
Eine Familie, in der es selbstverständlich war, dass der Vater jeden Tag in die Wohnung getreten ist und ansatzlos wie pauschal uns alle als „internationalistisches, sozialistisches, rotes Drecksgesindel und Lumpenproletariat“ beschimpft und wie ein Irrer zähnefletschend zu toben begonnen hat.
Eine Familie, in der es selbstverständlich war, dass Du andauernd zur Mutter „alte Sau“ oder gar „hässliche, alte Sau“  gesagt hast, - und ich das irgendwann von Dir übernommen habe.
Die größten Verletzungen haben wir einander und insbesondere der Mutter gar nicht körperlich zugefügt, sondern mit unseren Reden.
Das ist es, was unsere Mutter kaputt gemacht hat. Und das hat sie ja dann auch klar genug in ihren Abschiedsbriefen ausgedrückt, in denen sie uns diese Beschimpfungen vorgehalten hat.
Sie war das schwächste Glied von uns allen und ist daran zerbrochen. Sie selbst hat, nebenbei, nie solche Schimpfworte gebraucht, wie wir übrigen alle das getan haben. Als einzige in der Familie hat sie sich daran nicht beteiligt. Aber alle anderen in der Familie haben alle Schimpfwörter, die sie nur hatten, auf ihr abgeladen.
Selbst als wir beide, Du und ich, dann schließlich bei ihrem Begräbnis ganz hinten, in einigem Abstand zu den anderen, nebeneinander getrottet sind, haben wir über sie geredet und sie dabei noch ein letztes Mal als „Arschloch“ bezeichnet.
So moralisch verwahrlost waren wir. Erst Jahre später habe ich kapiert, dass man so von der toten Mutter nicht redet. Ja, gar nicht von der Mutter. Und eigentlich von gar niemandem.
Heute schäme ich mich zutiefst dafür.

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Ruine Raueneck 9. März 2017 – Da war ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder auf der Ruine Raueneck. Das war ein merkwürdiges Erlebnis. So vertraut war mir der Ort, so verwachsen damit fühlte ich mich, weil wir hier als Kinder so oft gewesen waren, und gleichzeitig war er mir doch so fremd, weil ich so lange nicht da gewesen war. Beinahe jeden Raum, jede Nische, jeden Stein aber erkannte ich und sah ihn ein wenig wieder mit den Augen jener Kinder, die wir mal gewesen waren. Was für Abenteuer das damals gewesen waren!
Da hat uns unsere Mutter oft hergeführt. Sie allein uns beide.
Und da wurde mir bewusst, was das für ein Irrtum ist, sie wäre eine schwache Frau gewesen. Das war sie gar nicht. Sie war eine starke, eine bewundernswerte Frau, dass sie mit uns beiden solche Sachen unternommen hat. Das macht nicht jede Mutter.
Wie viel ist sie mit uns beiden durch die Wälder gestreift! Wie viel hat sie uns gegeben!
Das ist alles andere als selbstverständlich. Eine 45-50jährige körperlich schwächliche und kränkliche Frau, die allein mit ihren beiden kleinen Kindern an solche Orte wandert – und dann noch diesen finsteren, ungesicherten Turm mit ihnen hinaufsteigt! Viele würden das nicht wagen. Allein die ganze Verantwortung. Wenn da den Kindern etwas passiert.
Aber sie hat es getan.

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Und dann denke ich an alle die Mythen und Lügen, die von Dir, von Franz, von Ingrid und Lupus verbreitet wurden, dass unsere Mutter so eine schwache, faule und unfähige Frau gewesen sei.
Dabei hat sie in Wahrheit enorme Dinge geleistet! Mehr als ihr alle zusammen! Während ihr immer nur genörgelt habt, hat sie wirklich etwas getan. Sie hat am allermeisten in der Familie geleistet. Hat vier Kinder großgezogen, ohne dass sie dabei eine Unterstützung von ihrem Mann bekommen hat, ist allein zu den Ärzten und Ämtern und Schulen gelaufen und hat all die Wege erledigt.
Hat uns als Babys gewickelt und versorgt und uns am Leben gehalten, während rundherum nur alle gestritten und gerauft haben und ihr keiner geholfen hat. Sie hat sich um uns gekümmert, wenn wir krank waren, hat uns gepflegt, wenn wir Fieber hatten, hat an unserem Bett gewacht, hat uns den Kopf gehalten und den Kübel hingehalten, wenn wir erbrochen haben, hat uns aus Märchen- und Kinderbüchern vorgelesen, hat uns Butterbrot gebracht, wenn wir ferngesehen haben, hat den ganzen Haushalt gemacht, Wäsche gewaschen, hat uns zur Schule begleitet, hat mit uns die Hausaufgaben gemacht und mit uns gelernt, hat an langen Winterabenden mit uns Mensch-ärgere-Dich-nicht, Karten oder DKT gespielt, hat die Katzen versorgt und ist mit ihnen zum Tierarzt gegangen, und, und, und – während Lupus nichts gemacht hat, keinen Finger gerührt hat, sondern über alles, was nicht funktioniert hat, nur geschimpft und ihr die Schuld gegeben und sie auch noch betrogen hat.
Für alle ihre Leistungen hat sie nicht den geringsten Dank bekommen, von niemandem von uns, bis an ihr Lebensende nicht. Stattdessen war niemand damit zufrieden und ist sie dafür beschimpft worden, von oben bis unten, und von allen Seiten.
Vom Lupus ist sie dafür beschimpft worden, dass wir von seinem Geld leben, von Ingrid, dass sie selbst schuld sei an ihrem Elend, sie hätte ja daneben arbeiten gehen und sich unabhängig machen können – von einer Ingrid, die kein einziges Kind großgezogen hat, selbst sich trotzdem nur von Arbeitslosigkeit zu Arbeitslosigkeit gehantelt und die meiste Zeit ihres Lebens vom Staat erhalten hat lassen.
Und zuallerletzt ist unsere Mutter auch noch von Dir misshandelt und geschlagen worden.

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Es stimmt, dass sie einige fatale Dinge gemacht hat, einige sehr, sehr fatale Dinge. Dinge, die sie niemals hätte tun dürfen. Das sehe ich auch so. Aber nichts, gar nichts rechtfertigt, mit einem Menschen so umzugehen. Nichts, gar nichts rechtfertigt, wie man mit ihr umgegangen ist und was man ihr getan hat. Denn von uns übrigen war keiner um ein Haar besser. Die Fehler, die sie gemacht hat, die haben wir alle längst gemacht und noch viel mehr.
Nicht weil sie wirklich die Schuldige gewesen wäre, nicht weil sie wirklich so viel angerichtet hätte, ist sie die Zielscheibe geworden, sondern weil sie die Wehrloseste war, weil bei ihr sich ein jeder getraut hat, was er sich bei niemandem anderen getraut hätte, hat man sie derartig fertig gemacht.
Sie war der Sündenbock für alles und jeden. Nie hat sie irgendjemandem etwas recht machen können. Und es war auch vollkommen unmöglich für sie. Weil ja ein jeder ihr etwas anderes vorwarf und etwas anderes von ihr forderte. Die Vorwürfe waren doch vollkommen widersprüchlich. 
Warfen die einen (unsere älteren Geschwister) ihr ihre autoritäre Erziehung vor, so warfen die anderen (Lupus und seine Geschwister) ihr ihre anti-autoritäre Erziehung vor. Und so weiter und so fort.
Sie konnte tun, was sie wollte. Schuld war sie immer für irgendwen und am Ende in den Augen aller. Jeder hat seinen Meinungssud und seinen Müll an ihr abgeladen.
Für alles und jedes wurde sie verantwortlich gemacht, was jemandem gerade nicht gepasst hat.
Lupus hat ihr vorgeworfen, dass sie nach vier Kindern nicht seinem Balletpüppchen-Ideal entsprochen hat, dass sie sich nicht so gekleidet und so erotisch hergerichtet und so geschminkt hat, wie er sich das gewünscht hätte, und dass sie sich nicht mit „Frau Doktor“ anreden lassen wollte, wie er es sich von einer ordentlichen Ehefrau erwartete.
In seine Fußstapfen bist Du mit Deinem abartigen Ödipuskomplex getreten, als Du ihr allen Ernstes einen persönlichen Vorwurf daraus gemacht hast, dass sie keine so schöne und tolle Mutter wie eine fiktive Figur in einem weltfremden französischen Film aus den Siebziger Jahren gewesen ist.
Frage: Wer hat so eine Mutter?

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Tatsächlich war auch Dein dauerndes Geschimpfe, dass unsere Mutter so „hässlich“ wäre, ein Blödsinn. Unsere Mutter war nicht hässlich, nur deswegen weil sie mit ihren 60 Jahren nicht den sexuellen Vorstellungen ihres perversen 20jährigen Sohnes entsprach. Unsere Mutter hatte schöne, weiche Gesichtszüge. Aber ihr Leben und ihre Leiden hatten sich halt in ihren Leib und ihr Gesicht gegraben.
Euer dauerndes Schauen auf Äußerlichkeiten gibt aber überhaupt zu denken.
Was immer sie nämlich getan oder nicht getan hat, falsch oder richtig getan hat – sie hat eine schöne Seele gehabt.
Und das kann man von euch nicht behaupten. In euren Seelen wohnt nichts als Hass, Gehässigkeit und Streitsucht. Ihr (Du, Franz, Ingrid) seid die wahren Erben des Vaters, nicht der Mutter.

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Abgesehen davon, dass man sich fragen kann, was das überhaupt soll: Zwei Personen (Lupus und Du), die ihr selber immer nur mit abstoßender, zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse herumgelaufen seid – aber ihr habt das Aussehen von jemandem anderen kritisiert!
Wie pervers ist das denn bitte?

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Es hat viele Jahre, ja, Jahrzehnte gedauert, bis ich überhaupt kapiert habe, was damals alles an Irrsinn geschehen ist.
Deswegen und aus Zwillingsbruderanhänglichkeit habe ich so lange noch den Kontakt mit Dir gehalten, trotz allem, auch nachdem ich aus Baden ausgezogen bin.
Heute hingegen kann ich mich nur mehr mit Grauen von Dir abwenden.

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Es war ein langer und schmerzhafter Lernprozess, der das bewirkt hat. Beispielsweise bei den schon erwähnten Gesprächen am 3. Juli 2013 (siehe oben, im Zuge der Wanderung zum Steinbruchsee), in denen ich Dir unter anderem den schlichten Vorschlag unterbreitete, dass Du, mehr als 20 Jahre nach dem Tod unserer Mutter, doch auch einmal an ihr Grab gehen könntest, mit mir zusammen.
Alles aber, was ich als Antwort bekam, war Dein mit zorniger, zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse hervorgestoßenes Kreischen: „Ja, sag‘ einmal, bist du denn deppart??!! Warum soll ich denn so etwas tun??!!
Was ist so jemand für ein Mensch bitte, der so daherredet?

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Dieses Treffen mit Dir am 3. Juli 2013 war eine jener Begegnungen mit Dir in den letzten Jahren, die meine Einstellung zu Dir gekippt haben. Als ich da Deinen gehässigen Tiraden und Reden zuhörte, da entstand in mir eine solche Abscheu vor Dir, wie ich sie früher nie verspürt hatte. Niemals, nicht einmal in den schlimmsten Stunden mit Dir, nicht einmal, als Du mich am ärgsten misshandelt hast in früheren Jahren, meine Mutter und mich, habe ich so einen Ekel vor Dir gefühlt wie nach diesem Gespräch am 3. Juli 2013.
Da habe ich auf einmal so glasklar wie nie zuvor gefühlt, was für ein entsetzlicher, grässlicher Mensch Du eigentlich bist.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich inzwischen einen Abstand zu Dir gewonnen habe, den ich früher nicht hatte.

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Ähnliche Äußerungen hat es ja in Wahrheit schon früher von Dir gegeben. Sätze wie „Aber ja, die alte Drecksau liegt zu Recht unter der Erde!“ hast Du schon früher über unsere Mutter gesagt.
Und Du bist leider keineswegs die Ausnahme in dieser Familie. Siehe etwa Franz, der mich plötzlich im Mai 2014 anrief und, Wahrheiten und Halbwahrheiten mit totalen Verdrehungen und offenkundigen Fantastereien vermischend, in wütenden Tiraden über die Mutter herzuziehen und sie zu beschuldigen begann, sogar für Dinge, die vor 50 Jahren und noch früher geschehen sind!
Was seid ihr alle für Menschen bitte?
Unsere Mutter ist einen allergrässlichsten Tod gestorben, einen so entsetzlichen Tod, dass es kaum mit irgendetwas anderem vergleichbar ist. Eine alte, vollkommen vereinsamte, schwer depressive, zuckerkranke Frau, die über viele Jahre von der ganzen Familie beschimpft und gedemütigt, und überdies auch noch im speziellen von Dir misshandelt und geschlagen wurde, bis sie sich endlich das Leben nahm.
Was immer sie auch getan hat und selbst wenn sie wirklich all die schweren Verbrechen, die ihr ihr andauernd vorwerft, begangen hätte – sie hätte allein durch all ihre Leiden und mit diesem grauenhaften Tod ohnehin zu Genüge dafür bezahlt!
Nirgendwo aber gibt es bei euch auch nur einen Moment des Innehaltens, der Reue oder wenigstens der Besinnung, ob das denn recht war, wie ihr mit ihr umgegangen seid, wie ihr euch verhalten habt.
Keine Spur der Selbstreflexion bei euch, auch nach Jahrzehnten nicht.
Stattdessen könnt ihr nicht ablassen, über sie fanatisch zu schimpfen. Sogar fast 30 Jahre nach ihrem grässlichen Tod verfolgt ihr diese arme Frau immer noch mit eurem krankhaften Hass und gießt euer Geschimpfe über sie aus.
Was wollte ihr denn noch bitte?

