• Brief an den Zwillingsbruder oder wie meine Mutter von der Familie in den Tod getrieben wurde
Brief an den Zwillingsbruder
oder
wie meine Mutter von der Familie in
den Tod getrieben wurde
Vorwort für die
Internet-Veröffentlichung
Den im folgenden wiedergegebenen Brief an meinen
Zwillingsbruder, den ich im Mai-Juli 2017 verfasst und auch an ihn abgeschickt
habe, erachte ich als ein so wichtiges Zeugnis der Gewaltverbrechen, die vor
ungefähr dreißig Jahren in meiner Familie geschehen sind und seither
totgeschwiegen werden, dass ich mich dazu entschlossen habe, ihn im Internet zu
veröffentlichen.
Insbesondere kreist der Brief um den
Tod der Mutter im Herbst 1990, der fälschlicherweise ihren Depressionen und
einem daraus resultierenden Selbstmord zugeschrieben wird, tatsächlich aber
nicht unabhängig von an ihr zuvor über Jahre hinweg beinahe tagtäglich begangenen
schweren Gewaltverbrechen gesehen werden kann, deren Zeuge ich war.
Der Brief umfasst 106 Seiten. Das mag
viel anmuten, ist es aber keineswegs, ja, es war in diesem verhältnismäßig kleinen
Umfang nur möglich, einen geringen und unvollständigen Ausschnitt all dessen zu
beleuchten, was in den Jahren 1986-1991 in meiner Familie geschehen ist.
Tatsächlich ist das, was in diesen Jahren
(mein Zwillingsbruder und ich waren damals um die zwanzig Jahre alt, es war die
Zeit nach meiner Reifeprüfung) in meiner Familie passiert ist, so komplex, so
wirr, oft auch so widersprüchlich, so verrückt und generell bizarr und weist
auch eine derartige Dichte auf, dass es mir in dem Brief nur gelungen ist,
einige wenige Aspekte der Geschehnisse herauszugreifen.
Vieles, was auch wichtig wäre zum
Verständnis, konnte ich darum gar nicht unterbringen. Gerade diese enorme
Dichte an Verstrickungen, andauernden Verkettungen und Verwirrungen der
damaligen negativen und irren Umstände führte zur Katastrophe, nicht viel
anders als wie multiples Organversagen in einem Körper schließlich zum Tod
führt, selbst wenn die Probleme einzeln genommen beherrschbar scheinen.
Nicht nur mein Zwillingsbruder war
ein schwerer Gewalttäter, auch der Vater war ein aggressiver Irrer und
überhaupt der Kopf des familiären Wahnsinns, die Mutter wiederum war schwach
und depressiv und hat sich äußerst verhängnisvoll und seltsam verhalten, ich
selbst aber machte damals ebenso eine schwere psychische Krise durch, die schon
ein Roman für sich wäre. Und sogar die älteren Geschwister, die gar nicht mehr
in derselben Wohnung hausten, beruhigten das Geschehen nicht von außen, sondern
trugen zur Eskalation noch bei.
Letzteres gilt leider auch für Instanzen,
von denen man sich eigentlich ganz anderes erwarten sollte: für die in die
Geschehnisse involvierten gesellschaftlichen Institutionen und deren Vertreter,
die Psychiater, Psychotherapeuten, Richter und Sozialarbeiter, die ich
ebenfalls anklage. Auch sie sind verantwortlich für das, was geschehen ist. Sie
haben durch ihre Aktionen nur Schaden gestiftet, teilweise haben sie sich von
unserem Vater instrumentalisieren lassen, und vor allem haben sie ihm und
unserer Mutter die Märchen und Verdrehungen geglaubt, die diese ihnen erzählt
haben, ohne zu begreifen, dass sie es mit zwei Menschen zu tun haben, die sich selbst
in Traumwelten befinden, die gar nichts von der Realität verstehen, in der sie
leben, und deren Mitteilungen darum ein vollkommenes Zerrbild der Wirklichkeit bieten.
Tatsächlich gibt es aber bis dato niemanden
außer mir, der überhaupt das, was geschehen ist, wenigstens annäherungsweise
auf adäquate Weise in Worte zu fassen in der Lage ist. Denn die damaligen Geschehnisse
haben die Grenze des Erzähl- und Mitteilbaren überschritten.
Auch der vorliegende Brief an meinen
Zwillingsbruder, so drastisch und extrem hier vieles für einen Außenstehenden
anmutet, stellt die brutalen, grausamen und irren Ereignisse in meiner Familie durchaus
schon geglättet dar, da sie so, wie sie unmittelbar passiert sind, gar nicht
beschreibbar wären.
Indem ich sie in Worte fasse, indem
ich sie in Begriffe schließe, kommen sie schon in einem vernünftiger anmutenden
Gewand daher, als ihnen gerecht wird, lassen sie schon den Irrsinn verblassen,
der sich damals wirklich abgespielt hat.
Würde ich aber das ausdrücken wollen,
was ich damals unmittelbar erlebt habe, so würde mir alle Sprache zerbrechen,
so wäre alles, was ich herausbringe, gänzlich kryptisch und unverständlich für
einen Außenstehenden.
Ich selbst habe Jahre und Jahrzehnte
gebraucht, um eine Sprache zu finden, die halbwegs das ausdrückt, was damals
geschehen ist.
Ein Grund dafür liegt darin, dass ich
die extreme psychische und fortwährende körperliche Gewalt, die um mich
herrschte, bis zu einem gewissen Grad gewöhnt war, obwohl sie mich gleichzeitig
traumatisierte. Für mich war das „normal“ und „alltäglich“. Ich kannte kein
anderes Leben. Wir hatten keinen Kontakt zu anderen Familien. Wir lebten vollkommen
isoliert, insbesondere in dem genannten Zeitraum von fünf Jahren. Ich hatte
keinen Vergleich und keine Vorstellung, wie es anders sein könnte. Ich hatte
niemanden, mit dem ich auf vernünftige Weise darüber reden konnte.
Schon darum fehlten mir die Begriffe
für das, was ich sah und erlebte.
Später aber, als ich allmählich zu
verstehen begann, wurden mir meine Wahrnehmungen auch gleich wieder ausgeredet.
Von den Geschwistern. Von der Tante väterlicherseits. Aber auch von
Außenstehenden, die mich eigentlich kaum kannten, mich jedoch verhöhnten oder
nicht ernst nahmen, wenn ich davon zu erzählen versuchte.
Da ich das, was in unserer Familie
geschehen war, nicht entsprechend zu verbalisieren in der Lage war, tat man
sich leicht, mir zu unterstellen, dass ich übertreibe, und meine Versuche, von
dem Geschehenen zu berichten, mit Allgemeinplätzen und Verharmlosungsformeln
abzutun. Natürlich durften dabei auch das in unserer Gesellschaft übliche Victim
Blaiming und die gängigen und allseits beliebten „Selber-schuld“-Phrasen
niemals fehlen.
Eine Schlüsselsituation stellt für
mich etwa dar, wie ich im Jahr 1990, kurz vor dem Selbstmord der Mutter, eine
Postkarte mit einem verzweifelten Hilferuf an meine ehemalige Englischlehrerin
schrieb.
Sie stimmte zwar einem Treffen zu,
verhielt sich mir gegenüber dabei aber nicht bloß verständnislos, sondern
geradezu wütend und aggressiv. Ich wurde von ihr nur als ein wehleidiger
Jammerer hingestellt. Streit gebe es doch in jeder Familie, fauchte sie mich
zornig an, und einsam sei auch ein jeder, was bilde ich mir ein, da so ein
Theater darum zu machen und zu glauben, dass etwas Besonderes daran wäre.
Sie glaubte mir nicht.
Als meine Mutter sich bald darauf infolge
der fast tagtäglich an ihr ausgeübten schweren Misshandlungen umbrachte, rief ich
meine ehemalige Englischlehrerin wiederum an. Ich dachte, das sei Beweis genug dafür,
dass das alles nicht bloß meine Einbildung gewesen sei. Sie aber schrie mich an,
das sei die Entscheidung eines jeden selbst, ob er sich umbringe oder nicht. Dann
habe meine Mutter halt sterben wollen.
Man wird also vielleicht mein
damaliges Lebensgefühl, von der menschlichen Gesellschaft vollkommen im Stich
gelassen worden zu sein, nachvollziehen können.
Selbst von Psychotherapeuten wurde
ich nicht wirklich ernst genommen. Oder jedenfalls haben sie nie wirklich die
Schwere dessen verstanden, was ich zu erzählen versuchte. Auch hier wurde ich beständig
mit denselben Beschwichtigungs- und Verniedlichungsphrasen konfrontiert, die
allgemein im Gebrauch sind.
Das hat mich oft eingeschüchtert, und
es hat darum Jahre und Jahrzehnte gebraucht, bis ich begriffen habe, dass alle
diese Leute sich irren.
Je weiter die traumatische
Vergangenheit in die Ferne rückte und ich ein „normales“ Leben und „normale“
Beziehungen zu führen begann, je mehr ich, kurz gesagt, Lebenserfahrung
sammelte, desto mehr wurde mir ja erst recht bewusst, wie irr, ungewöhnlich und
extrem das war, was ich damals erlebt hatte.