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27 Jahre ist unsere Mutter nun tot. Wenn sie wirklich an allem und jedem schuld gewesen wäre, dann hätten wir übrigen ja seither alle Chance gehabt, es besser zu machen. Dann müsste ja seither regelrecht das Paradies für uns alle ausgebrochen sein!
Tja, komischerweise ist das nicht der Fall.
Dass das alles doch nicht so einfach war, wie er sich in seinem Kopf zugerechtgelegt hatte, das musste auch Lupus bald nach ihrem Tod merken.
Wie oft hatte er nicht unsere Mutter, solange sie gelebt hatte, dafür beschimpft, dass sie so „dumm“ sei, Dir Geld für Alkohol zu geben, hatte ihr großsprecherisch ihre „Schwäche“ vorgehalten – ohne zu kapieren, dass sie Dir das Geld nicht einfach freiwillig gab, sondern Du es häufig genug aus ihr rausprügeltest.
Nun, kaum war sie tot – machte er plötzlich genau dasselbe! Schleppte Dir den Alkohol heran und gab Dir Geld für Alkohol!
Oder er schob, wenn er die Wohnung verließ, mir heimlich Geld zu und flüsterte mir zu, dass ich es Dir später geben solle – damit Du Dir Alkohol kaufen könntest!
Dazu eine Stelle aus meiner Tagebucheintragung vom 24. Februar 1991, also vier Monate nach dem Tod der Mutter, inmitten all des Horrors nicht ohne eine gewisse Häme verfasst:

Lupus ist auch gut. Oberin hat er vorgeworfen, sie gewöhne Hermann den Alkohol nicht ab. Jetzt schimpft er selber nur gehässig: ‚Sauf dich ruhig zu Tode, du Trottel.‘

So weit zu den Leuten, die immer alles besser gewusst haben als unsere Mutter! Das ist ein Beispiel, das wirklich so wunderschön die ganze Erbärmlichkeit des obsessiven Mutter-Bashings illustriert, das in unserer Familie jahrzehntelang betrieben wurde und immer noch betrieben wird!

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Auch nach meinem Auszug aus Baden 1991 habe ich mich von Dir über viele Jahre lang von Dir manipulieren, missbrauchen, beleidigen und beschimpfen lassen, habe weiterhin Streitereien Raufereien und wilde Prügeleien mit Dir ertragen. Dennoch habe ich immer noch zu Dir gehalten, aus Bruderliebe und aus einer hartnäckigen Anhänglichkeit an Dir.
Darum habe ich mich immer wieder auf Dich eingelassen, habe mich immer wieder mit Dir getroffen, habe Dich besucht, habe Dir geholfen, wo ich konnte, habe Dir Freunde zu verschaffen versucht, bin sogar wieder mit Dir verreist und wandern gegangen.
Obwohl Du selbst auf den Wanderungen mit mir gestritten und geschimpft hast, aus den nichtigsten Anlässen, aus bloßen Einbildungen heraus!
Wann immer Du Hilfe gebraucht und mich verzweifelt angerufen hast, weil Du Geld gebraucht hast oder etwas auf den Ämtern nicht erledigen konntest oder krank warst, habe ich Dir aus der Patsche geholfen.
Dennoch bist Du ungebrochen von einem krankhaften und völlig irrationalen Hass auf mich besessen und machst nach wie vor die Mutter und mich für Dein Elend verantwortlich.
Mir kommt vor, es ist Dir noch nicht einmal bewusst, dass Du ohne mich (und Ingrids Unterstützung) nicht einmal eine Wohnung hättest, sondern auf der Straße stehen würdest, und ohne mein Einschreiten auch nachher schon mehrmals delogiert worden wärst. Beziehungsweise wärst du ohne unsere Hilfe ohnehin schon längst an den Folgen Deines Alkoholismus allein in Deiner Wohnung gestorben.
Nur durch unser wiederholtes Einschreiten ist das verhindert worden. 2007 rettete Dir Ingrids damaliger Mann Georg das Leben, indem er Dich ins Spital brachte. Ich brach damals Deinetwegen daraufhin sogar die Weltreise ab. Und Deine vermüllte Wohnung renovierten wir Dir damals auch, sonst wäre es gar nicht einmal möglich gewesen, dass Du aus dem Spital zurückkehrst.
Was war Dein Dank dafür? Du hast nur gekeppelt und geschimpft, dass wir zu langsam mit dem Renovieren wären!
So wie Du Dein ganzes Leben lang immer nur über andere gekeppelt und anderen Leuten fortwährend die Schuld gegeben hast, wenn Dir irgendetwas nicht gepasst hat!
Und ich weiß von Deinem derzeitigen Psychiater, dass Du ihm die freche Lüge aufgetischt hast, wir hätten uns damals nicht um Dich gekümmert!
Das ist tatsächlich Dein Lebensinhalt: über andere zu keppeln und zu sudern und anderen die Schuld an allem zu geben!
Was haben sich Deinetwegen andere Menschen immer wieder den Haxen ausgerissen, haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um Dir zu helfen! – Und Du hast das noch nicht einmal wahrgenommen, hast immer nur über sie gekeppelt und geschimpft, hast sie dafür immer nur mit Hass und Verachtung belohnt!

***

Immer wieder bin ich auf Dich reingefallen, auf Dich und Deine mitleidsheischende Masche, auf Dein emotional erpresserisches „Bitte – BITTE – BIIIITE!“-Gekreisch (das habe ich jetzt noch im Ohr; das konntest Du ohne Pause hervorstoßen, noch zu Lebzeiten der Mutter, wenn Du Geld für Alkohol wolltest), auf Deine ganze krankhafte „Ich-bin-ja-so-arm-und-alle-anderen-sind-ja-so-böse-zu-mir!“-Schauspielerei.
Und immer wieder habe ich es bitter bezahlen müssen.
Etwa Anfang März 2009, als ich auf einen schrecklichen Hilferuf von Dir sofort alles liegen und stehen ließ.

***

Damals, am 2. März 2009, war ich gerade in der U-Bahn, auf dem Weg in die Arbeit. Was noch dazu kam, das war, dass das wenige Tage vor meiner Schulteroperation war.
Aber was meine Umstände gerade waren, danach hast Du sowieso nie gefragt.
Zuerst wollte ich ja gar nicht mit Dir reden und hob nicht ab, weil ich wusste, es gibt doch wieder nur Streit.
Aber dann sprachst Du mir auf die Nachrichtenbox.
Und die hörte ich dann ab.

Was ich hörte, war entsetzlich. Eine verweinte, um Hilfe flehende Stimme: „Bitte, Ortwin, bitte heb ab, ich kann nicht mehr, bitte, ich, kann nicht mehr, bitte ich brauche dringend Hilfe“ – eine zitternde, von Verzweiflung geschüttelte Stimme.

Und es geht weiter:

Da konnte ich nicht anders. Ich rief ihn zurück, noch in der U-Bahn. Er, mit ebensolcher Stimme: bitte, ob ich ihm helfen kann […] Er redete u redete viel, alles verstand ich nicht, aber er war in einer derartigen Verfassung, daß ich wußte, ich muß ihn heute noch treffen, es geht nicht anders …

Du befandest Dich gerade auf der Mariahilfer Straße. Es war nach 18 Uhr, ich hätte eigentlich gerade den Dienst in meiner Arbeit antreten sollen, aber ich machte das Unmögliche möglich.
Ich kam ins Büro, wo ich mich immer bei Dienstbeginn melden musste, ich hatte noch das Handy am Ohr, als ich eintrat, und Du hast immer noch nicht aufgehört zu reden und zu reden …
Endlich musste ich das Telefonat abbrechen, viele Leute waren im Büro – und dann habe ich mich vor meinem Chef regelrecht auf die Knie geworfen, rang mit den Tränen, er sah, da ist etwas komisch, er schickte die übrigen raus, dann habe ich ihn gebeten, dass er mir freigibt, es sei was Schlimmes mit meinem Zwillingsbruder … und er erfüllte mir die Bitte.

***

Um ca. dreiviertel sieben trafen wir einander vor dem Thalia.
Nur wenige Worte zwischen uns, und Deine schleimige „Bitte! Bitte! Ich brauche Hilfe!“ – Freundlichkeit war vorbei.
Du schriest mich an mit rollenden Augen und gefletschten Zähnen, packtest mich am Kragen und schlugst zu und ohrfeigtest mich, nahmst meinen Kopf zwischen Deine beiden Hände und klatschtest dagegen …

***

Nicht ganz so gewalttätig, aber im Prinzip sehr ähnlich artete es aus, nachdem wir am 17. Juli 2013 telefoniert hatten und Du wieder einmal Hilfe von mir gefordert hattest. Kein Geld, sondern dass ich Dir Essen vorbeibringe, Kartoffeln und Spaghetti. Du hättest seit Tagen nichts mehr zu essen, klagtest Du.
Das waren ja an sich nicht sehr anspruchsvolle Wünsche. Charakteristisch war trotzdem wieder Dein unduldsamer Tonfall und die Selbstverständlichkeit, mit der Du diese Hilfe von mir fordertest.
Natürlich gerieten wir schon am Telefon in allerlei unsinnige Streitereien um gar nichts, so wie das zwischen uns beiden immer der Fall war. Aber am Nachmittag des folgenden Tages, des 18. Julis also, fuhr ich trotzdem zu Dir nach Rodaun.
Ich hatte eigens noch nichts selbst für Dich eingekauft, ganz bewusst, weil ich schon bemerkt hatte, dass Du spezielle Vorstellungen hattest, und wusste, Du würdest wieder cholerisch werden, wenn ich Dir etwas Falsches einkaufte.
So gut kannte ich Dich ja schon!
Allerdings hatte ich der Nachbarin zwei Packungen Nudeln um je einen Euro abgekauft, die sie gerade über hatte. Noch viel mehr würden wir dann gemeinsam für Dich einkaufen gehen, dachte ich mir.
Dazu kam es aber dann gar nicht.
Schon als ich Dich während der Straßenbahnfahrt anrief und Dir sagte, dass ich auf dem Weg zu Dir sei und wir dann gemeinsam einkaufen gehen würden, wurdest Du aggressiv.
„WAS? ICH DACHTE, DU HAST DAS SCHON!“
schriest Du mich zornentbrannt durch das Telefon an.
Es kostete mich einige Mühe, Dich zu besänftigen.
Als ich zu Dir kam, warst Du gerade dabei, Zigarettenstummeln vom Gehsteig aufzulesen, um sie fertig zu rauchen …
Aber als ich dann meinen kleinen Rucksack öffnete und Dir die zwei Nudelpackungen gab, fing der Streit schon wieder an. Denn es waren Nudeln, die Du nicht wolltest. Hörnchen und Spiralnudeln.
„Ich habe dir doch gesagt, du sollst SPAGHETTI kaufen!“
Ich war vollkommen perplex, dass Du nicht froh warst, dass Dir überhaupt jemand etwas zu essen vorbei bringst, wenn Du tagelang gehungert hast.
Als ich mich zu rechtfertigen versuchte, Dir erklärte, dass Du doch froh sein solltest, dass ich überhaupt gekommen sei, und Dir erklärte, dass ich mich mit Pasta eben nicht auskenne, da wurde ich von Dir freilich als „deppart“ beschimpft.
Und dann behauptetest Du noch, ich hätte das absichtlich gemacht!
Ich schrie Dich dann an, und da war zu merken, dass Du nahe daran warst, auf mich einzuschlagen.

Er aber riss sich gerade noch zusammen, starrte mich nur wütend an, stand auf und ging im großen Bogen um mich weg, gab mir die Nudeln wieder her und zischte, ich solle verschwinden, und ich solle nie wieder herkommen. Ich sagte nichts mehr, weil ich wusste, wenn ich jetzt noch was sage, haut er hin.

Also verschwand ich. Was blieb mir anders übrig?

***

Allerdings wollte ich Dich ja trotzdem nicht verhungern lassen. So sehr Du mich beschimpft hattest, ich war immer noch so großzügig, dass ich am 20. Juli 2013 allein für Dich einkaufen ging (ich hoffte, diesmal das Richtige) und es Dir dann um Mitternacht heimlich vor die Wohnungstür stellte.

3 kg Kartoffeln, 6x500g Spaghetti, 7 Gläser verschiedenes Sugo, dazu auch 1 Mexikanischen Bohnentopf und 1 Linseneintopf in der Dose.

Irgendeinen Dank bekam ich freilich auch später nie dafür. Stattdessen warfst Du mir vor, dass ich teure Bio-Produkte gekauft hätte.
Alles in allem war diese Episode die Neuauflage jener Episode 30 Jahre zuvor, als Du die Mutter nur deswegen geschlagen und bespuckt hat, weil sie Dir die falschen Pfefferoni gekauft hat!