Den vorliegenden Brief verfasste ich,
weil ich im Frühjahr 2017 erfuhr, dass mein Zwillingsbruder, der ein schwerer
Alkoholiker ist, möglicherweise nicht mehr lange leben würde. Und ich wollte
noch einmal, kurz vor unserem 50. Geburtstag, die Gelegenheit nutzen, ihm etwas
zu sagen, bevor es zu spät ist, bevor es diese Möglichkeit nicht mehr gibt.
Ich entschloss mich zu der
Veröffentlichung des Briefes, als ich sah, dass ich noch niemals die ungefähr
dreißig Jahre zurückliegenden Ereignisse so gut und verständlich
zusammengefasst habe. Insbesondere ist er ein einmaliges Dokument des
unfassbaren jahrelangen Martyriums meiner Mutter.
Ich spüre die Notwendigkeit, damit
endlich an die Öffentlichkeit zu gehen. Es kommt mir vor, dass ich nicht nur
das Recht, sondern auch die Pflicht habe, davon zu berichten, soweit ich dazu
in der Lage bin. Das bin ich nicht nur mir selbst, das bin ich insbesondere
auch meiner Mutter schuldig.
Ich weiß aber nicht, was das alles
juristisch bedeutet. Ich weiß nur, dass meine nächsten Anverwandten eventuell
wegen übler Nachrede, Verleumdung, Rufschädigung und dergleichen gerichtlich gegen
mich vorgehen könnten.
Das heißt, ich begebe mich mit der
Veröffentlichung des Briefes an meinen Zwillingsbruder auch in Gefahr.
Um eventuellen Angriffen auf mich
keine Basis zu geben, aber gleichfalls um meine Angehörigen selbst vor – was ja
ebenso im Bereich des Möglichen liegt - Anfeindungen von Lesern meines Blogs zu
schützen, gebe ich in der veröffentlichten Version des Briefes nicht ihre echten Vornamen an, sondern verwende für
sie Pseudonyme:
Meinen Zwillingsbruder nenne ich „Hermann“.
Unseren älteren Bruder bezeichne ich
als „Franz“.
Unsere ältere Schwester wird als
„Ingrid“ angeführt.
Auch andere Personen, die in dem
Schreiben bei ihren Vornamen genannt werden, bezeichne ich mit Pseudonymen.
Die echten Namen der Vertreter von
Institutionen wie Ärzte, Therapeuten und Richter lasse ich stehen. Sie am
allerehesten sollten es aushalten, mit dem konfrontiert zu werden, was sie
angerichtet haben.
Ernst Berger war oder ist auch noch
ein berühmter Wiener Kinderpsychiater, der der Chef einer der beiden Stationen
im Allgemeinen Krankenhaus war, in die mein Zwillingsbruder um 1980, also als
Kind, wiederholt gewaltsam und gegen seinen Willen gebracht worden war. Offenbar
war niemand aus dem Kreis jener dort wirkenden Experten in der Lage
vorauszusehen, was es für ein ungefähr 12jähriges Kind bedeutet, regelrecht
entführt zu werden, was das für Folgen haben würde und wie sehr das erst recht die
Seele meines Bruders und die ganze Familie zerstören würde. Wann immer später
mein Zwillingsbruder mir eine Erklärung für seinen exorbitanten Hass auf unsere
Mutter gab, rangierte bei ihm ganz weit oben: dass er sie dafür verantwortlich
machte, dass er damals von den Rettungsleuten gepackt, gewaltsam in den
Rettungswagen verfrachtet, nach Wien gebracht und dort in der Klinik eingesperrt
worden war.
Eva Novotny ist inzwischen eine
renommierte Bildungswissenschaftlerin und Buchautorin. Von Anfang bis Mitte der 80er Jahre fungierte
sie allerdings als Therapeutin meines Zwillingbruders. Anstatt dass ihm das half,
richtete sie mit ihren wilden freudianischen Deutungen nur einigen zusätzlichen
Schaden an.
Bei Friedrich Racz handelt es sich um
einen Richter des Bezirksgerichts Baden bei Wien, der auf das Betreiben unsere
Vaters hin im Winter 1988/89 die Sachwalterschaft zuerst für die Mutter und
dann für meinen Zwillingsbruder anstrebte. Er war ein autoritärer und leider
von sich auch sehr überzeugter Beamter, der alles glaubte, was ihm unser Vater
sagte, einem ansonsten nicht gut zuhören konnte und nicht im geringsten
verstand, was in unserer Familie ablief. Durch sein bedrohliches Auftreten und sein
unangemessenes Verhalten hat er die Gewalt in unserer Familie nicht abgestellt,
sondern im Gegenteil nur alles eskalieren lassen.
Auch meinen eigenen Namen gebe ich richtig
an, denn der Brief enthält meine Geschichte, und indem ich mich mit meinem echten
Namen zu ihr bekenne, finde ich auch zu meiner eigenen Identität.
Desgleichen nenne ich im Titel des
Blogs den echten und vollständigen Namen meiner Mutter. Sie, die ihr ganzes
Leben lang an den Rand gedrängt gelebt hat und schließlich brutal ausgelöscht
wurde, sie, deren schreckliches Schicksal seit Jahrzehnten keine Stimme bekommen
hat, sie hat das Recht, dass sie hier endlich den Raum bekommt, der ihr
zusteht, sie hat das Recht, dass sie hier ihren vollen Namen erhält und dabei
an das erinnert wird, was ihr angetan worden ist.
Das bin ich ihr schuldig. Denn das,
was ich hier geschrieben habe, ist ihrem Gedächtnis gewidmet.
Der Leser sei allerdings noch einmal daran
erinnert, dass das Zeugnis, das dieser Brief darstellt, trotz seines Umfangs
unvollständig und auch auf seinen Adressaten, meinen Zwillingsbruder, zugeschnitten
und darum freilich schon einseitig ist.
Das Einfachste ist es hier noch, die
im Brief immer wieder zitierten Bezeichnungen „Lupus“ und „Oberin“ zu erklären.
Dabei handelt es sich um die Spitznamen unserer Eltern.
Vieles andere wird und muss
allerdings zwangsläufig für den Leser unverständlich bleiben, viele komplexe
Zusammenhänge werden ihm weiterhin verborgen bleiben.
Auch auf die Frage der Schuld wird
man hier zwar viele und sogar recht drastische Antworten, aber dennoch keine
letzte, umfassende Antwort finden.
Da der Brief an meinen
Zwillingsbruder gerichtet ist, tritt der Terror, der von unserem Vater ebenso
tagtäglich ausging, hier demgegenüber -
zu Unrecht - in den Hintergrund.
Die durchaus herausfordernde Frage nach
der Mitverantwortung der Mutter selbst an dem Geschehenen - die sie, obwohl sie
das größte (keineswegs das einzige!) Opfer der alltäglichen psychischen und
physischen Gewalt in unserer Familie war, meiner Meinung nach durchaus trägt - findet
nur einmal kurz und bloß andeutungsweise Erwähnung in dem Brief.
Dies aus gutem Grund. Ich wollte in
dem Brief an meinen Zwillingsbruder nicht den Eindruck erwecken, dass dadurch
auch nur irgendetwas von seinen massiven tätlichen Angriffen, die er tagtäglich
auf sie ausübte, und den schweren Misshandlungen, denen er sie fortwährend aussetzte,
gerechtfertigt werden könnte.
Und schließlich geht es natürlich auch
um mich selbst. Keineswegs klage ich nur die anderen an. Der Brief spricht auch
von meiner eigenen Mitschuld. Denn im Unterschied zu den anderen Beteiligten
bin ich bereit zur Einsicht in meine eigene Verantwortung.
Der vorliegende Brief ist darum nicht
nur eine Abrechnung mit meinem Zwillingsbruder und mit meiner Familie. Er ist auch
eine Abrechnung mit mir selbst.
Ich weiß durchaus, wenn vielleicht
auch noch nicht zur Genüge, dass es ein Risiko darstellt, seine persönliche
Geschichte mittels Klarnamen ins Internet zu stellen. Ich sehe nur keine andere
Möglichkeit, dem Geschehenen und insbesondere dem schrecklichen Schicksal
meiner Mutter endlich den Platz und jene Stimme in der Gesellschaft zu geben,
die ihm zustehen.
Das Risiko, dem ein solcher Blog
unterliegt, ist ein Zweifaches. Auf der einen Seite besteht die Möglichkeit,
dass ihn überhaupt niemand liest und er darum jene Öffentlichkeit, die er
anstrebt, nicht erreicht. Dann hätte der Text genauso gut zuhause in meiner
Schublade bleiben können.
Die andere Gefahr besteht darin, dass
ein solcher Blog abfällige Kommentare und Hasspostings gegen meine Verwandten
oder mich auslöst.
Das ist freilich ebenso wenig mein
Ziel. Allerdings wird schon die bloße Länge, Gewundenheit und Schwere meines
Textes einen gewissen Schutz davor bieten, dass ihn überhaupt Leute lesen, die
zu unreflektierten Reaktionen neigen.
Was ich mir wünsche, das sind Leser,
die den vorliegenden Brief an meinen Zwillingsbruder nicht bloß wie Klatsch
oder Sensation lesen, und ich will auch nicht der gängigen oberflächlichen
Empörungskultur noch ein weiteres Element hinzuzufügen.
Was ich mir wünsche, sind Leser, die
nicht der Meinung sind, dass da eben einer bloß sein „privates“ Schicksal
„ablädt“.
Stattdessen sollten sie die Reife
besitzen, um zu verstehen, dass solche Schicksale etwas sind, was die ganze
Gesellschaft etwas angeht.
Es geht bei der Geschichte, die ich
hier zu erzählen versuche, nicht um ein „tragisches Schicksal“, das irgendeine
Familie in einer österreichischen Kleinstadt einmal vor dreißig Jahren zufällig
erfahren hat.
Solche Dinge kommen nicht aus dem
Nichts. Damit überhaupt so etwas in einer Familie vorkommen kann, muss sehr
vieles andere in einer Gesellschaft nicht stimmen. Und es trägt auch immer die
ganze Gesellschaft eine Verantwortung dafür.
Eine spezielle Zielgruppe für meinen
Blog könnten Leute sein, die selbst in ähnlich gravierender Weise psychische
und physische Gewalt erfahren haben. Und die genauso wie ich erlebt haben, dass
sie damit ausgegrenzt werden, dass keiner ihre Geschichte hören will, dass man
ihnen nicht glaubt.
Und die, wenn sie die hier von mir
vorlegte Geschichte lesen, auch ihre eigene Geschichte besser verstehen und Mut
fassen, etwas davon zu erzählen.
Ortwin Rosner
Lieber Hermann,
niemand
von uns weiß, wann er gehen wird. Und niemand von uns weiß, wann der andere
gehen wird, der ihm nahesteht. Oft wird man überrascht. So wie es – wenigstens
für mich – bei unserer Mutter war.
Die
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass ich als letzter von uns Geschwistern
dran komme. Franz und Ingrid sind deutlich älter als wir beide. Aber warum
dennoch Du von uns allen vieren der Gefährdetste bist, brauche ich Dir wohl
nicht zu erklären.
Wenn
ich Dir schreibe, so nicht mehr, wie früher, aus der unsinnigen Hoffnung
heraus, dass ich Dich irgendwie ändern oder Dich zu irgendwelchen Einsichten
bewegen kann. Ich habe dabei stets das Ausmaß Deiner psychischen Erkrankung
unterschätzt.
Dazu
hast Du allerdings auch selbst beigetragen. Hast Du es doch selbst so trefflich
verstanden, einen immer wieder dadurch zu verwirren, dass Du zwischen absolut
gewalttätigen Phasen und vollkommen verrückten Dialogen, in die Du einen
verstrickt hast, dann wieder ganz vernünftig, ja, freundlich, nett und
bemitleidenswert gewirkt hast.
Du kannst Dich gut verstellen. Sehr gut verstellen. Damit
hast Du sehr viele Leute getäuscht. Auch die Fachleute.
Vielleicht ist „Verstellen“ das falsche Wort. Aber
jedenfalls hast Du sehr unterschiedliche Gesichter.
Bei
Dir stehen sehr verschiedene Persönlichkeitsanteile unvermittelt nebeneinander.
Das ist ungeheuer verwirrend für jeden, der mit Dir zu tun hat. Es ist aber etwas,
was für Borderliner typisch ist, und irgendwie musst Du darum wohl mehr oder
weniger jener Kategorie zugerechnet werden.
Eine
schwere Persönlichkeitsstörung hast Du allemal.
***
Vor
ungefähr zwei Jahren, in jenem Winter, in dem ich es geschafft habe, Dich ins
Spital zu bringen, habe ich während vieler Wochen meine alten Tagebücher
studiert, die ich nach der Matura und vor meinem Auszug nach Baden verfasst
habe, also zwischen 1986 und 1991.
Es
war entsetzlich, von all dem auch nur zu lesen.
Ich
hatte das ja schon verdrängt und teilweise vergessen, wie ungeheuer grausam und
gewalttätig Du unserer Mutter und mir gegenüber vorgegangen bist.
Wobei
das mit unserer Mutter freilich noch viel schlimmer ist als mir gegenüber.
Man
muss sich das einmal vorstellen: Beinahe jeden Tag über viele Jahre lang hast Du
eine sechzig Jahre alte, schwer kranke und depressive Frau schwerstens
misshandelt und geprügelt.
Wenn
man davon liest, gefriert einem das Blut in den Adern.
Zeitweilig
waren ihre Oberarme übersät von blauen Flecken.
Und
sie hat sich überhaupt nur mit angstverzerrtem Gesicht aus ihrem Zimmer heraus
getraut, um sich wenigstens aus der Küche ein Stück Brot zu essen zu holen.
Aber
selbst dieser kurze Weg aus ihrem Zimmer heraus war ein Martyrium für sie.
Denn
es konnte da leicht passieren, dass du dann aufgetaucht bist und geschrien
hast: „Verschwind‘, du hässliche, alte
Sau!“ und auf sie wild eingedroschen hast.
Wir
beide haben uns oft vor Dir in unseren Zimmern eingesperrt. Stundenlang, ja,
ganze Tage haben wir vor Dir eingesperrt auf unseren Zimmern verbracht. Dann
hast Du, in einigen Fällen sogar wild mit dem Messer fuchtelnd, vor unseren
Türen getobt und hast verlangt, dass wir Dir öffnen und Geld geben.
Wenn
wir das nicht getan haben, konnte es auch schon passieren, dass Du den Kater
gepackt und geschrien hast: „Gebt mir zehn Schilling, oder ich reiße dem Kater die Barthaare aus!“
Und
Du warst dann sehr wohl in der Lage, den Kater zu misshandeln, bis er miaut
hat.
Dann
hat die Mutter Dir mit verzweifeltem Gesicht endlich geöffnet. Du hast Sie
gepackt, gestoßen und gleich wieder mit zähnefletschender Grimasse zum Schlag ausgeholt.
„Gib her, Alte! Das reicht nicht!
Dafür, dass Du mich warten hast lassen, muss ich mich extra ansaufen! Ich will
mehr!“
Manchmal
hast Du auch die Hunderter aus der Mutter raus geprügelt, nur um Deine
Alkoholsucht zu finanzieren. Und es konnte überdies vorkommen, dass Du mich
dazu gezwungen hast, auf die Bank zu gehen, das frische Geld vom Konto
abzuholen und dann an Dich abzuliefern.
Wir
haben in fortwährender Angst vor Dir gelebt, in fortwährendem Schrecken und
Angst. Es war der nackte Terror, im dem wir gelebt haben.
***
Während
der Lektüre der alten Tagebücher ist mir klar geworden, dass damals eigentlich
die Polizei gerufen hätte werden müssen und Du abgeführt hättest werden müssen.
Die Polizei hätte einschreiten müssen. Heute verstehe ich das. Ich hätte zur
Polizei gehen müssen.
Du
bist ein Verbrecher, ein Soziopath, ein chronischer Gewalttäter – und ein
gewissenloser Muttermörder, dem immer noch jede Reue für seine Taten fremd ist.
Ich
selbst wollte es lange nicht wahrhaben. Aber es ist so.
Und
es ist mir auch klar geworden, dass das, was Du mit uns jahrelang getan hast,
nicht viel dem nachsteht, was Gestalten wie Wolfgang Priklopil oder Josef Fritzl
getan haben, die ihre Opfer gefangen gehalten und nach Belieben misshandelt
haben, über viele Jahre lang.
Sicher,
wir waren nicht im Keller, und theoretisch konnten wir auch die Wohnung
verlassen. De facto aber waren wir Dir ausgeliefert, de facto konnten wir Dir
nicht entkommen. Die Mutter konnte Dir nur entfliehen, indem sie sich immer
wieder nach Gugging hat einweisen lassen. Ich blieb extra oft bis spät in die
Nacht in Wien.
***
Aber
irgendwann musste man ja heimkehren. Und dann hast Du einen manchmal sofort
wieder geschlagen.
Eine
Zeit lang bist Du sogar regelmäßig mit mir nach Wien gefahren. Ich habe Dich
zum Dichowitz begleitet. Und Du mich auf die Universität.
Und
selbst da hast Du mich verprügelt. Mitten auf der Straße in Wien. Sogar nachdem
ich eine Prüfung auf der Universität hatte, zu der Du mich begleitet hattest – hast
Du mich geprügelt, so dass die Leute verwundert geschaut haben.