***

Das sind freilich nur einzelne Höhepunkte aus einer ganzen Serie von psychischen wie physischen Gewalttätigkeiten, denen ich auch nach meinem Auszug nach Baden 1991 ausgesetzt war.
Dein bislang letzter tätlicher Angriff auf mich ereignete sich am 5. Mai 2014, als Du plötzlich in verwahrlostem Zustand und völlig betrunken bei meiner Wohnung aufgetaucht bist.
Auch diesmal hast Du ja zuerst total mitleiderregend gewirkt. Dein Anblick war herzzerreißend. Du hattest eine geschwollene, gefühllose Hand. Du warst halb verhungert.
Als ich Dir etwas zu essen gab, sind Dir die Tränen aus den Augen geflossen, und in einer plötzlichen Gefühlsanwandlung hast Du sogar meine Hand ergriffen und mich stumm und ganz inniglich umarmt.
Ich war zutiefst gerührt.
Leider währte der Frieden nur einige Momente lang.
Ich machte den Fehler, die Kühlschranktür zu öffnen. Da sahst Du die Flaschen Alkohol, die ich drinnen hatte. (Es waren Geschenke meiner Kunden, ich selbst würde mir keinen Alkohol kaufen.)
„GIB MIR! GIB MIR!“
Ich wollte Dir freilich nichts davon geben, weil der Alkohol sowieso schon Dein Leben zerstört und Dich gesundheitlich ruiniert hat. Schließlich hast Du Leberzirrhose.
Und dann kam natürlich wieder Dein Wimmern und Jaulen.
„BITTE! BITTE! BITTE!“
Als ich immer noch nicht nachgab, drängtest Du mich mit all Deinem Gewicht gegen die Kühlschranktür und bekamst dabei wieder Deine Klaus-Kinski-Grimasse, diesen grässlichen, zähnefletschenden Gesichtsausdruck, und warst auf einmal voll Wut.
Endlich begannst Du mit mir zu raufen, packtest mich mit aller Gewalt am Kragen meines Pullovers und versuchtest mich zur Seite zu drücken.
Gott sei Dank kam dann die Nachbarin. Darum musstest Du aufhören. Allerdings stahlst Du danach doch, ohne dass ich es bemerkte, heimlich eine Flasche Wein, die ich im Vorzimmer auf dem Regal stehen hatte; um die es mir besonders leid tat, weil sie ein Erinnerungsstück gewesen war.

***

Jahre- und jahrzehntelang habe ich Deine Gewalttätigkeiten und tätlichen Übergriffe stets auf das Neue toleriert, verziehen, vergessen und verdrängt. Dieser Vorfall im Mai 2014 war aber für mich ein Schlussstrich.
Da erst habe ich so richtig kapiert, dass solche Gewalttätigkeiten schlicht inakzeptabel sind. So lange habe ich gebraucht, um so etwas Einfaches zu verstehen!
Wenn 15jährige untereinander derart raufen, dann ist das bis zu einem gewissen Grad normal, das sehe ich ein. Auch unter 25jährigen oder sogar 30jährigen kann von mir aus so etwas gelegentlich noch vorkommen.
Aber dass ich mich als 46jähriger mit meinem Zwillingsbruder derartig prügeln muss – nein.
Und mir wurde klar, wie absurd das ist. Mir wurde vielleicht zum ersten Mal so richtig bewusst, dass Du als jemand, der Mitte 40 ist, emotional immer noch den Reifegrad eines 14- oder 15jährigen hast, nicht mehr.
Und vielleicht ist das noch zu hoch gegriffen, manchmal bist Du auch bloß auf dem Stand eines Kleinkinds oder gar Babys.
In der Folge kam ich zu dem Entschluss, dass ich das nächste Mal, wenn Du so etwas tust, einfach die Polizei rufen würde – oder vielleicht sogar schon, wenn Du es wagst, noch einmal zu mir herzukommen.
Du bist ein gewalttätiger Psychopath und gefährlich. Jede Toleranz Dir gegenüber ist ein Fehler.
Du hast mir ja schließlich auch selbst einmal gesagt (ich glaube, das war bei Deinem diesem Vorfall vorangehenden Anruf, am 1. Mai 2014), Du fürchtest, dass Du mich umbringen könntest, wenn wir uns treffen.

***

Ich weiß auch, dass jedes weitere Gespräch zwischen uns beiden nur mehr sinnlos ist. Ich habe mehrfach versucht, mit Dir über Dein Benehmen zu sprechen und Dich auch auf Deine Gewalttätigkeiten hinzuweisen.
Du leidest aber an einer solch schweren Soziopathie, dass Du unfähig zu jeder Einsicht in Deine eigene Verantwortung bist.
Ein kleiner Ausschnitt aus dem Tagebuch vom 10. Mai 2014, als ich mit Dir telefonierte und Dich auf Deine körperliche Attacke und den Diebstahl am 5. Mai ansprach:

Er sagte, er habe Erklärungen [dass Du den Alkohol unbedingt gebraucht hast] – aber ich würde ja dann glauben, dass er sich entschuldigen will!
Ich: Entschuldigung oder Erklärung, egal, es seien jedenfalls Erklärungen, wie er sie bei anderen nicht gelten lässt.
Er: Ich bin euch gegenüber in der schwächeren Position …
Da platzte mir der Kragen.
Ich: Jaja, ich weiß, der Lupus war auch immer das Opfer …
Ich glaube, das war, wo er dann auflegte.

So verlieren sich alle Versuche, mit Dir zu kommunizieren, nur in vollkommen absurden und kafkaesken Dialogen, bei denen letztlich herauskommt, dass Du immer das vollkommene unschuldige Opfer bist und der andere für alles verantwortlich ist, selbst wenn Du ihn gerade tätlich angegriffen hast – auch Dann bist Du Deiner eigenen Auffassung nach so unschuldig, dass dafür nicht einmal die geringste Entschuldigung notwendig ist!
Bei anderen, bei der Mutter und mir etwa, hast Du allerdings weder Entschuldigung noch Erklärung noch sonst irgendetwas gelten lassen.
Da hast Du gleich gebellt: „Das ist keine Entschuldigung …“ , wenn jemand Dir etwa erklären wollte, wieso er das und das so oder so getan hat, und nicht anders.
Da hat es sowieso nur gleich Beschimpfungen und Hiebe gehagelt, wenn Dir etwas nicht gepasst hat!
Man sieht also, Du hast interessante Begriffe von Gerechtigkeit.
Baff war ich aber auch bei dem schon erwähnten Gespräch am 25. Februar 2013, als ich die Rede darauf brachte, wie Du mich im März 2009 auf der Mariahilfer Straße zusammengeprügelt hast.
Deine trockene Antwort war, ich zitiere aus meinem Tagebuch, „dass das ja nicht stimme, dass er mich da auf der Mariahilfer Straße zusammengeprügelt hätte.“
Wie soll man mit so einem Menschen noch reden?
Klar. Mir fiel dann wieder ein, dass es schon zu den Zeiten so gewesen war, als unsere Mutter noch gelebt hatte.
Da war ihr Oberarm übersät mit blauen Flecken.
Aber wenn man Dir gesagt hat, dass Du sie geschlagen hast, dann hast Du einem voller Überzeugung geantwortet:
„Ich habe doch niemanden geschlagen! Ich habe sie ein bisschen gestoßen, ihr ein paar Knüffe gegeben!“

***

Deine schwere Soziopathie, ohne dass ich sie damals aber schon als solche zu verstehen in der Lage war, zeigte sich auch bei einem Vorfall an der Raststätte „Ötscherhias“ in den Ötschergräben im Sommer 1999 – ein Vorfall, der derart absurd ist, dass ich ihn hier unbedingt erwähnen muss.
Du saßest mir gegenüber und klagtest über Franz. Über irgendetwas, was er Dir gesagt hätte.
Und ich versuchte, Dir ganz besonders geduldig und teilnahmsvoll zuzuhören und sah Dir geradewegs in die Augen. Ich war zuvor bei einem buddhistischen Kurs in Frankreich gewesen und hatte dort gelernt, dass man dem Gegenüber Empathie schenken solle. Darum versuchte ich ganz besonders, Dir zu zeigen, dass ich für Dich da bin.
Vielleicht hätte ich Dir aber gar nicht so mitfühlend in die Augen blicken sollen. Vielleicht brachte gerade das Dich durcheinander.
Denn plötzlich hieltest Du inne, sahst mir auch direkt in die Augen und sagtest mir auf einmal ohne irgendeinen Anlass mit einem ganz verächtlichen Gesichtsausdruck:
„Aber du - du bist ja auch ein Trottel!“
Das war einfach zu viel für mich.
Ich hatte schon so viele Beschimpfungen von Dir geschluckt. Auch bei diesem gemeinsamen Aufenthalt im Mariazellerland war ich ohne Unterlass von Dir als „Arsch“ und als „Trottel“ beschimpft worden. Aber nun war das Maß voll. Nun hielt ich es nicht mehr aus. Nun reichte es mir. 
Da stand ich wortlos auf und ging für eine Stunde weg. Ja, ich rannte einfach weg, ohne mich umzusehen, ohne noch etwas zu sagen, und kam erst nach einer Stunde wieder.
Als ich wieder zu der Raststätte zurück kam, hörte ich Dich schon von der Ferne andauernd laut meinen Namen in der Gegend herum rufen. Offenbar hattest Du das eine Stunde lang getan.
Als Du mich sahst, brachst Du in ein grässliches, herzzerreißendes Schluchzen aus, plärrtest wirklich wie ein kleines Kind, und sagtest, Du hattest Angst gehabt, dass ich irgendwo runter gestürzt sei oder mich runter gestürzt hätte.
Das war ja irgendwo dann wieder rührend und zeigte immerhin, dass mein Schicksal Dir keineswegs vollkommen gleichgültig war.
Aber freilich erhobst Du nun lauter Vorwürfe gegen mich, als hätte ich irgendein Verbrechen begangen, weil ich eine Stunde weggewesen sei und Du Angst um mich hättest haben müssen.  
„Das kannst Du doch nicht machen! Du warst eine Stunde lang weg!“
Natürlich verteidigte ich mich gegen Deine Vorwürfe und sagte Dir, dass Du doch mich dauernd beschimpfst und wie den letzten Dreck behandelst, - und wenn ich dann wegrenne, dann sei ich schuld?
Und ich forderte Dich auf, einmal über Dein eigenes Verhalten nachzudenken.
Da schnittest Du dann freilich wieder Deine hässliche, verzerrte Grimasse.
„Du, Oasch, du!“ stießest Du dann zwischen den gefletschten Zähnen hervor.
Und ich dachte schon, im nächsten Moment haust Du mir eine rein.
Ganz besonders wütend wurdest Du aber dann, als ich sagte, mein Verhalten hättest Du Dir selbst zuzurechnen.

***

Das ist genau der Punkt. Du bist wirklich nicht imstande zu verstehen, dass Du mit Deinem Verhalten bestimmte Reaktionen bei anderen auslöst. Du bist nicht imstande, den Zusammenhang Deines eigenen Verhaltens mit dem der anderen zu verstehen, kurz gesagt, die Wechselwirkung zwischen Dir und den anderen Menschen.
Darin besteht im Kern Deine Persönlichkeitsstörung.

***

In umgekehrter Richtung, nämlich dann, wenn es darum geht, dass Du den anderen die Schuld gibst, legst Du freilich wieder besonderen Wert auf diese Wechselwirkung. Einer Deiner Vorwürfe lautete nun, dass Du meines Verhaltens wegen einen dritten Most bestellen hättest müssen, mit anderen Worten, dass Du Dich meinetwegen betrinken hättest müssen.
Sofort war also wieder ich an allem schuld. Und überhaupt hätte ich Dir dadurch den ganzen Urlaub verdorben, erklärtest Du mir nun …

***

Du warst ein Bild des Elends und des Jammers, als wir beide durch die Ötschergräben weiter wanderten. Du warst stockbetrunken, verzweifelt, wanktest und schwanktest, zogst aber trotzdem rasch vor mir davon, freilich nur, um immer wieder umzufallen, die Abhänge runter zu rutschen, für eine Weile mit einem vollkommen entgeisterten Gesichtsausdruck  im Gras liegen zu bleiben, dann wieder hinauf zum Weg zu kriechen und stumm und wortlos weiter zu gehen.
Es zerriss mir das Herz. Es war auch nicht ungefährlich. An der einen oder anderen steilen Stelle hättest Du hinabstürzen und Dich ernsthaft verletzen können.
Nachdem wir zu dem Garagendachboden, in dem wir Quartier hatten, zurückgekehrt waren, schliefst Du rasch auf einer der verstaubten, alten Matratzen ein.
Als ich Dich als Schlafenden betrachtete, tatest Du mir so unendlich leid. Wenn Du schläfst, strahlst Du etwas ganz Entsetzliches aus, dann sieht man all Dein Leiden in Dein Gesicht geschrieben. All Dein Leiden und Dein Unglücklichsein, all Deine Verletzbarkeit und Verletztheit.
Und Du wirkst wie ein armes, verlorenes, unschuldiges Kind.