Auch
in Baden in aller Öffentlichkeit hast Du auf mich eingedroschen. Mitten im
Supermarkt. Einmal auch vor dem Eisenberger. Das war im gleichen Moment, als
zufällig einer meiner ehemaligen Schulkollegen vorbei gekommen ist …
***
…
Der übrigens inzwischen ein bekannter Architekt geworden ist und die
Theresienwarte neu erbaut hat. Aber das nur als Einschub. Und hast Du
mitbekommen, dass Stefan Szirucsek, der dürre Bub, mit dem wir sozusagen im
Sandkasten gespielt haben, Bürgermeister von Baden geworden ist? …
***
Doch
Du hast meine Mutter und mich nicht nur geschlagen, wann immer Dir danach
zumute war. Wir wurden auch von Dir mit voller Wucht auf den Kopf geprügelt, an
den Haaren gerissen, gewürgt, geohrfeigt, gebeutelt, geschüttelt, zu Boden
gestoßen, angespuckt, mit dem Kopf gegen die Wand gehaut und ins Kreuz
getreten.
Und
beschimpft wurden wir sowieso andauernd von Dir. Mit den ärgsten Ausdrücken.
Als
Anlass haben Nichtigkeiten gereicht. Dass wir nicht schnell genug gespurt
haben, wenn wir Dir Geld gegeben haben, ein Deiner Meinung nach falsches Wort,
oder schlicht ein Blick, der Dir nicht gefallen hat.
Oft
waren es auch nur völlige Einbildungen. Oder es reichte, dass ich in Dein
Zimmer hinein geschaut habe. Das war manchmal auch schon ein Verbrechen in
Deinen Augen.
Dabei
hast Du freilich - wie bei allem – mit zweierlei Maß gemessen.
Du
selbst bist nämlich nach Gutdünken in mein Zimmer eingedrungen und hast mich dann
als Stück Scheiße bezeichnet, wenn Dir
gerade danach zumute war, oder sonst wie gehänselt, gepiesackt, verspottet,
beschimpft, gequält und schließlich auch unter irgendwelchen Vorwänden
misshandelt und geschlagen.
Wenn
ich dann mit den Nerven fertig war und Dich flehentlich gebeten habe, das
Zimmer zu verlassen, hast Du mich nur mit großen Augen angeschaut und hast in
aller Unschuld „Wieso denn?!“ gefragt.
Oder
Du hast Unsinnigkeiten gerufen wie: „Beweis
deinen Mut, dein Beuschl soll mein Zimmer zieren!“ und mich zum angeblich
„fairen Kampf“ aufgefordert („fair“,
dass ich nicht lache, bei diesen Kräfteverhältnissen!).
Wenn
ich mich dann verzweifelt zur Wehr gesetzt habe, dann hattest Du erst recht
wieder einen Grund, mich zu verprügeln, zu würgen, zu ohrfeigen.
Oder
Du hast Dich praktisch nackt – Deine vollkommen verdreckte Unterhose war ja
völlig zerrissen – auf mich draufgelegt und hast geplärrt: „Aaaah! Schade, dass Du keine Frau bist!“ und hast hin und her
gerüttelt.
Und
dann durfte ich mir anhören, dass du 3mal, 5mal, einmal sogar 8mal am Tag
onaniert hast. Und von der „Wut“, die Du immer in den „Eiern“ hast.
Oder
Du hast meine Bücher und Comics zerrissen, weil Du fantasiert hast, ich würde Dich
schief anschauen oder über Dich lachen.
***
Andererseits
hast Du wie ein Schlosshund ganz herzzerreißend weinen können, dass es einen
erbarmt hat – aber worüber? „Ich wünsche
mir so sehr eine schöne Mutter, eine, die so schön ist, dass ich sie ficken
wollen würde!“
Und
damit hast Du allen Ernstes Deinen exorbitanten Hass auf unsere Mutter
begründet. Weil sie nicht so schön sei, dass Du sie ficken wollen würdest!
Das
war Ihr Verbrechen! Und das hast Du in vollem Ernst gemeint - und denkst Du vielleicht
immer noch so!
Damals
hattest Du diesen Film von Louis Malle angeschaut, „Herzflimmern“ aus dem Jahr
1971, in dem ein Fünfzehnjähriger mit seiner Mutter schläft – und dieser Film
hatte eine verheerende Wirkung auf Dich.
Über
eine Dauer von Wochen hat Dich dieser Film beschäftigt. Da bist Du dann in
Deinem Bett gelegen und hast auf Deine entsetzliche, vollkommen hemmungslose und
selbstmitleidige Art geheult, die typisch für Dich war und einem immer das Blut
in den Adern hat gefrieren lassen, und hast mit Dir selbst gesprochen.
Stundenlang am Stück hast Du dann
manchmal plärrend geschrien, geheult und gejammert darüber, dass Du Armer keine
so schöne Mutter hast wie der Bub in dem Film, die Du ficken wollen würdest,
und hast unsere Mutter allen Ernstes dafür angeklagt und ihr das vorgeworfen!
Hast ihr das tatsächlich vorgeworfen, als wäre das das Unglück Deines Lebens,
und als wäre sie eine Verbrecherin deswegen, weil sie nicht so schön und so
toll ist, dass Du Dir vorstellen könntest, sie ficken zu wollen!
Und
dann hast Du gefordert, dass ich Dich dafür bemitleide!
Und
freilich hattest Du dadurch auch wieder einen Grund, Dich anzusaufen. Und
nachher bist Du auf die Toilette gegangen, um Dich zu erbrechen.
Wochenlang
musste ich dieses Schauspiel miterleben.
Hinter
dieser Traurigkeit und Heulerei hat freilich bei Dir auch immer die
Bereitschaft zum sofortigen Gewaltausbruch gelauert. Du hast aus Deiner
Frustration allen Ernstes das Recht abgeleitet, die Mutter zu bespucken, zu
prügeln und sie alles in allem gnadenlos dafür zu bestrafen, dass sie keine so
schöne Mutter war, wie Du sie gerne gehabt hättest!
Wenn
ich irgendjemandem heutzutage davon erzählen würde, derjenige könnte das ja gar
nicht begreifen! Ich habe einem einzigen Menschen bisher davon erzählt, und
dieser Person hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt schon viel von all der Gewalt
und den Verrücktheiten in unserer Familie erzählt, aber diese Mitteilung hat
sie vollkommen fassungslos gemacht!
Wenn
ich dann zwar voll Mitleid, aber ganz perplex neben Dir gestanden bin und diesen
Heulausbrüchen und Hasstiraden auf die Mutter zugehört habe – dann hatte ich
freilich oft gleich selbst wieder ein paar Hiebe von Dir.
So
geschehen beispielsweise bei einem Spaziergang mit Dir im Kurpark im Februar
1988, den ich im Tagebuch dokumentiert habe.
Nur
deswegen weil ich Dir nicht genug in Dein Selbstmitleid eingestimmt habe, hast
Du auf mich eingedroschen, bis ich im Boden gelegen bin, und selbst dann hast
Du mich noch in den Bauch getreten – und
dabei allen Ernstes noch behauptet, ich hätte Dich ja viel mehr gehaut als Du
mich!
Die
irrsten und perversesten Psychospiele
hast Du mit mir veranstaltet. Das alles, das reicht wahrhaft an das heran, was
Michael Haneke in seinem Film „Funny Games“ geschildert hat, - oder nein, vielmehr
übersteigt das, was ich mit Dir erlebt habe, noch alles, was jemals in einem
Film gezeigt worden ist, so verrückt war es.
Denn
obwohl ich Dir überhaupt nichts getan hatte, obwohl Du es warst, der auf mich
eingedroschen hat, hast Du hast allen Ernstes getan, als wärst in dieser
Auseinandersetzung Du das Opfer, und
hast mich angeplärrt: „Ich leide so sehr
darunter, dass du mich nicht verstehst!“
***
Es
war vollkommen unmöglich, mit Deinem Verhalten auf eine vernünftige Weise
umzugehen. Abgesehen davon dass es mir selber damals psychisch sehr schlecht
gegangen ist – auch wenn Du mich immer nur angekeift hast: „Du hast ja eh keine Probleme!“
Tja.
Klar. Du misshandelst und verprügelst unsere Mutter und mich täglich. Aber –
ich habe keine Probleme!
Diesen
Satz hast Du mir absurderweise auch manchmal gesagt, währenddessen Du mich
gerade verprügelt hast!
Dafür
hast Du stets verlangt, dass man Deine
Probleme immer vollkommen ernst nimmst, dass man in Mitleid mit Dir zerfließt -
so absurd das auch war, was Du dabei vor einem als Deine Probleme ausgebreitet hast. Da hast Du keinen Spaß verstanden.
***
So
etwa, als Du Dir plötzlich eingebildet hast, an Hautkrebs zu leiden. Das war ein weiterer Höhepunkt in der endlosen
Serie von Züchtigungen, zu denen Du Dich berechtigt gefühlt hast.
Diese
Phase war im Sommer 1989. Da hast Du nichts gehabt, als eine kleine
Hautveränderung, einen unbedeutenden Fleck.
Aber
das war Anlass genug für Dich, Dich im Selbstmitleid
zu wälzen und von mir Mitleid zu verlangen.
„Das
ist ein Hautkrebs! Ich werde bald sterben!“ hast Du mit dem Ausdruck
vollkommener Gewissheit geschrien und hast mir vorgeworfen, dass ich nicht
genauso in Panik verfalle.