***

Du bist ein großes, armes, verlorenes Kind. Unschuldig bist Du aber nicht.
Dass Du physisch zwar ein fast 50jähriger Mann, innerlich jedoch ein 14jähriger bist, das bekam ich auch drastisch vorgeführt, als ich Dich am 8. Jänner 2015 im Kaiser-Franz-Josef-Spital besuchte.
Da erklärtest Du mir wieder einmal vollmundig, dass Du mit keinem Menschen irgendetwas zu tun haben wollen würdest, dass Du lieber ganz allein leben würdest, Du seist sehr gerne einsam, Du seist allein glücklich, ohne irgendeinen Kontakt zu Menschen. (!!!)
Und dabei bekamen natürlich auch die Personen ihr Fett ab, mit denen ich Dich eigens bekannt gemacht hatte, damit Du aus Deiner Isolation heraus kommst. Selbstverständlich warst Du mir nie dankbar dafür. Du warst immer unzufrieden mit meinen Freunden, denen ich Dich vorgestellt hatte. Waldemar etwa nanntest Du einmal einen „Clown“.
Nun kam Hilde dran. Ihr warst Du am Donauinselfest im Sommer 2000 begegnet. Und jetzt, 2015, 15 Jahre später, machtest Du Dich immer noch lustig über sie:

„Es war eine irrsinnig schlechte Musik. Und da ist sie gestanden und hat so komisch mit ihrem Hinterteil gewackelt!“

Immer wieder wiederholtest Du diesen Satz hartnäckig und vor Lachen prustend:

„Wie die da so komisch mit dem Arsch gewackelt hat! Und du hast dich daneben gestellt und mit deinem komischen Gesicht mitgetan!“

Als ich Dich sah, wie Du da trotz Deiner eigenen schweren Erkrankung, vom Alkohol und Menschenhass vollkommen zerstört und im Grunde selbst eine durch und durch lächerliche Figur, im Spitalsbett liegend, so auf superlustig machtest und mir erklärtest, was für eine alberne Person meine Bekannte sei und dass es doch klar sei, dass Du mit so jemandem nichts zu tun haben wollest, da wurde mir nicht nur mit einem Schlag Dein ganzer unverschämter Hochmut drastisch vor Augen geführt, - sondern auch, dass ich mich mit einem 14jährigen unterhalte, oder mit jemandem, der emotional auf dem Stand eines 14jährigen geblieben ist!
Ja, bei Teenagern ist das leider normal, dass sie sich derart blödsinnig prustend, grinsend, kichernd und lachend über jemanden aufgrund seines bloßen äußeren Erscheinungsbildes lustig machen.
Aber mit 47 Jahren …

***

Ungefähr ein dreiviertel Jahr zuvor, am 1. Mai 2014, hattest Du mich (nachdem wir zuvor viele Monate keinen Kontakt hatten) plötzlich angerufen und durch das Telefon wild gekreischt, dass Du Deine vollkommene Einsamkeit nicht mehr aushieltest.
Du erzähltest mir, dass Du vor lauter Einsamkeit jede Nacht bis 4 Uhr in der Früh wie am Spieß schreien würdest, derartig laut, dass Dich wundere, dass die Nachbarn noch nicht die Polizei geholt hätten. (!!!)
Und dann machtest Du mir diese Schreierei in den unfassbarsten Tönen gleich am Telefon vor.
So viel dazu, wie sehr man Deine Aussagen, Du seist allein, ohne jeden Kontakt mit Menschen, glücklich, ernst nehmen darf.
Oder wie sehr man überhaupt irgendwelche Aussagen von Dir ernst nehmen darf!

***

Dementsprechend ist jede vernünftige Kommunikation mit Dir unmöglich. Und all die Dialoge und Streitereien, die ich mit Dir seit mehr als 30 Jahren führen muss, sind ja darum auch vollkommen kafkaesk und unsinnig, ohne jede Kohärenz.
Du sagst mal etwas, mit felsenfester Überzeugung. Und wenn wir ein anderes Mal darüber reden, sagst Du mit ebenso felsenfester Überzeugung das genaue Gegenteil.
Und wenn ich Dich dann auf diesen Umstand hinweise, dann streitest Du das total ab.
Manchmal widersprichst Du Dir auch schon innerhalb eines Gesprächs.
Das ist bei Dir ganz wie bei Franz.

***

Als ich Dich etwa am 13. Juni 2013 bei Deiner Wohnung in Rodaun besuchte, da fingst Du (ganz von selbst) auf einmal von Deiner ehemaligen Therapeutin Eva Novotny zu reden an.
Nun hast Du Dich schon früher, in den 80er Jahren, aber auch später, stets nur vollkommen abfällig über sie geäußert, hast Dich andauernd über sie beklagt, hast mir lange Tiraden darüber gehalten, was sie alles angerichtet habe, wie unfähig sie gewesen sei, dass sie keine ordentliche Therapie mit Dir gemacht habe, dass sie bei Dir nur wild herum gedeutet habe, und vieles andere. Und auch die Ärzte und Psychiater hast Du (siehe die oben zitierte Tagebuchstelle aus dem Dezember 1988) zusammen mit Novotny ja stets in langen, heulenden und wimmernden Tiraden alle als Vollidioten hingestellt, die Dich kaputt gemacht hätten.
Und selbst jetzt (am 13. Juni 2013) sagtest Du mir am Beginn des Gesprächs, dass Du seinerzeit auf Novotny leider „reingefallen“ seist.
Bis dahin hört sich alles ganz eindeutig an.
Aber das Allerseltsamste geschah genau in dem Moment, als ich Partei für Dich ergriff und sagte, ich sei wütend auf Novotny, wegen all dem, was sie Dir angetan habe.
Auf einmal schwenktest Du um 180 Grad um.
Auf einmal begannst Du sie mir gegenüber zu verteidigen!
Aber nein! sagtest Du ganz erstaunt. Du seist doch gar nicht wütend auf sie! Und auch nicht auf die Psychiater! Die könnten ja gar nichts dafür!
Und Du konntest Dich nicht einmal daran erinnern, als ich Dich darauf hinwies, dass Du früher über sie geschimpft hast.
Und dann geschah die für Dich ganz typische Kehrtwende:
Plötzlich bewiest Du mir im Tonfall von jemandem, der die absolute Wahrheit zu verkünden glaubt und von dem, was er sagt, felsenfest überzeugt ist, alle meine Einwände hinwegfegend, dass die Ärzte, die Psychiater und auch Novotny gar nichts für irgendetwas könnten und an allem nur unsere Mutter schuld sei!

***

Fast ein Jahr später, Anfang Mai 2014, als Du, wie schon oben erwähnt, nach einer längeren Beziehungspause plötzlich zu mir kamst, schimpftest Du freilich wieder in alter Manier über die Therapeuten. Die hätten Dich überhaupt so weit gebracht, dass es Dir so schlecht gehe. Und dann sagtest Du auch über die Novotny, dass sie Dir nicht geholfen habe.
Ich, erstaunt: Ach, letztes Mal hast Du sie verteidigt.
Du, ganz kategorisch: Nein.

***

Ähnlich absurd war es, als Du mir am 25. Februar 2013 plötzlich mit der vollkommensten Überzeugung und in aller Seelenruhe erklärtest: „Ich hab‘ eh nie Probleme mit Lupus gehabt.“
Ich war fassungslos.
Da wächst Dir doch Deine Pinocchio-Nase bis zum Leitha-Gebirge.
Hermann, solche Lügen kannst Du anderen erzählen, irgendwelchen Fremden, Deinen Psychiatern, den Richtern, wem auch immer, die mögen Dir das alles abnehmen – aber doch nicht mir, der mit Dir aufgewachsen ist und alles miterlebt hat!
Nicht mir, bei dem Du Dich schluchzend ausgeweint hast darüber, dass der Lupus mit Wutgrimasse auf Dich losgegangen ist, als Du nicht in die Schule gegangen bist! Nicht mir, der auch alle eure späteren Auseinandersetzungen live miterlebt hat, - wo Lupus Dir beispielsweise erklärte, die Hunde würden Dich auch noch im Wald finden, wenn Du davon läufst!
Nicht mir, der aus Solidarität zusammen mit Dir 1988/89 über viele Monate außer Haus gegangen ist, sobald der Lupus gekommen ist, weil wir ihn im Verdacht hatten, dass der gegen Dich gerichtete Antrag auf Sachwalterschaft auf ihn zurück geht! Da wolltest Du ihm auf keinen Fall begegnen!
Nicht mir, den Du auch nach seinem Auszug aus Baden noch oft angerufen und in langen Telefonaten angejammert hast, wie gemein der Lupus zu Dir sei und wie schlimm er mit Dir schimpfe!
Nicht mir, der mit Dir 1994 um den Erlaufstausee gewandert ist und dem Du während der ganzen langen Wanderung wimmernd Dein Leid geklagt hast, wie schlecht Dich Amalia und Lupus behandeln und was die sich für Frechheiten erlauben würden!
Regelrecht aufgestachelt hast Du mich damals gegen die beiden, so dass ich eine ungeheure Wut auf sie bekam!
Und nun erklärtest Du mir in aller Gemütsruhe, Du hättest nie Probleme mit ihm gehabt!
Aber was ich nun auch einwandte, es war das Übliche, ich prallte gegen eine Wand, alles drehtest Du so herum, dass es für Dich passte. 
Und Du erklärtest sogar mir, dass ich nie Probleme mit ihm gehabt hätte!
„Was hast Du denn für Probleme mit ihm gehabt?!“
fragtest Du mich regelrecht wütend.
Ich fasste es nicht. Du warst doch bei allem dabei gewesen! Musste ich Dir nun unsere ganze Familiengeschichte nacherzählen?
Mittlerweile ist mir klar, dass Du bei dieser absurden Unterredung dasselbe in Grün machtest, was unsere älteren Geschwister, Franz und Ingrid, schon 30 Jahre zuvor gemacht hatten, als sie uns jüngere Geschwister zuerst über viele Jahre lang gegen die Eltern aufhetzten – nur um uns dann plötzlich zu erklären, dass wir es eh gut bei ihnen hätten und wir „eh keine Probleme“ hätten!
Das ist Teil der irren Psycho-Spiele und Manipulationstechniken in dieser Familie. Zuerst wird alles dramatisiert, wird man von euch in eine künstliche Aufregung versetzt – und dann, wenn ihr einen endlich so weit habt – dann lasst ihr einen fallen wie eine heiße Kartoffel und stellt denjenigen wie einen Verrückten hin, der doch nur das sagt, was ihr ihm zuvor beigebracht habt! Auf einmal ist dann eh alles okay!

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Das Spiel der Intrigen hast Du dementsprechend immer bestens beherrscht! Und es hat auch hier lange gebraucht, bis ich das begriffen habe! Denn ich habe mich jahrzehntelang von Deiner Jammerei in die Irre führen lassen, - wie Du sie etwa bei einem unserer Treffen 2013 zelebriertest, als Du mir mitleidheischend darlegtest, Du seist ja in einer Sonderposition, Du seist ja stets der „Schwächste von uns allen“ gewesen! 
Dabei ist das Gegenteil wahr. Tatsächlich hast Du – auch abgesehen von Deinen physischen Gewalttätigkeiten - immer schon eine ungeheure Macht auf andere auszuüben verstanden, hast die Familie um Dich im Kreis gejagt, hast die Leute geschickt gegeneinander aufgehetzt, manipuliert, gesteuert und getäuscht, auch mich.
So richtig durchschaute ich das erst 2015, während Du im Spital warst. Da hatte ich eine Unterredung mit Deinem Psychiater.
Und da erfuhr ich von ihm, dass Du Dich bei ihm über uns beklagt hattest, - also über Deine Geschwister, gemeint waren in dem Fall dem Kontext nach Ingrid und ich. Du hattest ihm tatsächlich die unverfrorene Lüge aufgetischt, dass wir uns 2007, als Du in der Psychiatrischen Anstalt auf der Baumgartner Höhe warst, zu wenig um Dich gekümmert hätten. Und das, nachdem wir uns damals alle Haxen für Dich ausgerissen hatten!
Den Psychiater hast Du wirklich gut getäuscht. Der glaubte Dir das wirklich! Und auf einmal musste ich mich vor ihm rechtfertigen!
Was der Psychiater allerdings nicht wusste, das war, dass Du Dich zuvor ganz umgekehrt bei mir über ihn beklagt hattest! Du hattest mich in langen Tiraden angejammert, dass er sich nicht um Dich kümmere!
Und da, in diesem Moment durchschaute ich auf einmal dein Doppelspiel. Geschickt, dachte ich mir. Du hetzt mich gegen ihn auf, und gleichzeitig ihn gegen mich. Und Du selbst wirst dazwischen als der „Arme“ betrachtet, als das „unschuldige Opfer“, mit dem alle Mitleid haben müssen.
Auf einmal kapierte ich, dass Du dieses Spiel in Wahrheit schon seit jeher getrieben hast. Mit uns allen in der Familie. Bei Franz hast Du gejammert, wie böse ich zu Dir sei. Bei mir, wie böse Franz zu Dir sei. Franz war auf mich wütend, ich auf ihn. U.s.w. Und Du warst fein raus.
Du bist so ein richtiger Zwietrachtsäer, wurde mir da klar, - so ähnlich wie der überall um sich herum permanent Streit auslösende Römer Destructivus in dem Comicband „Streit um Asterix“!

***

Mittlerweile habe ich auch einen passenden Namen für Deine Art und Weise mit mir zu reden: Crash-Rhetorik.
Erst in jüngster Zeit bin ich in den Medien auf diesen Begriff gestoßen. Damit ist eine bestimmte Redetechnik gemeint, die, vor allem in politischen Diskussionen verwendet, bewusst darauf abzielt, jedes vernünftige Gespräch zu zerstören und bloß destruktiv daran zu arbeiten, den Ruf des Gegenübers zu ruinieren.
Das ist genau das, was Du machst. Es geht Dir immer nur darum, aus Prinzip dem anderen zu widersprechen und das, was er sagt, zu entwerten, als vollkommenen Unsinn hinzustellen oder über irgendjemanden herzuziehen und ihn ins Unrecht zu setzen.
Und es geht Dir immer nur darum zu beweisen, dass Du das Opfer bist und die anderen schuldig, - ganz gleich, was sie tun, ganz gleich, was Du tust.
Und dass es Dir immer schlecht gegangen und den anderen gut gegangen ist.