Natürlich
wolltest Du dennoch nicht zum Arzt gehen. Als ich bloß in Zweifel zog, dass es
sich bei der Hautveränderung überhaupt um Hautkrebs
handle, wurde ich von Dir gewürgt, zusammengeprügelt, in die Hoden getreten,
und Du hast Flaschen nach mir geworfen, und Teller hast Du auch zerbrochen.
Und
ich musste Dir hundert Schilling aushändigen, damit Du Deine Angst niedersaufen
konntest.
Ununterbrochen
hast Du einem ein schlechtes Gewissen eingeredet, wenn man nicht sofort pariert
hat und getan hat, was Du wolltest.
Aus
einer Tagebucheintragung:
„Er tobt und flucht, er brauche
Zigaretten zur Beruhigung und ich könne ja nicht tun, als wäre er ein Fremder,
ich sei ja schuld.“
Und
woanders habe ich geschrieben:
„Weil er heute den letzten Hunderter genommen
hat, habe ich noch keinen Bissen gegessen, während er den ganzen Tag völlt.“
Und
dann hast Du mir noch vollmundig erklärt, - ich sei „selber schuld“ daran.
Sicher.
Die anderen waren in Deinen Augen immer selber schuld, wenn es ihnen schlecht
ging. Aber wenn es Dir schlecht ging,
dann warst freilich nie Du selbst schuld, - sondern immer nur die anderen. Sogar wenn Du Dich ganz von selbst
irgendwo angehaut hast:
„Als er sich am Kasten anhaute, nahm er das
zum Anlaß, seine Wut bei mir abzureagieren und mich sehr [zu] prügeln. Ich
schrie vor Schmerz.“
Bei
dieser Tagebuchstelle erwähne ich überdies Deine „satanisch zähnefletschende Grimasse“.
Tja,
die werde ich tatsächlich meinen Lebtag lang nicht vergessen.
Und
als ich dann gewagt habe mich zu wehren, hast Du aus Rache gleich den Teller
zerbrochen, den ich soeben neu gekauft hatte, nachdem Du meinen vorigen
zerbrochen hattest.
Nachher
bin ich, ohne etwas gegessen zu haben, allein auf den Badener Lindkogel
raufgegangen.
Die
Natur war damals manchmal meine einzige Rettung.
***
Eine
eigene Bewandtnis hatte es auch mit dem Spucken. Wenn wir einmal beim Reden
versehentlich gespuckt haben, dann hast Du Dich sofort berechtigt gesehen, uns nicht
nur voll ins Gesicht zurück zu spucken, sondern uns dafür auch zu verprügeln
und zu misshandeln.
Du hast noch nicht einmal den einfachen
Unterschied zwischen einer feuchten Aussprache und dem absichtlichen Anspucken
eines Gegenübers verstanden!
Was
Du für Gewaltorgien aufgeführt hast,
nur weil Dich mal ein paar Tröpfchen von Spucke eines Gegenübers getroffen
haben! Das ist unglaublich, das gehört ja auch zu den Sachen, die mir kein
Außenstehender glaubt und verstehen kann, wenn ich ihm das erzähle!
Wie
sehr Du aber auch dabei mit zweierlei Maß gemessen hast, zeigt folgende
Tagebucheintragung aus dem Dezember 1988:
„Hermann kam ins Zimmer und spuckte
mich beim Reden an. Da er mich, wenn ICH das tue, immer verprügelt, spuckte ich
leicht zurück. Darauf packte er mich am Hals, prügelte mich und betonte auf
mein Einwenden, das[s] zwischen ihm und mir ein Unterschied sei.“
Das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
„Er wurde, wie immer, doppelt wütend,
trat mich ins Kreuz, prügelte auf meinen Kopf […] Es ist bei ihm überhaupt
nicht wie bei mir oder jemand anderen, daß ein paar Hiebe oder Rückgabe
gleichen Grades zur Befriedigung der Rache reichen. Er schlägt und schlägt und kennt keine
Grenzen.“
Durch
Dein Verhalten uferte die Gewalt freilich vollkommen aus:
„Die Oberin war inzwischen
erschienen. Ich hatte so eine Wut, daß ich in Hermanns Zimmer rannte, um eine Bierflasche
zu zertrümmern, denn ich hielt es nicht aus.
Oberin rannte mir natürlich nach und Hermann
hinterher. Er holte sie ein und trampelte buchstäblich über sie hinweg […] und
verprügelte dann mich. Die Oberin wurde dabei verletzt. Hermann: ‚Sie ist schuld.
Was war sie denn im Wege!‘ […] Ich
schloß mich ein, aber Hermann rannte allen Ernstes im Vorzimmer noch mit dem
Messer auf und ab, um mich abzustechen.
Und so, wie die Sache eskaliert,
meint er es immer ernster. Er hat immer weniger Hemmschwellen, prügelt immer
grundloser, akzeptiert immer weniger das Recht und die Gefühle des anderen,
bricht Streit vom Zaun, überdimensioniert immer mehr seine Motive, die ja nur
vorgeschobene Anläße für seine Agressionen [sic!] sind.“
„Grad hat Hermann mich eben durch die
Tür wieder als Sau beschimpft.“
Im
Folgenden zeugt diese Tagebucheintragung von meiner damaligen Unfähigkeit zu
verstehen, was mit Dir los war. Die Mischung aus ganz normalem Benehmen und
vollkommen irren Ausbrüchen verwirrte mich. Der Begriff der „Persönlichkeitsstörung“
fehlte mir damals noch:
„Dabei ist er zwischendurch untertags ganz
normal und ruft mich wie gewöhnlich oft zum Fernseher, wenn er glaubt, es sei
was Besonderes, damit ich nichts versäume.“
„ … er redet doch untertags
vernünftig.“
***
Das
alles ist freilich nur ein kleiner Querschnitt aus dem Meer von
Gewalttätigkeiten, die in meinen Tagebüchern dokumentiert sind. Und er zeigt
wahrscheinlich noch nicht einmal Deine grausamsten Ausbrüche. (Abgesehen davon
dass der ganze Schrecken, den Du damals verbreitet hast und in dem wir tagtäglich
gelebt haben, sowieso dadurch keineswegs plastisch genug rüberkommt.)
Tatsächlich
könnte man damit einen eigenen Roman füllen. Den werde ich auch einmal
schreiben.
Ich
schreibe Dir das alles aber nicht, weil ich glaube, dass Du das, was Du anderen
angetan hast, nun plötzlich verstehen könntest und mir recht geben würdest.
Diese
Hoffnung habe ich schon lange nicht mehr.
Nein,
Hermann, das ist nicht der Grund dafür, dass ich Dir diesen Brief schreibe. Du
hast eine unheilbare Persönlichkeitsstörung.
Und Du wirst sterben, ohne je
irgendetwas begriffen zu haben.
***
Mehr
aber noch: Du hast eine pathologische
Unfähigkeit zu einem jeden echten Unrechtsbewusstsein, wirklichen
Schuldgefühlen oder Reue.
Das
musste ich beispielsweise (im Juli 2013 nach der Wanderung zum Steinbruchsee) feststellen,
als ich mit Dir über einen ganz bestimmten Vorfall reden wollte, vom Tag meines Auszugs aus Baden im Juni 1991,
als Du mich da noch einmal schwerstens verprügelt hast, Ja, sogar noch an
meinem letzten Tag in Baden, sozusagen als Abschiedsgeschenk, hast Du mich
verprügelt.
Ich
wollte also von Dir - im Juli 2013 - wissen, wie Du diese Szene wahrgenommen
hast.
Dann
hast Du mir in aller Seelenruhe nacherzählt, was damals – aus Deiner
Perspektive - geschehen ist, und mir erklärt, wieso Du mich verprügelt hast.
Ingrid
und ich haben damals gestritten. Das hat Dich geärgert. Du hast gemeint, dass
ich schuld wäre, weil ich sie zum Weinen gebracht hätte und sie dann deswegen
etwas Negatives über Dich gesagt hätte – und daran war ich dann Deiner Meinung
nach natürlich somit auch schuld. Deswegen hast Du mich verprügelt.
Das
erzähltest Du mir (wie gesagt 2013, nach der Wanderung zum Steinbruchsee) so
einfach nach, aber vor allem: in einer unglaublichen Seelenruhe, voll
Selbstbewusstsein, ohne irgendeine Regung Deines Gewissens, überhaupt ohne jede
erwartbare Regung, vollkommen ungerührt und ungeniert, ohne auch nur den
geringsten Anflug von Reue, Mitleid, Mitgefühl, Scham oder Entschuldigung, so
hast Du das mir gegenüber allen Ernstes nacherzählt und direkt ins Gesicht
gesagt.
Und
da war nirgendwo auch nur der geringste Anflug von Nachdenken darüber, ob das
vielleicht falsch gewesen sein
könnte, was Du damals getan hast, ob Du mir damit vielleicht Unrecht getan haben könntest, ob Du mir
vielleicht Schaden damit zugefügt
haben könntest.
So
hast Du mir das nacherzählt.
Wenn das nicht Soziopathie ist, dann
weiß ich nicht, was sonst Soziopathie sein könnte.