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Es war etwa Dir gegenüber nicht einmal möglich, den einfachen Satz zu formulieren, dass ich von der vielen Gewalt in der Vergangenheit traumatisiert sei. Ich versuchte es – und Du erklärtest mir sofort, dass das wertlos sei, was ich da sage, weil „Trauma“ eine „inflationäre Diagnose“ sei.
Ein jeder sei traumatisiert. Du bräuchtest nur den Fernseher aufdrehen, und da kämen dauernd Menschen vor, die traumatisiert wären, jeder hätte das, alle hätten das, das sei eine „Gummi-Diagnose“, die Immigranten hätten das, Du sähest das oft im Fernsehen, in vielen Familien sei das so.
So Deine Aussagen.
Als ich, vollkommen perplex und hilflos, erwiderte, das sei doch Polemik, da erwiderst Du mir: Nein, das seien Fakten, und wiederholtest: Das sähest Du dauernd im Fernsehen, das sei in vielen Familien so.
(Gespräch am 25. Februar 2013)

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Als wäre mein Trauma jetzt gegenstandslos, weil Du im Fernsehen andere Leute gesehen hast, die auch Traumata haben!
Das war in etwa die Logik, die Du mir damit verkaufen wolltest!
Was soll man auf so etwas antworten? Du verhöhnst Deine Opfer.
Du erklärst mir da seelenruhig und gelehrt, als würdest Du über den Dingen stehen, Trauma sei eine „inflationäre Diagnose“, wenn ich von meinen Leiden spreche, und sprichst mir damit letztlich meine Leiden ab - Du, derselbe Mensch, der, wenn es um seine Leiden geht, in wildesten Tönen wie ein Kleinkind herum kreischt, er habe ja Phobien, und das hätte ja von uns niemand, und keiner verstünde das, überhaupt keiner, gar keiner verstehe das, wir alle würden ja nicht verstehen, wie das sei, wir würden ja nicht verstehen, dass Du Dich ansaufen müsstest!

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Was muss man daraus für Schlussfolgerungen ziehen?
„Trauma“ ist also eine „inflationäre Diagnose“ – „Phobie“ aber nicht??
Oder vielmehr, dass Du zweierlei Maß nimmst?

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Es ist insofern tatsächlich kein Wunder, dass ich im Laufe dieser Gespräche mit Dir im Jahr 2013 eine immer größer werdende Abscheu vor Dir entwickelte.
Da habe ich erst allmählich zu durchschauen begonnen, was für ein Mensch Du eigentlich bist.
Ein Mensch, mit dem ich einfach nicht mehr kann.

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In Wahrheit, so wurde mir nun erst rückblickend klar, bin ich dieser perfiden Argumentationsstrategie schon vor 30 Jahren ganz genauso ausgesetzt gewesen. Das war im Grunde immer schon gleich.
Meine Leiden streitest Du grundsätzlich immer ab und bagatellisierst sie. Deine eigenen stellst Du als ungeheuerlich hin.
Das zieht sich durch alle Gespräche mit Dir. Seit 30 Jahren und sogar länger. 

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Oder als Du mir, ebenfalls im Zuge dieser Gespräche 2013, vorhieltest: „Du hast ja keine Probleme gehabt!!! Du hast doch nie Probleme gehabt!!! Ich habe Probleme gehabt!!! Aber was hast Du bitte für Probleme gehabt??!!“

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… Eine alles andere als originelle Rhetorik, denn schon vor 30 Jahren hat Lupus uns erklärt, dass wir „keine Probleme“ hätten, haben Franz und Ingrid, wenn sie gerade in der entsprechenden Laune waren, uns erklärt, dass wir beide, Du und ich, „keine Probleme“ hätten, hast Du mir erklärt, dass ich ja „keine Probleme“ hätte, sondern nur Du …

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… während ich fast jeden Tag von Dir geprügelt und misshandelt wurde, während ich Nervenzusammenbrüche hatte, weil ich die Schreiereien und Wutausbrüche unseres Vaters mit Klaus-Kinski-Grimasse nicht mehr aushielt, während ich tagelang depressiv im Bett lag und mich nicht mehr zu rühren vermochte – und alles in allem von all den Gewalttätigkeiten so kaputt war, dass ich noch Jahre nach meinem Auszug in Baden unwillkürlich den Arm wie zum Schutz hob, wenn mir jemand in bestimmten Situationen nahe kam, weil ich unwillkürlich das Gefühl hatte, gleich werde ich geschlagen …

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Gegen Ende unseres Gesprächs am 25. Februar 2013 teiltest Du mir außerdem noch grinsend mit, Du hättest ja Mitgefühl mit mir, Du würdest mir einen Strick geben, damit ich mich aufhänge, wenn Du einen dabei hättest …

***

So hast Du auch mit unserer Mutter geredet, als sie noch gelebt hat.
Das hat sie sogar in einem ihrer Abschiedsbriefe, der an Dich gerichtet ist, dokumentiert:

Danke für den guten Rat, ich soll beim Fenster rausspringen! Wie lieb, nicht!

Ja, mit unserer Mutter hast Du so geredet, Hermann.
Mit mir aber nicht mehr.
Es reicht.
Nach mehr als 30 Jahren psychischer und physischer Gewalt, die Du mir angetan hast, reicht es wirklich.
Ich bin fast 50, und so lasse ich nicht mehr mit mir reden.

***

Dieser Brief an Dich ist darum auch nicht als Versuch einer neuerlichen Kontaktaufnahme misszuverstehen.
Ganz im Gegenteil: Dieser Brief ist ein Abschied von Dir.
Und ich wiederhole mein Statement, dass ich die Polizei rufen werde, wenn Du mir noch einmal nahe kommst.
Ich muss mich vor Dir schützen.
Ich war lange genug Dein Opfer, ich will es nicht mehr sein.
30 Jahre sind genug.

***

Als ich diesen Brief zu schreiben begonnen habe, wusste ich zwar, dass er umfangreich, aber freilich nicht, dass er derart umfangreich werden würde.
Und dennoch ist er immer noch entsetzlich unvollständig. Dennoch fehlen immer noch ganz zentrale Aspekte unserer gemeinsamen Geschichte. Vieles habe ich nur oberflächlich gestreift.
Lupus etwa, unser eigener Vater, der kommt kaum vor, obwohl er so ungeheuer wichtig ist für alles das, was geschehen ist, und insbesondere seine unheilvolle Gestalt allem so eine verhängnisvolle Dynamik verliehen hat.
Er war der einzige Mensch, der sich Deinen Gewalttätigkeiten entgegenstellen hätte können, der einzige, vor dem Du einen gewissen Respekt und eine gewisse Furcht hattest.
Er war aber leider selber ein Psychopath. Er hat sich stattdessen selbst nur wie ein Irrer aufgeführt und mit wutverzerrter Klaus-Kinski-Grimasse getobt.  
Er hat sich zwar über alles Mögliche aufgeregt – wobei das meiste davon nur auf seinen Einbildungen beruhte. (Darin glich er Dir.)
Wegen aller möglichen Kleinigkeiten konnte er keppeln.
Weil ein Bleistift nicht im rechten Winkel lag.
Ich kann mich aber nicht erinnern, dass er irgendwann einmal ein kritisches Wort zu Dir gesagt hätte, weil Du die Mutter und mich verprügelt hast.
Das, was nötig gewesen wäre, hat er nie getan.
Das hat alles nur verkompliziert. Hätte man nur einen Irren in unserer Wohnung in der Antonsgasse toben gehabt, so hätte man vielleicht irgendwie einen klaren Umgang damit bekommen können.
Aber zwei tobende Irre, jeder auf seine Art – die Mutter und ich, wir wurden von euch in die Mangel gekommen, zwischen euch beiden eingeklemmt und aufgerieben.
Ist der Lupus am Abend gegangen und war man den endlich los, war sein unsinniges Toben vorbei, dann bist Du aus Deinem Loch hervorgekrochen und wie eine Dampfwalze über einen gerollt, kaum dass man Luft dazwischen holen konnte.
Gerade war man noch dabei, die irren Reden und Schreiereien des Vaters zu verdauen, und versuchte zu verstehen, was da eigentlich geschehen war, schon hast Du Dich vor einem aufgestellt und mit einem zu streiten begonnen, hast auf einen eingedroschen, und man war schon wieder mit dem nächsten Psychopathen beschäftigt, mit dem Film, der nun in Deinem kranken Hirn ablief.  

***

Meine eigene schwere psychische Krise, die in den Jahren nach der Matura voll ausgebrochen ist, kommt ebenfalls in diesem Brief fast gar nicht vor, obwohl sie ebenso freilich den damaligen Ereignissen eine zusätzliche, fatale Dynamik verliehen hat.

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Generell sind darum die Jahre nach meiner Matura, die Jahre 1986-1991, meiner Meinung nach die Schlüsseljahre unserer Familiengeschichte geworden. Die Familie war vorher schon schwierig, aber in diesen Jahren kam zu vieles an negativen Faktoren zusammen, das sich gegenseitig aufschaukelte und die Situation vollkommen eskalieren ließ.
Die Mutter wurde immer schwächer und brach eigentlich nur mehr zusammen. Ich, der ich bis zu diesem Zeitpunkt, bis zur Matura, als einziger in der Familie zu „funktionieren“ schien, verlor ebenfalls plötzlich den Boden unter den Füßen.
Und im Gegenzug nahmen sowohl Deine als auch Lupus‘ Aggressionen und Gewaltausbrüche immer wildere und schließlich vollkommen ungezügelte, exorbitante Formen an, ohne dass sich irgendjemand euch beiden entgegenzustellen in der Lage war.
Hinzu kamen die unseligen Einmischungen von außen, unserer älteren Geschwister, Franz und Ingrid, die letztlich kaum hilfreich waren, sondern ebenfalls nur zur Eskalation beitrugen.
Wir wissen, worauf alle diese zunehmende familiäre Gewalt schließlich gipfelte: im Selbstmord unserer Mutter.

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Und dann gibt es auch noch die fragwürdige Rolle, die Gerichte, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, psychiatrische Anstalten, Sozialarbeiter und so weiter bei all dem spielten.
Auch dieser Aspekt ist nun in meinem Brief zu wenig beleuchtet. Die Vertreter der Institutionen haben in diesen Jahren vor allem durch eine vollkommene Inkompetenz geglänzt.
Bei einigen handelnden Personen kamen ihre Anmaßungen und ihre gewaltige Selbstüberschätzung noch dazu.
Allein wenn ich an diesen unsäglichen, gänzlich ahnungslosen Bezirksrichter Racz denke, der zuerst große Töne gespuckt und uns alle mit seiner großspurigen Ankündigung verwirrt hat, dass er Dich unter Sachwalterschaft stellen und in ein Heim zwangseinweisen lassen würde – noch bevor er Dich selbst überhaupt zu Gesicht bekommen hatte!
Und dann, als er Dich zum ersten (und letzten) Mal persönlich gesehen hat, ist er auf einmal um 180 Grad geschwenkt und hat unserer Mutter erklärt, Du seist vollkommen gesund, er kenne sich da aus, er sei psychologisch geschult – und er sehe mit einem Blick, Dir fehle gar nichts, Du seist einfach nur „faul“ !
Das ist ja schon verbrecherisch. Der Mann hätte ja selbst schon verklagt gehört für den Unsinn, den er angestellt hat.
Allerdings muss man freilich in Rechnung ziehen, dass Du Dich, wenn es darauf ankam, immer glänzend verstellen konntest. Du hast vor ihm gut geschauspielt. Und er ist auf Dich reingefallen.

***

Unsere dysfunktionale Familie ist letztlich unter der Last all dieser Faktoren wie unter einem „multiplen Organversagen“ zusammengebrochen.
Das alles kann man ja in Wahrheit gar nicht beschreiben, was damals alles geschehen ist.
So wirr, so komplex, so verrückt, so extrem, verworren, ungewöhnlich und eigenartig ist es, was damals alles geschehen ist, dass ich dem sogar in diesem Brief, so lang er auch geworden ist, in Wahrheit nicht gerecht werden konnte.
Im Vergleich zu dem, wie es wirklich war, präsentieren selbst meine Schilderungen immer noch ein viel zu geglättetes Bild.
Diese Dinge, die damals passiert sind, authentisch wiederzugeben, würde ein literarisches Geschick erfordern, über das ich nicht verfüge.
Das kratzt auch an den Grenzen der Sprache. All die Intensität, all der Irrsinn, diese ganz eigene psychische Welt, in der wir als Familie damals miteinander gelebt haben, das ist kaum zu beschreiben.

***

Natürlich bist auch Du in diesem Brief einseitig gezeichnet. Natürlich sagt er auch über Dich nicht die ganze Wahrheit und wird der Komplexität und dem Facettenreichtum Deiner kranken Persönlichkeit nicht gerecht.
Du bist ein verbrecherischer Psychopath. Du bist ein gewissenloser Gewalttäter. Aber Du bist doch nicht nur das.
Ich hätte genauso ganz andere Geschichten über Dich, über uns beide, erzählen können, die ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil unseres gemeinsamen Lebens waren. Ich hätte von ganz anderen Arten von Erlebnissen mit Dir berichten können, die den hier von mir geschilderten manchmal fast zu widersprechen scheinen.
Episoden, die Deine Feinfühligkeit und Gutherzigkeit belegen, Dein Mitleid, Dein Mitgefühl, ja, Deinen Charme und Deine Sensibilität.
Ich hätte beispielsweise unsere gemeinsamen ausgedehnten romantischen Spaziergänge, Radtouren und Wanderungen erwähnen können, die wir beide als Heranwachsende zusammen beinahe täglich oder jedenfalls mehrmals wöchentlich unternommen haben. Diese ungeheure Beziehung, die wir beide zur Natur hatten. Oder unsere gemeinsamen Waldläufe am Donau-Pacour.
Das war ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens, das haben wir miteinander geteilt, und das hat uns ungeheuer stark verbunden.
Du bist doch schließlich auch der Zwillingsbruder, mit dem ich als Kind gespielt habe, mit dem und mit Sabine zusammen ich bei den Lassingers am Bauernhof „Heuhupfen“ gespielt habe und am Traktor gesessen bin, wenn der Pepi auf das Feld gefahren ist.
Du bist doch auch der Bruder, der mich so viel über Musik oder Bildende Kunst gelehrt hat, der Bruder, der sich selbst Geige spielen beigebracht und gemalt und gezeichnet hat, der Bruder, der mich immer auf besondere Filme aufmerksam machte.
Hätte ich ohne Dich jemals ein Interesse für Jimi Hendrix, die Rolling Stones oder Italo-Western und Musik von Ennio Morricone entwickelt?
Du bist der Bruder, mit dem zusammen ich halbe oder manchmal auch ganze Tage im Wald umherstreunte, wir beide dabei fast schon eins mit der Natur werdend, wir beide ganz einsam und allein im Wald, abgetrennt von der übrigen Menschheit.
Wir hatten doch nur uns zwei, wir hatten nur einander.
Wir haben so viel miteinander geteilt.
Diese Erlebnisse mögen der Grund für die ungeheure Bindung zu Dir sein, die ich mein Leben lang verspürt habe, trotz all Deiner Gewalttätigkeiten mir gegenüber.
Deswegen habe ich Dir so viel verziehen … immer und immer wieder verziehen …
Und wenn Du anders drauf wärst, dann könnten wir jetzt, mit 50, viel mehr auf solche Dinge zurückschauen und uns über solche Dinge unterhalten.
Oder sogar immer noch gemeinsam spazieren und wandern gehen.
Aber Dein Psychopathentum hat das verunmöglicht.

***

Wie Du die Natur wahrnehmen konntest, das hat mich oft erstaunt. Obwohl Du enorm kurzsichtig warst und Dich stets eine Brille zu tragen weigertest, so dass Du kaum etwas in der Umgebung erkennen konntest, wenn Du die Augen nicht mit den Händen zu Schlitzen verzogst, – sahst und erkanntest Du dennoch seltsamerweise Dinge in der Natur, die ich noch nicht einmal wahrzunehmen in der Lage war.  
Wo ich nur nichtssagende Flecken am Horizont zu sehen vermochte, da erklärtest Du mir: „Das ist der Schneeberg, das ist die Rax, das ist die Hohe Wand.“
Wo ich nur irgendeinen Schatten durch die Luft fliegen oder am Baum sitzen sah, hast Du mir erklärt: „Das ist ein Eichelhäher.“
Oder Du hast mich auf irgendwelche Verbiss- oder Reibespuren von Rehen an Bäumen aufmerksam gemacht – wo ich gar nichts bemerkt hätte.
Noch bei einem meiner Besuch 2013 hast Du mir den Unterschied zwischen hellem und dunklem Thymian erklärt, während ich trotz all meiner Bemühungen, was über diese Dinge zu lernen, froh wäre, wenn ich überhaupt einmal Thymian als solchen mit Gewissheit erkennen könnte.
Und ich wunderte mich stets, woher Du das alles weißt.
Ich habe keine Ahnung. Schließlich bin ich mit denselben Eltern, denselben Büchern und denselben Filmen aufgewachsen wie Du.
Du hast ein Verständnis für die Natur, das mir fehlt.
Wie Du auch immer das Wetter und die Wolken studieren und die Phänomene benennen und erklären konntest.
Das hatte für mich stets etwas ganz Wunderbares.

***

Wir haben manchmal auf primitive Weise bloß um eine Dose Bohnensuppe miteinander gerauft und uns geprügelt, wer die nun essen darf.
Du warst da gelegentlich ungeheuer grausam und hast mich sogar verspottet, wenn ich krank war und mir selbst nichts zu essen einkaufen konnte.
Aber Du warst nicht nur ein Monster. Andererseits hast Du dann auf einmal Anwandlungen gehabt, wo Du für mich eingekauft, gekocht und mir etwas ans Bett serviert hast.
Oder sogar unserer Mutter.
Du warst mir gegenüber zwar schwerstens gewalttätig.
Aber dennoch konntest Du mich dann in bestimmten Augenblicken plötzlich gegen die Feindseligkeiten eines anderen mit einer Vehemenz verteidigen, die überraschend für mich war.
Ich war Dir keineswegs egal.
Ich hätte in dem vorliegenden Brief etwa auch ausführlich eine Episode nacherzählen können, wo Lupus mich mit einer derartigen Wucht ins Gesicht schlug, dass ich aus der Nase blutete.
Als Du davon erfuhrst, gingst Du wütend auf ihn los und schriest ihn an: „Meinen Bruder schlägst Du nicht!“
Bei einer anderen Gelegenheit nahmst Du mich vor Franz in Schutz. Als ich eine Augenverletzung vom Tennisspielen hatte, das Badener Krankenhaus sich für unzuständig erklärte und darüber diskutiert wurde, ob Franz mich mit dem Auto nach Wien fahren könnte, er aber sich diese Mühe nicht machen wollte – da hast Du gewaltig mit ihm am Telefon gestritten!
Oder wenn ich daran denke, wie ich fror, als wir 1996 bei unserer Fußwanderung nach Mariazell auf etwas größerer Seehöhe übernachteten, und Du mir ganz selbstlos Deine Decke abgabst …

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Leider verstandest Du es in der Regel, diese wunderbaren Momente aufkeimender Solidarität mit mir auch sofort wieder selbst zu zerstören, noch bevor sie irgendwelche Früchte hätten tragen können.
Die Auseinandersetzung mit Lupus war noch kaum vorüber, da hast Du selbst wieder auf mich eingedroschen, dass mir Hören und Sehen vergangen ist – nur weil ich ein falsches Wort gesagt hatte.
Und ungeachtet Deines Eintretens für mich gegenüber Franz am Telefon hast Du mich mehr oder weniger gleichzeitig daneben geohrfeigt, obwohl ich ohnehin die Augenverletzung hatte.

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Man darf sich also angesichts solcher Vorkommnisse nicht über meine eigene vollkommene Verwirrung und moralische Verwahrlosung verwundern, die ich ja mehrmals in dem Brief angesprochen habe. Ich war nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, wo gut und böse ist und zu wem ich halten soll und zu wem nicht.
Du hast die Mutter und mich geprügelt, die Mutter andererseits hat wieder zu Lupus gehalten … wie hätte ich mich da noch auskennen sollen?

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Was alles hätten wir beide nicht zusammen im Leben schaffen können, wenn wir zueinander gehalten hätten, wenn Du nicht dem Wahnsinn verfallen wärst, wenn Du in Deiner Paranoia nicht auf die fixe Idee verfallen wärst, in mir einen Feind zu sehen, wenn Du nicht dieser Religion des andauernden sinnlosen Hasses und der Gewalttätigkeit anheimgefallen wärst, die unser Vater wie ein Gift in unserer Familie ausgestreut hat und die Du in Dich aufgesogen hast …

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Irgendwann machte es mir ja auch keine Freude mehr, mit Dir wandern und spazieren zu gehen, irgendwann nahm ich ja dabei auch nichts mehr von der Natur wahr, weil Du immer über irgendetwas sudern und keppeln musstest, weil Du immer mit mir über irgendetwas streiten musstest, weil es nie entspannt sein konnte.
Schließlich beherrscht Dich immer nur der Hass. Der Hass auf alles und jeden. Du hasst die Menschen, Du hasst das Leben, Du hasst Dich selbst.

***

Vor zwei Jahren war ich bei einem Konzert von Ennio Morricone und habe ihn live in der Wiener Stadthalle gesehen, aus allernächster Nähe.
Ein eindrucksvolles Erlebnis.
Wenn Du nicht so drauf wärst, wie Du drauf bist, hätten wir das auch zusammen anschauen und miteinander teilen können.
So aber war das unmöglich …
Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, Dir irgendetwas davon zu erzählen.
Und ich wette sogar, wenn ich das getan hätte, hättest Du es irgendwie in den Schmutz gezogen und Dich darüber lustig gemacht.
So ähnlich war es ja auch, als ich Dir 2013 erzählte, dass ich zum Konzert von Paul McCartney gegangen war.
„Was, zu der Schwuchtel?!“ war sogleich Dein höhnischer Kommentar.  

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Der „andere“ Hermann, der darum nicht mehr vorkommen kann, der gefühlvolle, musische und gutherzige Hermann - der findet jetzt zwar am Schluss immerhin noch Erwähnung in diesem Brief, konnte aber nicht wirklich sein Thema sein.
Das ist ein Hermann, den es praktisch nicht mehr gibt, den hast Du ausgelöscht, der hat gegen Dich verloren.
Du hast mir nur mehr jenen Hermann über gelassen, über den ich nun die meiste Zeit in diesem Brief geschrieben habe: Den gewalttätigen, den verrohten Hermann – den Horror-Hermann.

***

Es ist diesem Brief nicht anzusehen, unter welchen großen persönlichen Schmerzen er geschrieben wurde.
Noch gewaltiger waren aber die während des ganzen Prozesses der Ablösung von Dir in den vergangenen Jahren.
Ich glaube, der Bruch zwischen uns hat mit Deiner Einlieferung in die Psychiatrische Anstalt auf der Baumgartner Höhe im Jahr 2007 eingesetzt. Trotz aller erbitterten Streitereien und schweren Gewalttätigkeiten zwischen uns war bis dahin doch immer noch die Bindung zwischen uns stärker als das Trennende.
Aber mit den Auseinandersetzungen rund um Deine Zwangseinweisung änderte sich das. Seither misstraust Du mir zutiefst und siehst mich als Teil einer gegen Dich gerichteten Verschwörung.
Als ich Dich 2015 im Spital besucht habe, in das ich Dich neuerlich mehr oder weniger gegen Deinen Willen bringen ließ, hat mich ja immer noch das Mitgefühl gepackt. Es hat ungeheuerlich geschmerzt, Dich so zu sehen, zu sehen, was aus Dir geworden ist, aus dem Zwillingsbruder, mit dem ich so viel geteilt habe, mit dem zusammen ich aufgewachsen bin und zusammen gelebt habe, aus dem Menschen, dem ich so nahe war wie sonst niemandem.
Aber ich mache mir keine Illusionen mehr. Der Bruch zwischen uns ist nicht mehr zu kitten. Dafür bin ich jedoch nicht verantwortlich. Ich habe immer zu Dir gehalten. Und ich habe Dir alle Chance der Welt gegeben. Wieder und immer wieder.
Auch wenn Du es nicht so wahrgenommen hast.
Es gab eine Zeit, da hätte ich alles für Dich getan – und manchmal habe ich auch alles für Dich getan!
Aber nach und nach hast Du es geschafft, diese ungeheuren starken brüderlichen Gefühle für Dich zu zerstören.
Je mehr ich mich wiederum mit unserer länger zurückliegenden Vergangenheit beschäftige, desto mehr steht außerdem unsere tote Mutter zwischen uns.
Nicht allerdings allein der Dinge wegen, die Du ihr in der Vergangenheit angetan hast. Sondern auch weil Du jetzt noch ohne jeden Respekt von ihr redest, wie von einem Stück Dreck.

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Du hast mit Deinem Wahnsinn mein Leben zerstört. Nun, nicht ganz, aber doch einen großen Teil davon. Das der Mutter ohnehin. Und nicht zuletzt natürlich auch Dein eigenes.

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Obwohl Du auch früher schon, wie ich geschildert habe, zu absoluten Grausamkeiten fähig warst, habe ich aufgrund der – zugegebenermaßen spärlichen – Begegnungen zwischen uns in den letzten Jahren außerdem das Gefühl, dass Du im Vergleich zu damals zusätzlich emotional verkümmert, abgestumpft und verroht bist.
Das ist auch nicht schwer zu erklären. Wenn man jahre- und jahrzehntelang in einer solchen absoluten Isolation wie Du lebt, gänzlich ohne Freunde, ja überhaupt ohne irgendwelche menschliche Beziehungen, und sich immer nur niedertrinkt bei der geringsten Regung von unangenehmen Gefühlen, ist das Ergebnis zwangsläufig ein fortschreitender psychischer Verfall.  
Du habest 5 Jahre lang mit keinem Menschen gesprochen, teiltest Du mir 2013 (2014?) mit, als Du nach einer längeren Pause wieder den Kontakt mit mir suchtest.
Das ist schon sehr drastisch.
Es mag auch etwas mit Deinem erzwungenen Auszug aus Baden im Frühjahr 2000 zu tun haben. In den 90ern ist es Dir jedenfalls besser gegangen. Da hast Du auch noch weit mehr unternommen. Da hast Du kurzfristig sogar gearbeitet und mit mir noch Wanderungen gemacht, ja, sogar eine zweite Interrail-Reise (1993).

***

Manchmal denke ich mir, Du bist gar nicht mehr mein Bruder. Du bist nicht der Bruder, mit dem ich aufgewachsen bin. Das bist gar nicht Du.
Du bist ein Dämon, der in meinen Bruder gefahren ist.
Ja, ich weiß sehr gut – dieser böse und irre Hermann, den ich da jetzt in diesem Brief beschrieben habe, das ist nicht der ganze Hermann.
Aber dieser böse und irre Hermann, der hat leider immer mehr die Oberhand über Dich bekommen – und am Schluss über Dich gewonnen.  
Dämon, gib mir meinen Bruder zurück!