Ich
war fassungslos. Mal abgesehen davon dass Deine damalige (im Juni 1991)
Wahrnehmung natürlich falsch war, weil Ingrid den Streit begonnen hatte – Du
kommst noch nicht einmal auf die Idee, dass es vollkommen inakzeptabel ist,
jemanden anderen zu schlagen, ganz gleich mit was für Begründungen (es sei denn
im Falle von Notwehr)!
***
Noch
schlimmer aber: es hat jahrzehntelang gebraucht, bis ich selbst kapiert habe, dass Dein Verhalten inakzeptabel ist!
Es
hat jahrzehntelang gedauert, bis ich
selbst kapiert habe, dass ich grundlegende Menschenrechte habe!
So
sehr hast Du mich über Jahre und Jahrzehnte eingeschüchtert und es geschafft,
mir einzureden, dass es in Ordnung ist, dass Du mich verprügelst, und dass ich kein
Recht mich darüber zu beschweren habe und es eine Frechheit ist, dass ich Dir deswegen
überhaupt Vorwürfe mache!
Und
es hat daher auch jahrzehntelang gedauert, bis ich die eigentlich
selbstverständliche Sache kapiert habe, dass ich das Recht, ja die Pflicht mir
gegenüber habe, mich vor Dir zu schützen, indem ich den Kontakt mit Dir meide
oder sogar die Polizei rufe!
Noch
2009 habe ich mich von Dir auf der Mariahilfer Straße als bereitwilliges Opfer zusammenschlagen
lassen!
Heute
könntest Du das mit mir nicht mehr machen!
Heute
würde ich das nicht mehr zulassen. Ich würde die Polizei rufen.
***
Nein,
ich schreibe Dir das alles keineswegs, weil ich erwarten würde, dass Du,
nachdem Du 30 Jahre lang wie ein Tier gelebt hast und Dich auch so verhalten
hast, plötzlich Einsicht haben und Deine Verbrechen einsehen würdest.
Ich
schreibe Dir, um meine Sprache zu finden. Meine Sprache, die Du mir gestohlen
hast. Um überhaupt eine Sprache zu finden. Eine Sprache, die das ausdrücken
kann, was geschehen ist.
Was
Du davon hältst, das kann mir eigentlich ziemlich gleichgütig sein. Du bist ein
psychisch schwer kranker Mensch, dessen Urteil über das, was ich sage, sowieso
immer gleich abfällig lautet.
Darum
ist auch kein Grund da, besondere Rücksicht auf Dich zu nehmen.
Ich
schreibe, weil ich gewisse Dinge loswerden will, mich von ihnen befreien will,
indem ich sie ausspreche.
Ich
habe Jahre, ja Jahrzehnte gebraucht, um diese Sprache halbwegs zu finden.
Ihr
alle, Du, der Lupus, die Geschwister, Tante Mitzi, ja, sogar fremde Leute, die
noch nicht einmal dabei gewesen sind, ihr alle habt mir immerzu nur auszureden
versucht, was ich Schlimmes erlebt habe.
Und
was ungeheuer Grauenhaftes meine eigene Mutter durchlitten hat.
Der
Lupus hat uns immer nur erklärt, dass es uns ja eh gut gehe und wir „keine
Probleme“ hätten. Franz hat ab einem bestimmten Zeitpunkt ins gleiche Horn
gestoßen. Ingrid gelegentlich auch. Selbst Du hast das nachgeplappert – aber natürlich nur, wenn es um mich gegangen
ist. Dann hast Du mir erklärt, dass es mir ja eh gut gehe und ich „keine
Probleme“ hätte. Sobald es um Dich
gegangen ist, dann waren es natürlich immer ganz furchtbare Dinge, die Du
erlebt hast und die wir übrigen alle nie verstehen können.
Wie
auch immer, auf Euer aller Verständnis brauche ich darum gar nicht hoffen.
Und
das interessiert mich auch gar nicht mehr.
Ich
schreibe diesen Brief für mich.
Um
Dir etwas zu sagen. Solange es noch Zeit ist, solange Du noch lebst.
Was
Du aber damit anfängst, das ist ganz allein Deine Sache und interessiert mich
nicht mehr.
Deine
Reaktion ist stereotyp eh immer gleich. Du wirst halt wie üblich wieder über
mich schimpfen und Dich ansaufen. Business as usual.
Wenn
ich von Dir verstanden werden wollen würde, dann wäre es wahrscheinlich
sinnvoller, dass ich einen kurzen Brief schreibe, alles möglich kompakt
zusammenfasse und besser und klarer strukturiere.
Bei
diesem langen und ein wenig ungeordneten Brief hier wird erst recht wieder
jeder in der Familie sagen: Ja, da sieht man mal, was der Ortwin für ein
Spinner ist, dass er so einen langen Brief schreibt. Und ihr werdet euch wieder
bestätigt fühlen.
Aber
abgesehen davon, dass es schwer ist, all diese Verrücktheiten, die in der
Familie passiert sind, strukturiert zu beschreiben, weil sie eben tatsächlich so
vollkommen wirr und irr sind, dass nur mehr die fragmentarische Form passt –
abgesehen davon würde es letztlich keinen Unterschied machen.
Eure
Reaktion wäre am Schluss die gleiche. Weil sie immer dieselbe ist. Ich habe Dir
ja auch schon einmal einen kurzen Brief geschrieben.
Was
hat es bewirkt? Du hast mir ja doch nur genauso erklärt, wie gestört das alles
ist, was ich da sage.
Es
ist mir also vollkommen egal, was Du von meinem Brief hältst. Ich schreibe das
für mich, und es ist ein langer Brief, weil ich einfach viel loszuwerden habe.
Du
hast mich über viele Jahre lang geschlagen, gefoltert, misshandelt, gequält,
gewürgt, beschimpft, ich war über viele Jahre lang wehrloses Opfer Deiner
körperlichen wie verbalen Übergriffe, Deiner psychischen wie physischen Gewalt.
Was
ist angesichts dessen ein Brief von bloß 20 oder 30 oder 40 Seiten, den Du in
wenigen Stunden gelesen hast? Wie dick war denn das Buch, das Natascha Kampusch
über ihr Martyrium geschrieben hat?
Mein
Brief ist nur ein kleiner Versuch, das Unaussprechbare festzuhalten.
Das
Grauen, das ich damals tagtäglich erfahren habe. Das ungeheure Grauen.
„Ich habe das Grauen gesehen“ – das ist der letzte Satz im Film
„Apokalypse now“, falls Du Dich daran erinnerst.
Das
ist mein Satz.
Das
ist auch das, was ich erlebt habe.
Ich habe das Grauen gesehen.
Tagtäglich.
Ohne
dass ich in Vietnam war.
Du hast mit uns Vietnam gemacht.
Du und der Lupus, ihr habt Vietnam veranstaltet. Ein
kleines Vietnam in der Antonsgasse 1b/4 in einer Wohnung im 2. Stockwerk.
Wobei
mir das, was man da in dem Film sieht, noch harmlos vorkommt im Vergleich zu
dem, was ich erlebt habe. Denn eins sieht man dort nicht: Wie da einer eiskalt und erbarmungslos seine eigene Mutter in den Tod prügelt
und dann nachher noch über sie höhnt.
Das,
was damals alles passiert ist, das ist einzigartig. Das war eine ganz eigene
irre Welt, in der wir damals gelebt haben, abgekapselt von allen normalen
Menschen.
Voller
Schrecklichkeit, in gewisser Weise inmitten allen Schrecklichens aber auch von
einer unnennbaren Schönheit durchflutet.
Es
ist etwas, was unwiederholbar ist.
Wir
waren in einem ganz eigenen Universum, das nichts mit dem Universum der
übrigen, der normalen Menschen und ihren Leben mehr zu tun hatte. Wir lebten wie
in einer abgeschlossenen Blase, vollkommen isoliert, in diesen Jahren.
Ich
habe diese Blase unter ungeheuren Anstrengungen und Schmerzen verlassen und bin
in die Welt der normalen Menschen gegangen, - in der ich dennoch nie heimisch
geworden bin.
Du
… Du bist letztlich in dieser merkwürdigen Welt geblieben. Manchmal habe ich
Dich auch dafür beneidet. Denn ich wollte nie erwachsen werden. Ich wollte
immer Kind bleiben. Du bist es in gewissem Sinn geblieben, auf schreckliche
Weise.
***
Ein
weiterer Grund dafür, dass ich lange nicht den ganzen kriminellen Ernst der
Gewalt, die von Dir ausging, zu begreifen in der Lage war, war der fließende
Übergang von harmlos anmutenden Kinderraufereien zu den massiven
Gewalttätigkeiten der Mutter und mir gegenüber, wie ich sie hier geschildert
habe.
Schließlich
ist es ganz normal, dass Buben miteinander raufen. Das ist dann so schrittweise
und unmerklich in die schon ernsthafteren Auseinandersetzungen von uns zwei heranwachsenden
Burschen und dann schließlich ganz schlimmen Prügeleien zwischen uns zwei als erwachsenen
Männern übergegangen, dass ein Teil von mir das immer noch selbstverständlich
genommen hat, weil es ja stets so gewesen ist.