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Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass ich das alles gar nicht mehr ernst nehmen sollte, was Du sagst oder tust, und erst recht sollte ich es gar nicht irgendwie persönlich nehmen, - selbst wenn Du unsere Mutter verhöhnst, mich beschimpfst und mir gegenüber gewalttätig bist.
Du bist nicht nur ein Alkoholiker, sondern auch ein psychisch schwer kranker Mensch, und als einen solchen sollte ich Dich ansehen. Und deswegen sollte ich mich wegen nichts mehr bei Dir aufregen.  
Aber diese emotionale Distanz habe ich nicht zu Dir.
Deswegen ist es auch gut, dass Du jetzt von fremden Leuten betreut wirst, die diese emotionale Distanz zu Dir haben.

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Denn wenn vielleicht auch wahr ist, dass Du so schwer krank bist, dass Du nicht verantwortlich bist für das, was mit Dir los ist – ich bin es auch nicht.

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Bist aber Du aber wirklich so schwer krank, dass Du ohne jede Verantwortung für das bist, was Du unserer Mutter und mir angetan hast beziehungsweise immer noch antust? Bist Du wirklich nicht zur Rechenschaft zu ziehen?
Immerhin hast Du Dich ja erfolgreich gegen alle Anträge auf Sachwalterschaft behauptet. Das bedeutet also, dass Du trotz Deiner schweren Persönlichkeitsstörung sehr wohl uneingeschränkte Verantwortung für all Dein Handeln trägst!

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Das ist keine abstrakte Frage. Schließlich habe ich mehrfach in diesem Brief von einem „Mord“ gesprochen und Dich als „Verbrecher“  bezeichnet.
Das meine ich auch so! Und das sage ich jedem und in aller Öffentlichkeit!
Du bist nicht weniger ein Verbrecher als beispielsweise ein Josef Fritzl.  
Der leidet bekanntlich auch an einer schweren Persönlichkeitsstörung – ist aber nichtsdestoweniger zurechnungsfähig und juristisch schuldig für seine Taten.
Irgendwo auf dieser Ebene würde ich Dich einordnen.
Als mir das im Zuge der Lektüre meiner alten Tagebücher bewusst geworden ist, ist natürlich auch die Frage für mich aufgetaucht, ob es nicht möglich, oder ob es nicht sogar meine Pflicht wäre, zur Polizei zu gehen und Dich anzuzeigen oder mir einen Anwalt zu nehmen und Dich der Verbrechen wegen, die Du vor 30 Jahren begangen hast, anklagen zu lassen.
Und Deine tätlichen Angriffe gegen mich ziehen sich ja wie gesagt sogar in die jüngere Vergangenheit.
Das sind alles strafrechtlich relevante Delikte, für die ich Dich zur Verantwortung ziehen könnte – und vielleicht auch sollte.
Diese ungeheure Leidensgeschichte unserer Mutter, die von unserer Familie seit Jahrzehnten totgeschwiegen wird, sowie Deine Gewaltverbrechen gehören endlich ans Tageslicht, und Du gehörst endlich dafür zur Verantwortung gezogen, ja die ganze Familie gehört dafür endlich zur Verantwortung gezogen.
All dieses Leiden gehört endlich gesühnt und geahndet.
Lupus ist tot. Aber Du lebst noch. Du bist noch greifbar.

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Meine Mitschuld am Tod unserer Mutter, für den ich ja ebenfalls mit zur Verantwortung gezogen werden könnte, ist es nicht, die mich davon abhält, diesen Schritt tatsächlich zu setzen.
Wenn dafür das, was damals geschehen ist, endlich den Raum bekommen würde, der ihm zusteht, wenn dafür endlich die Verbrechen, die damals geschehen sind, zur Sprache kämen und Sühne erhielten, dann wäre es mir das wert.
Nein, das ist es nicht, was mich davon abhält.
Meine Bedenken sind anderer Natur.
Die damaligen Taten sind verjährt. Das Einzige, was nach einem solch langen Zeitraum nicht verjährt ist, das wäre Mord. Für mich ist das zwar Mord, was damals mit unserer Mutter gemacht wurde. Nur bin ich mir darüber im Klaren, dass mir darin kein Staatsanwalt folgen würde.
Darüber hinaus habe ich aber auch kein sonderliches Vertrauen in die Justiz und weiß, dass ein Gerichtsaal keineswegs der Ort ist, um irgendwelche tieferen „Wahrheiten“ zu enthüllen und das aufzuklären, was „tatsächlich“ geschehen ist. So laufen Gerichtsverhandlungen nicht ab. Das geschieht höchstens in Film und Fernsehen so.
Das, was damals, vor 30 Jahren, in unserer Familie passiert ist, ist äußerst komplex und verworren und für einen Außenstehenden kaum zu begreifen. (Für die Innenstehenden genauso schwer, nebenbei.)
Was da wirklich passiert ist, das kann heute keiner mehr objektiv klären.
Sicherlich, es gäbe meine Aussage und meine Tagebücher. Aber es bräuchte schon ein außerordentlich fähiges juristisches und psychologisches Personal, das gewillt sein müsste, sich ganz profund mit unserer Familiengeschichte auseinanderzusetzen.
Deine Gewaltakte sind ein Faktum, aber wie soll ich sie 30 Jahre später beweisen?
Jeder von uns Geschwistern würde dem Gericht eine ganz andere Version der Ereignisse auftischen.
Aber selbst wenn ich das alles durchstehen und Erfolg haben würde – was würde es wirklich bringen, wenn Du ins Gefängnis oder in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher kommen würdest?
Das Leben der Mutter kann damit nicht mehr gerettet werden.
Was jedoch mein Rachebedürfnis betrifft – bestraft hast Du Dich selbst am allermeisten, mehr, als das ein anderer je könnte, durch Deinen Lebenswandel.
Und es ist auch offensichtlich, dass Du nicht mehr lange leben wirst.
Deine schlimmsten Feinde waren schließlich nicht andere, auch wenn Du das immer geglaubt hast. Dein grausamster, wahnsinnigster Feind warst immer Du selbst.

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Sehr wohl behalte ich mir allerdings vor, diesen Brief Freunden zu zeigen oder online zu stellen oder anderweitig zu veröffentlichen.
Schließlich ist das vorliegende Schreiben ein Dokument. Ein Beleg unserer grausamen Familiengeschichte und eine Art Beweisstück für bislang zu Tode geschwiegene Verbrechen und strafrechtlich relevante Handlungen.

***

Selten, aber doch, kommt es noch vor, dass ich davon träume, dass wir wieder zusammen im Mariazellerland spazieren gehen. Ja, manchmal wünsche mir nichts sehnlicher als das!
Es ist ein unerfüllbarer Traum.
Du würdest wieder Zähne fletschen und auf mich einschlagen, und ich müsste mich wieder mit Dir balgen, und mit 50 Jahren wird das langsam etwas unwürdig.
Und ich müsste mir wieder jede Menge von Schimpfereien, Lügen und Verdrehungen sowie Deine gehässigen Reden über die Mutter anhören, - und anders als früher könnte ich darüber nicht mehr hinwegsehen.
Denn inzwischen habe ich zu viel von Dir begriffen. Und es ist inzwischen in mir ein Ekel vor Dir vorhanden, den ich früher nicht gekannt habe.

***

Die nüchterne Wahrheit ist – fernab solcher Träume und Sehnsüchte – die, dass wir froh sein können, wenn wir unsere Leben zu Ende führen, ohne dass einer von uns den anderen erschlägt!
Das wäre schon viel, das wäre schon eine großartige Leistung, das wäre schon ein toller Erfolg!
Aber irgendetwas darüber hinaus, irgendein Wiedersehen oder gar eine Versöhnung, das ist, so wie die Dinge liegen, undenkbar!
Dafür ist einfach zu viel passiert!

***

Ich mache mir ja auch keine Illusionen darüber, wie dieser Brief bei Dir ankommt und was Du Dir darüber denkst.
Ich habe schon früher die Kommunikation mit Briefen versucht, und das Ergebnis war jedes Mal ernüchternd.
Entweder Du hast meine Schreiben gar nicht gelesen oder alles, was drin gestanden ist, mit wenigen Worten als „kalten Kaffee“ oder „gestört“ abgetan.
Der vorliegende Brief wird diese Note schon aufgrund seiner Länge von Dir erhalten, das weiß ich.
Ich sehe Dich ja so richtig plastisch vor mir, wie Du ihn da in der Hand hältst und Dir kopfschüttelnd denkst: „Das ist ja vollkommen gestört! Das ist ja vollkommen geisteskrank! Ein solch ein Spinner! Ein solcher Trottel!“

***

Ich kenne Deine Reaktionen, die stets die gleichen sind, was immer ich sage. Es ist Nonsense, Unsinn, Quatsch, Geschwätz, Geschwafel, ich bin ein Trottel, ein Gestörter, ein Spinner, ein Arschloch … beliebige Schimpfwörter oder sonstige abwertende Wendungen einsetzbar.
Ich kenne all Deine Reaktionen, lieber Hermann, die stets die gleichen sind, was immer ich sage, seit Jahrzehnten!
Jahre- und jahrzehntelang habe versucht, mit Dir irgendwie zu kommunizieren. – Ich bin immer wieder gegen dieselbe betonharte Wand geprallt!
Wenn ich daher ganz einfach nichts gesagt habe, war es Dir aber auch nicht recht.
Wenn ich jedoch etwas gesagt habe, habe ich in Deinen Augen nur den neuerlichen Beweis geliefert, dass ich „der Gestörte“ bin!
Und dann hast Du manchmal gleich auf mich eingedroschen!
Jahre- und jahrzehntelang bin ich Dir trotzdem hinterher gelaufen, wie ein Vollidiot!
Weil ich geglaubt habe, es müsse doch irgendeinen Weg geben, Dich so weit zu bringen, dass Du mir zuhörst, dass Dich das, was ich sage, erreicht und dass irgendwann einmal ein normales Gespräch zwischen uns möglich ist!
Mehr wollte ich ja nicht!
Einmal (25. Februar 2013) habe ich mich sogar so weit erniedrigt, Dir Geld in die Hand zu drücken, dafür, dass Du mir ruhig zuhörst und mich endlich einmal ausreden lässt (etwas, was ich schriftlich vorbereitet hatte)!
Ich habe geglaubt, wenn wir uns ausnahmsweise nicht im raschen verbalen Schlagabtausch verlieren, sondern ich einmal dazu komme auszureden, dann muss es doch für Dich nachvollziehbar sein, was ich sagen möchte!
Das Ergebnis dieses Experiments war ernüchternd und traurig.
Ich wollte Verständigung zwischen uns. Du aber hast hämisch das Geld eingesteckt, hast Dich natürlich darüber diebisch gefreut, hast mir zwar gezwungenermaßen zugehört (konntest allerdings dabei das Grinsen, als wäre es der allergrößte Unsinn, was ich da vortrage, nicht unterdrücken) – nur damit Dein Urteil nachher genauso vernichtend war wie eh und je, Du mich augenblicklich, nachdem ich zu Ende war, mit Spott und Hohn übergossen und für irrenhausreif erklärt hast – und wir erst recht wieder in der üblichen Manier zähnefletschend miteinander gestritten, uns angeschrien und uns raufend im Schnee gewälzt haben, auf die erbärmlichste Weise!

***

Nein. So etwas mache ich nicht mehr. Auf Verständigung ist dieser Brief nicht mehr aus. So dumm bin ich nicht mehr.
Inzwischen erwarte ich mir gar nichts mehr von Dir. Ich erwarte mir nicht einmal, dass Du diesen Brief überhaupt liest und bis zu dieser Stelle kommst.
Aber selbst wenn. Ich mache mir nicht mehr die geringsten Hoffnungen, dass Dich irgendetwas von dem erreicht, was ich hier geschrieben habe.
Du bist ein Mensch, der auch schon zu weit gegangen ist im Leben. Du bist so weit, dass Du gar nicht mehr zurück kannst. Würdest Du Dir auf einmal eingestehen, was Du alles angerichtet hast, würdest Du auf einmal begreifen, was für Verbrechen Du begangen hast, – Du könntest das ja gar nicht aushalten.
Nein, die Zeiten sind vorbei, wo ich mit Dir etwas aussprechen zu können glaubte.
Deine psychische Störung ist zu groß für ein vernünftiges Gespräch, das ist mir inzwischen klar. Du bist auch gar nicht therapierbar. Das hätten die Ärzte uns schon damals, als Du 14 Jahre alt warst, mitteilen sollen!
Nein, Hermann, es ist mir vollkommen scheißegal, was Du von diesem Brief denkst.
Es ist mir inzwischen wirklich wurscht!
Und ob ich jetzt 3 oder 30 oder 300 oder 3000 Seiten geschrieben hätte, – Dein Urteil wäre doch immer das gleiche gewesen.
Jahre- und jahrzehntelang habe ich irrtümlicherweise geglaubt, ich trage die Verantwortung für Dich, oder ich sei schuld daran, dass unsere Gespräche scheitern, und ich müsse etwas an mir ändern!
Jahre- und jahrzehntelang habe ich mich darum auch von Dir Psychopathen manipulieren, unterdrücken und in die Irre leiten lassen.
Damit ist jetzt Schluss.
Ich erwarte gar nichts mehr von Dir! Außer dass Du stirbst, um es so radikal auszudrücken!

***

Nein, ich schreibe den Brief gar nicht für Dich – sondern für mich! Ganz egoistisch!
Ich musste mir das alles von der Seele schreiben, es loswerden.
Bevor es zu spät ist …
Bevor es Dich nicht mehr gibt …
Aber auch unserer toten Mutter war ich diesen Brief schuldig.

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Aber ich erwarte mir keineswegs irgendein Verständnis oder Mitleid von Dir, weder mit der Mutter noch mit mir. Das alles habe ich mir früher gewünscht, jetzt nicht mehr. Darum schreibe ich das nicht. Ich will Dich von gar nichts mehr überzeugen und Dich zu nichts mehr bringen. Für Dich ist der Brief Geschwätz und Geschwafel, ich weiß. Und Du würdest mir alles widerlegen können, daran zweifle ich nicht.

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Ich schicke ihn Dir. Das ist mir wichtig. Was Du aber damit machst, das ist Deine Sache. Die Verantwortung trägst Du.
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Ich weiß, Du hältst den Brief für blöd und für zu lang. Es ist aber mit Sicherheit besser, seine seelischen Probleme so zu bewältigen, als indem man sich zu Tode säuft, so wie Du das gerade tust …

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Ich habe allerdings keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, wenn es wirklich einmal mit Dir zu Ende geht.
Und das kann durchaus bald sein.
Ich weiß nicht einmal, wie ich an Dein Krankenbett treten könnte.
Du würdest mich noch an Deinem Sterbebett wütend und hilflos machen, und wir beide würden selbst noch dort miteinander streiten, aufeinander einhauen und einander würgen.
Das hört sich zwar witzig an, ist es aber ganz und gar nicht.
Das alles wird schrecklich werden, ganz schrecklich.

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Und unsere Familie ist ja derart zerstritten, dass ich mir schon gar nicht vorstellen kann, wie wir überhaupt Dein Begräbnis organisieren. Zwischen uns drei restlichen Geschwistern ist nicht einmal irgendein Gespräch möglich. Ich will die beiden älteren Geschwister im Grunde auch gar nicht sehen.
Ganz zu schweigen von der Frage, wo und wie man Dich begraben soll. Dich in das Grab unserer Mutter zu legen, das hat beinahe etwas Pietätloses, den Menschen, der ihr so viel Gewalt angetan hat und der immer noch von einem derartig kranken Hass auf sie besessen ist, ihr dann an die Seite zu legen …
Freilich, Dir ist das egal, was nach Deinem Tod mit Deinem Körper geschieht, das hast Du ja oft genug bekundet. Wie für Dein Leben übernimmst Du auch für Dein Sterben nicht die Verantwortung und lässt die anderen damit zurück.

***

Peinigend ist für mich allerdings der Gedanke, dass Du sterben wirst, ohne je irgendetwas begriffen zu haben. Weder von dem, was Du selbst anderen angetan hast, noch überhaupt, was geschehen ist.

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Es gibt so viele Dinge zwischen uns, die ich gerne einmal mit Dir ausgesprochen hätte, ohne Hass und Streit zwischen uns.
Ich hätte gerne mit Dir über so vieles von der Vergangenheit geredet, über so viele Dinge, die mich beschäftigen.
Eine Rolle spielt dabei, dass Du auch das weit bessere Gedächtnis als ich hast. Natürlich missdeutest Du vieles vollkommen, hast eine verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung, verdrehst die Sachen vollständig und tischst ganze Gebilde voll Polemik und Lügen auf.
Aber prinzipiell hast Du das bessere Gedächtnis und kannst Dich an viele Vorfälle und Details aus unserem Leben erinnern, die mir vollständig entfallen sind. Oft versuche ich mich zu erinnern, stelle aber fest, dass ich so vieles vergessen habe.
Du bist so etwas wie mein Gedächtnis oder könntest es sein.
Doch auch abgesehen davon würde ich natürlich gerne mit Dir über vieles aus der Vergangenheit reden und mich gemeinsam erinnern, diese Erinnerungen mit Dir teilen.
Schließlich haben wir so viele wichtige Dinge miteinander geteilt, ein halbes Leben haben wir zusammengeführt, und wir haben so viele Dinge miteinander erlebt, wo gar kein anderer dabei war, nur wir beide, und ich kann mit gar niemandem anderen darüber reden.

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Wie auch immer – der Traum, solche Gespräche mit Dir zu führen, das ist genauso ein hoffnungsloser Traum, wie wieder gemeinsam nach Mariazell zu fahren.
Es ist unmöglich.
Ich habe versucht, solche Gespräche mit Dir zu führen, habe begonnen, Dich über bestimmte Dinge auszufragen.
Beispielsweise habe ich Dich 2013 über die Fußwanderung 1996 nach Mariazell befragt und musste tatsächlich feststellen, dass Du Einzelheiten darüber im Gedächtnis hast, die ich vollkommen vergessen und auch nicht im Tagebuch festgehalten habe.
Sehr weit bin ich aber bei diesen Nachforschungen nicht gekommen. Wir gerieten dann doch immer ins Streiten.
Vor allem aber stellte ich dabei erstaunt fest, dass Du vieles anscheinend überhaupt komplett anders erlebt hast als ich und mir schon deswegen nicht viel weiter helfen kannst. Es ist schwierig, Dich auf die Aspekte hinzuführen, die mich interessieren.

***

Mittlerweile ist aber an solche friedlichen Gespräche zwischen uns ohnehin nicht mehr zu denken. Es ist auch schon zu vieles und zu Entsetzliches zwischen uns geschehen, als dass ein Friede möglich wäre.
Zwischen uns beiden herrscht mittlerweile zu viel Hass. Vor ein paar Jahren, vor 2013, war das noch ein wenig anders. Aber seit ich kapiert habe, wie sehr ich mich von Dir habe täuschen, manipulieren und missbrauchen lassen, bin ich nicht mehr bereit, jene Konzessionen zu machen, die ich früher gemacht habe, als ich alles von Dir in Kauf genommen habe, aus Liebe zu Dir, - als ich mich beschimpfen und sogar schlagen habe lassen, als ich dennoch zu Dir gehalten habe und als ich es zugelassen habe, dass Du schmähend und beleidigend, in den abfälligsten Worten von unserer toten Mutter geredet hast.

***

Jetzt habe ich aber – und Jahrzehnte hat es gebraucht! - endlich eingesehen, dass ich mich vor Dir schützen muss und Deinem inakzeptablen Verhalten so nicht mehr begegnen kann.
Die einzige denkbare Möglichkeit, mit so jemandem wie Dir umzugehen, ist für mich nur mehr, ihn entweder zu meiden – oder die Polizei zu rufen.
Immerhin kann ich mich damit beruhigen, dass ich keine Schuld an dieser Entwicklung trage.
Das alles war nie meine Entscheidung. Das alles war Deine Entscheidung. Ich habe es anders wollen.
Ich habe nie mit Dir gebrochen. Du hast mit mir gebrochen. Ich habe Dich nie als Feind gesehen. Du hast in mir den Feind gesehen. In Deinem krankhaften Wahn. Der Dein eigentlicher Feind war, Dein Leben lang, und niemand sonst.
Es gibt zwei Menschen, denen gegenüber bin ich in meinem Leben schuldig geworden. Dazu gehört meine Mutter. Und dann gibt es noch eine bestimmte andere Person, der gegenüber ich schuldig geworden bin.
Du zählst nicht dazu. Dir habe ich nie irgendetwas angetan. So etwas existiert nur in Deiner Einbildung.
Ich weiß, Du verdrehst gerne die Dinge und lügst, dass sich die Balken biegen, aber damit das ein für allemal klar ist: Ich war Dein Opfer! Du aber niemals meins, niemals!
So hartnäckig Du es so darzustellen versuchst, das lasse ich mir ganz gewiss von Dir nicht einreden!
Ganz im Gegenteil. Du bist ein irrer Gewalttäter, und so wie Du mich behandelt hast, würde es jeder verstehen, wenn ich nicht nur nach meinem Auszug aus Baden den Kontakt zu Dir vollständig abgebrochen hätte, sondern wenn ich Dich für Deine Taten auch vor Gericht und ins Gefängnis gebracht hätte.
Stattdessen habe ich Dir wieder und immer wieder geholfen und Dich vor Dir selbst gerettet.

***

Du bist mein Schatten, der mich mein Leben lang verfolgt und gequält hat. Nichtsdestoweniger finde ich es unendlich schade um Dich.
Du hast auch andere Seiten gehabt, wie ich oben dargelegt habe.
Und Du bist so etwas wie mein zweites Ich. Lange ist mir eine Trennung von Dir überhaupt unmöglich vorgekommen. Mein ganzes Leben ist in gewissem Sinne ein einziger, langandauernder Abnabelungsprozess von Dir gewesen.
Freilich gilt aber ebenso das Umgekehrte: Ich bin auch Dein zweites Ich.
Und wann immer Du mich beschimpft hast, wann immer Du mich als „Trottel“, „Idiot“, „Arschloch“ oder „Drecksau“ beschimpft hast, hast Du Dich selbst beschimpft.
Und wann immer Du mich geschlagen hast, hast Du Dich selbst geschlagen.
Ich weiß, dass Du in Wahrheit unter unserem ruinierten Verhältnis genauso leidest wie ich, wenngleich Du diese unangenehmen, starken Gefühle niedersäufst und verleugnest.
Du zerbrichst daran. Und Du streitest viel mit mir in Deinem Kopf, das weiß ich auch. Denn ich tue es ja umgekehrt ebenso.

***

Unsere Hassliebe, die uns ein Leben lang miteinander verbunden hat, die tiefgehende Ambivalenz unserer Beziehung, aber im speziellen Deiner Gefühle, kommt geballt zum Ausdruck in der schon erwähnten Tagebucheintragung vom 12. Februar 1988, wo ich erzähle, wie Du mich während unseres gemeinsamen Spaziergangs im Kurpark schwerstens misshandeltest und schlugst und sogar dann, als ich schon am Boden lag, mitleidlos in den Bauch tratest. (Anscheinend spielte sich diese Szene auf der Theresienwarte ab.)
Denn gerade dann, als ich mich daraufhin zum Gehen wandte, war Dir das freilich auch wieder nicht recht.
Dann sagtest Du wieder ganz herzzerreißend: „Bleib bitte da!“

***

Wie ich schon mehrfach gesagt habe: es ist angesichts solcher Vorfälle kein Wunder, dass ich damals vollkommen verwirrt war und nicht mehr zu verstehen in der Lage war, was um mich passierte und wer ich überhaupt war.

***

Am vergangenen Pfingstsonntag, am 4. Juni 2017, bin ich mal wieder nach Baden hinaus gefahren, um dort eine Stunde lang laufen zu gehen. Das tue ich nach wie vor regelmäßig.
Es war schon Abend. Gegen halb sieben fing ich am Donau-Pacour zu laufen an. Es regnete leicht.
Ich entschied mich für eine neue Route: Nach zwei normalen Runden lief ich den Steilweg über der Rodelbahn hinauf auf den Berg, an der Theresienwarte (die allerdings neu errichtet ist) vorbei und dann bis zur Hexenkreuzung, wo ich den Lauf beendete.
Von dort aus ging ich aber nicht gleich zur Rudolfshofwiese zurück, sondern schlich ungefähr 30 Meter den Weg rein Richtung Gaaden/Bettlergraben.
Irgendetwas zog mich dorthin.
Ich schaute mich um und dachte an Dich.
Ich fühlte Dich.
Wie oft wir hier gemeinsam spazieren gegangen sind. Das war unser Zuhause. Hier haben wir gelebt.
Und auf einmal der Gedanke:
„Vielleicht werden unsere Geister hier auch dann noch miteinander gehen, wenn wir beide längst gestorben sind.“

***

Dann kehrte ich um.
Als ich nun durch den Wald hinunter in den Kurpark zurück ging, war tatsächlich ein Nebel um mich. Ein großer, stiller Zauber.
Als ich dann aber über den Weinberg ging, hatte der Regen aufgehört, und stattdessen ergoss sich ein ganz eigenartiges, schönes Licht über die Landschaft.
Und im Wiener Becken stand der abgebrochene Schenkel eines Regenbogens.
Wie gerne hätte ich solche Erlebnisse wieder mit Dir geteilt, so wie wir es früher immer getan haben!


Leb wohl!






Wien, Mittwoch 5. Juli 2017,     -------------------------------------------


Kommentare

  1. Gratulation zu diesem Brief, lieber OrtwinR! Ich bin berührt und beeindruckt ob deiner gefundenen Sprache.
    Ich bin davon überzeugt, dass dieser Text Menschen mit ähnlichen Erfahrungen Trost und Zuversicht spendet. Den anderen erhellt er Verborgenes zwischenmenschlicher Abhängigkeiten.
    Danke für die Veröffentlichung!
    Dorit

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    1. Danke, liebe Dorit, für Deine Rückmeldung.
      Solche Rückmeldungen sind sehr wertvoll für mich.
      Ortwin

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  2. Guten Tag, ich war seit 13 Jahren verheiratet, als mein Mann eines Abends mit einem Scheidungspapier zum Unterschreiben nach Hause kam. Ich war verwirrt und fragte, was das Problem sei, aber er verließ wütend das Haus und blockierte mich von allen Social-Media-Plattformen , diese plötzliche Verhaltensänderung veranlasste mich, Hilfe zu suchen, als ich auf gute Zeugnisse über Dr. Ajayi stieß und beschloss, ihm meine Probleme mitzuteilen. Dr. Ajayi machte mir klar, dass mein Mann manipuliert wurde und sagte mir, was getan werden muss, um ihn zu befreien. Ich befolgte alle seine Anweisungen. Zu meiner Überraschung kam mein Mann nach ein paar Tagen nach Hause und unser Liebesleben hat sich verbessert. Dank Dr. Ajayi war meine Ehe die Rettung. Wenn Sie irgendwelche Beziehungsprobleme haben, ist Dr. Ajayi Ihre letzte Anlaufstelle. Kontaktieren Sie Dr. Ajayi per E-Mail: drajayi1990@gmail.com ODER WhatsApp/Viber: +2347084887094

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