Hinzu
kam natürlich die generelle moralische Verwahrlosung in der Familie, so dass
mir ganz allgemein die moralischen Maßstäbe verloren gegangen sind. Schließlich
war Gewalt, verbale und psychische, aber auch physische, ja generell in unserer
Familie der Alltag. Du warst ja nicht der einzige, von dem Gewalt ausgegangen
ist.
Abgesehen
davon warst Du mein Zwillingsbruder, und schon deswegen habe ich Dich sowieso
immer verteidigt, in Schutz genommen und für die mir am nächsten stehende
Person gehalten. Als uns Franz etwa einmal erzählt hat, dass sein Freund Edmund
meine, man müsse Deiner Gewalttätigkeiten der Mutter wegen die Polizei einschalten,
da war ich darüber hellauf empört.
Erst
vor zwei Jahren, bei der Lektüre meiner alten Tagebücher, habe ich kapiert,
dass natürlich die Polizei geholt gehört hätte, - und das ist das, was jeder
zivilisierte Mensch genauso darüber denken würde. Es ist ein unglaublicher
Skandal, dass die ganze Familie dabei zugeschaut hat, wie eine alte, kranke
Frau tagtäglich verprügelt und schwerstens misshandelt wurde – und keiner etwas
dagegen getan hat!
Was
damals aber weiters hinzu kam, das war, dass Deine eigene Haltung ja auch immer
total undurchsichtig war. Man hat ja nie gewusst: Hasst Du einen jetzt wirklich
– oder ist Deine Aggression doch nur eine momentane Laune?
Aufgrund
der Vertrautheit zwischen uns habe ich immer an letzteres geglaubt.
Wie
schon gesagt, das war ja das Verwirrende: Du konntest einen zwar in einem
Moment wild verprügeln und auf einen gnadenlos wie auf einen absoluten Todfeind
eindreschen, - aber ein paar Momente später war dann oft wieder eine irrsinnige
Nähe zwischen uns beiden, da konntest Du auf einmal wieder der liebe Bruder
sein, der zutraulich wie ein Hund zu einem kommt und ganz freundlich, beinahe
unterwürfig sagt: „Komm, gehen wir
miteinander spazieren“, „Schau Dir
den Film an, Ben Hur, der ist echt gut“ - oder in der Abendstimmung zum
Fenster hinaus deutet und einem sagt: „Schau
zum Fenster raus, da ist ein Vogel, der da oben kreist, siehst Du den Vogel,
hörst Du ihn kreischen?!“
Das
waren dann plötzlich wieder Momente tiefer Verbundenheit mit Dir, ja der – mir
kam vor, gegenseitigen - Liebe.
Man
hat nie gewusst, woran man mit Dir war.
Das
war das Verwirrende.
***
Wobei
rückblickend gesehen die Abnormitäten bei Dir schon sehr früh eingesetzt haben.
Wir waren noch im Volksschulalter oder so um die zehn Jahre alt, da sind die
Streitereien und Raufereien mit Dir bereits gelegentlich auf einmal sehr wunderlich
geworden. Da hast Du dabei plötzlich eine derartige Verbitterung, Verzweiflung
und Wut an den Tag legen können, dass wir beide, die Mutter und ich, eine
richtige Angst vor Dir bekommen haben, das war, erinnere ich mich, schon damals
für uns beide erschreckend und unverständlich.
Schon
damals ist sie Deinem Verhalten hilflos gegenüber gestanden, - und einmal,
kommt mir vor, haben wir uns da sogar schon vor Dir eingesperrt, weil Du so
getobt hast.
Sie
hat dann mit verzweifeltem Gesichtsausdruck zu mir gesagt, Du seist „moralisch schwachsinnig“.
Einige
Male hat sie mir gegenüber diesen Ausdruck gebraucht.
Das
ist zwar nicht sehr fein, dass eine Mutter so etwas über ihr Kind sagt, aber
rückblickend muss ich sagen: Sie hat damit einiges getroffen.
Eine
dieser frühen, wilden, außer Kontrolle geratenen Auseinandersetzungen hat die
Mutter dann, ein wenig märchenhaft und anekdotisch, so wie es ihre Art war, im
Nachhinein den Maikäferstreit genannt.
Worum
es da aber dabei im Detail ging, das weiß ich nicht mehr.
***
Als Du so 12, 13, 14, 15 Jahre alt
warst, nach Deinen Psychiatrie-Aufenthalten, da begannen die wirklich massiven
Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und Dir.
Ich habe damals noch verhältnismäßig
wenig mitbekommen, weil ich ja meist in der Schule war, während die Mutter viel
allein mit Dir war.
Vieles, was ich selbst nur mehr
verschwommen in Erinnerung habe, habe ich durch einen Blick auf die Notizen in
ihren Kalendern aufgefrischt, die ich noch habe. Ich persönlich habe ja damals
noch kein Tagebuch geführt.
In dieser Zeit hat es allmählich
begonnen, dass Du die Mutter regelmäßig geschlagen, geohrfeigt und bespuckt
hast.
Und Du hast begonnen, ihr dauernd solche
Nettigkeiten zu sagen wie: sie wäre ein
stinkendes Schwein, und sie gehöre
vergast, und das wäre noch eine Gnade
für sie.
Wenn ich vom Astronomischen Abend
zurückgekommen bin, dann hatte sie sich in der Regel schon lange vorher aus
Angst vor Dir in ihr Zimmer zurückgezogen.
Dass es sich dabei um etwas Ernsthaftes
handelt, habe ich erst allmählich kapiert, und ich war ganz schockiert, als sie
mir einmal bei meiner Heimkehr mit aufgelöstem Gesichtsausdruck erzählt hat,
dass Du sie getreten, geschlagen und angespuckt hast – und das nur deswegen, weil sie ein falsches Glas Pfefferoni gekauft
hatte, welche aus Bulgarien.
Daraufhin hatte sie sich drei Stunden
lang aus Angst vor Dir in mein Zimmer eingesperrt.
***
Was freilich – das kapiere ich auch
erst heute – vollkommen unmenschlich war, das waren die Reaktionen der Familie
darauf.
Für den Lupus war sowieso die Mutter
selbst an allem schuld. Der hat ihr nicht im Geringsten geholfen.
Dasselbe sagte auch Ingrid, - nur dass
sie noch hinzufügte, all diese Probleme wären ihr eigener Kaffee, und sie
hätte uns ja abtreiben können.
Unsere Schwägerin, Gilla, die hat die
Mutter wiederum am Telefon verhöhnt, dass ihr das keiner glauben würde, dass
der zarte Bub – also Du – sie schlüge und sie sich nicht gegen Dich wehren
könne, sie habe doch wahrlich genügend Gewicht, um Dich flach zu machen.
***
Nicht weiter geholfen hat der Mutter
freilich auch die Weisheit ihrer Therapeutin, Frau Dr. Moers, dass es sich um
einen „psychisch-dynamischen Affekt“ handle, wenn Du sie ohrfeigst.
Womit ich zu einem weiteren, sehr
umfangreichen Punkt komme, der wesentlich für Deinen Fall wurde: das völlige Versagen der gesellschaftlichen
Institutionen, deren Vertreter durch ihr dummes Verhalten sogar wesentliche
Mitschuld daran tragen, dass in unserer Familie die Situation derart eskalieren
konnte.
So habe ich mittlerweile, um vorläufig einmal
nur ein zweites Beispiel zu nennen, unter den alten Unterlagen ein
psychiatrisches Attest über Dich gefunden. Das hast Du mit 17, also Jahre,
nachdem Du dort interniert warst, vom AKH für die Stellung beim Bundesheer
bekommen.
Das Attest bezeugt, dass bei Dir bereits
im Alter von 14 Jahren bei einem Deiner stationären Aufenthalte auf der
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ diagnostiziert wurde.
Als „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“
bezeichnet man aber, so viel weiß ich inzwischen, die Vorform einer Persönlichkeitsstörung beim
Heranwachsenden.
Die Persönlichkeitsstörung
wiederum jedoch wird, so gut habe ich die psychiatrische Literatur studiert
(Kernberg etwa ist hier ein Fachmann, den zu lesen sich lohnt), zu denjenigen
psychischen Krankheitsformen gezählt, die im Grunde als beinahe unheilbar
gelten, beziehungsweise sind für eine Behandlung ganz besondere therapeutische
Maßnahmen notwendig.
Kriminelle wie Jack Unterweger, Josef
Fritzl und die Eislady haben an einer Persönlichkeitsstörung gelitten beziehungsweise
haben diese immer noch.
Deine Ärzte wussten
es also die ganze Zeit!
Die Psychiater der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dein Oberarzt
Doktor Berger, sie alle wussten ganz genau, dass Du eine Persönlichkeitsstörung hast!
Aber uns von der
Familie hat keiner davon etwas gesagt! Stattdessen haben alle immer nur von
Deinen „Phobien“ geredet! Auch Du selbst hast immer nur von Deinen „Phobien“
geredet!
Dabei hätte man bei so einer
schwerwiegenden psychischen Erkrankung die Familie natürlich umfassend informieren
müssen, hätte sie aufklären müssen, hätte mit ihr ausführliche Gespräche führen
und Anweisungen und Empfehlungen geben müssen, wie damit umzugehen ist!
Natürlich hätte man auch eine Art von
institutioneller Kontrolle einrichten müssen, insbesondere als Deine
Persönlichkeitsstörung einen enormen Hang zur Gewalttätigkeit mit sich gebracht
hat!
Nichts dergleichen! Man hat uns alle
dumm sterben lassen!
***
Freilich, man darf auch in Zweifel
ziehen, ob solch eine Aufklärung durch die Institutionen tatsächlich viel geholfen
hätte.
Und zwar deswegen weil es in unserer
Familie eigentlich keinen vernünftigen und handlungsfähigen Ansprechpartner
gegeben hat.
Wer hätte das denn sein sollen?
Unser Vater vielleicht, der selbst an
einer gewaltigen Persönlichkeitsstörung litt, der selbst jeden Tag vor
Aggressivität explodiert ist und mit dem man kein vernünftiges Wort hat reden
können?
Der hätte ja selbst zuallererst
weggesperrt gehört! Der war ja die Ursache allen Übels, von dem kommt doch das
Ganze her!
Der hat doch das alles in die Familie
eingeführt, all die cholerische Gewalt, das irre Schreien, das Toben, das
Schneiden zähnefletschender Grimassen und das Schimpfen!
Von dem hast Du das alles doch
überhaupt! Der war und ist doch Dein Vorbild!
Von der Mutter kommt das jedenfalls
nicht her, die hat das alles doch nie getan!
Ein irrer Vater, der schon längst geschieden
von der Mutter war, seit Jahren bereits mit einer anderen Frau an einem ganz
anderen Ort verheiratet war, bei uns also eigentlich gar nichts mehr verloren
hatte, - aber abartigerweise trotzdem jeden Tag zu uns nach Baden gefahren ist,
ohne auch nur, wie das ein normaler Mensch tut, wenigstens zu grüßen, in die
Wohnung getreten ist und dort ansatzlos mit hochrotem Kopf wie Klaus Kinski zu toben angefangen und am
Fließband vollkommen irres und unsinniges Zeugs herum geschrien hat!
Ein Spinner, der nichts als Hass und
Zwietracht gesät und eine Religion des
Hasses um sich verbreitet und gepredigt und uns alle damit vergiftet hat!
Ja, das hast Du allerdings inhaliert,
das hast Du gründlich in Dich aufgesaugt.
Wer war außer ihm da in der Familie,
auf den man zählen hätte können?
Die Mutter etwa?
Sie war sowieso komplett überfordert
und vollkommen wehrlos. Sie hast Du ohnehin nach Gutdünken zusammengeschlagen
und geohrfeigt.
Für mich gilt Ähnliches, außerdem war
ich noch ein Kind und hätte auch dann nicht verstanden, was eine Persönlichkeitsstörung ist, wenn man es
mir erklärt hatte – ganz abgesehen davon, dass ich meinem eigenen heutigen
Urteil nach selbst an einer, wenn auch etwas anders gearteten, gelitten habe.
Überdies: Selbst wenn ich alles
verstanden und begriffen hätte, ich hätte mich ja nie gegen den Vater, die
Mutter und Dich durchzusetzen können. Ich war macht- und rechtlos in diesem
Gefüge.
Wir alle waren ein Haufen von
Unmündigen, könnte man sagen. Das waren wir, wir alle, die wir in Baden waren.
Und die zwei älteren Geschwister, die
schon in Wien wohnten und nur gelegentlich nach Baden kamen, Franz und Ingrid, mit
denen zumeist nur ein telefonischer Kontakt bestand, die waren nicht viel
besser. Auch wenn ich das damals noch nicht kapierte und glaubte, wenigstens
die wären normal.
Tatsächlich hatten die aber auch nichts
anderes zu tun, als andauernd Öl ins Feuer zu gießen und alles nur noch
schlimmer zu machen durch ihr vollkommen unangemessenes Betragen.
Franz und Ingrid haben ihrerseits eine
Unmenge von Hass und Zwietracht gesät, ja, uns Jüngere zu allem Überfluss auch
noch in ihre Streitereien untereinander verwickelt und dabei zu
instrumentalisieren versucht, - und, und, und, vieles, vieles andere
Schreckliche und Dumme, was sie zur Eskalation beigetragen haben.
***
Die grässlichsten Ausmaße nahm all der familiäre
Wahnsinn in Folge einer wirklich schweren körperlichen Verletzung an, die Du
unserer Mutter am 8. August 1989 zugefügt hast, die auch einen Spitalsaufenthalt
nötig machte und am Ende sogar zu einer Gerichtsverhandlung führte.
Was damals geschah, ist ziemlich gut
und ausführlich in meinen Tagebüchern dokumentiert. Und es ist grauenhaft und
nach menschlichen Maßstäben eigentlich kaum mehr fassbar.
Erst am 16. Juli abends war unsere
Mutter nach einem längeren Aufenthalt aus der Nervenheilanstalt Gugging zurückgekehrt.
In den ersten Stunden ging es ihr auch
noch ganz gut.
Aber nur in den ersten Stunden.
Am nächsten Tag, am 17. Juli, hast Du
ihr bereits höhnisch angekündigt, dass Du sie wieder fertig machen würdest:
„In 3 Monaten
bist du schon wieder runter mit den Nerven! Dafür werde ich schon sorgen!“
Am 18. Juli gabst Du für Essen und
Trinken auf einen Sitz 200 Schilling aus.
Das hat Dich natürlich nicht zufrieden
gestellt. Du wolltest dann auch noch einen Bankschein an Dich reißen, der auf sage
und schreibe 2000 Schilling ausgestellt war.
Ein Vermögen für uns damals. Und wir
mussten noch bis Monatsende mit dem Geld auskommen.
Es gelang mir, Dich daran zu hindern,
dieses Papier an Dich zu reißen. Aber dabei kam es wieder einmal zu einer
schweren Rauferei, mit Würgen, Prügeln und Spucken. Und das Glas meiner
Armbanduhr ging dabei kaputt. Nicht zum ersten Mal. Solche Schäden gehörten
damals zur Normalität.
***
30. Juli 1989:
„Wieder Scherben!
Es braucht fast gar nicht mehr erwähnt zu werden. Er will wieder Geld von ihr,
ich stelle mich in den Weg, sie sperrt sich ein. Hermann bedrängt mich in
meinem Zimmer, fuchtelt mit dem Messer […], ich hoffe, ihn durch […] Schreien
rauszuekeln (wie sonst soll ich mir helfen?!). Er sagt, ich sei verrückt, was
schreie ich denn so?
Ich bekomme Wut
und stammle, schreie nochmals. […] Er kriegt dann seine Wut und zerbricht
etwas. Ich sperre mich ein. Er sieht nie ein, was er anderen zufügt.“
***
Einschub:
Offenbar ist es mir hier gelungen, Dich
durch mein Schreien aus meinem Zimmer zu vertreiben.
Moralische Bedenken uns zu misshandeln,
hast Du zwar nie gehabt. Was das betrifft, warst Du wahrlich vollkommen
schamlos, ohne jedes Unrechtsbewusstsein.
Aber davor, dass die Nachbarn das
Schreien der Mutter und von mir hören könnten, davor hast Du Dich gefürchtet.
Leider hat uns beiden das auch nur bis
zu einem gewissen Grad geholfen. Das Ergebnis war, dass Du uns auch noch das
Schreien verboten hast.
Da hast Du dann allen Ernstes verlangt,
dass wir uns von Dir verprügeln lassen – aber
ohne zu schreien!
Wir sollten dabei schön stillhalten, das hast Du allen Ernstes von uns
verlangt! Ohne uns zu wehren und auch ohne zu schreien!
Wenn wir uns nicht daran gehalten
haben, hast Du einen Grund darin gesehen, noch viel schlimmer und noch viel
brutaler auf uns dreinzuschlagen.
Oder
Du hast denjenigen von uns, der geschrien hat, mit zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse extra stark
gewürgt, hast einem extra stark die Kehle zugedrückt und einen angezischt:
„Hör auf zu
schreien! Willst Du, dass die Nachbarn das hören! Die denken doch dann gleich
wieder, dass ICH hier schreie und dass ICH der Verrückte bin! Kapierst Du das
nicht?! Die glauben doch, dass ICH der Verrückte bin, der so schreit, seit ich
auf der Psychiatrie war! Dabei bist DU das! Kapierst Du das nicht, es ist alles
erlaubt, Prügeln, Schlagen – aber nicht das Schreien! Weil das bekommen die
Nachbarn mit!!! Die dürfen nichts hören!!! Kapierst Du das nicht?!“
So kann wirklich nur ein vollkommener
Psychopath argumentieren.
***
Dann aber eben die Tagebuch-Eintragung
vom 8. August 1989, die ein neues und noch grauenvolleres Kapitel im
jahrelangen Martyrium unserer Mutter aufgeschlagen hat:
„Der Hermann hat wieder
einen Teller zerbrochen: Die Oberin blutete stark am Fuß.“
Am Morgen des folgenden Tages (9.
August) zeigte sich, dass die Wunde nicht von selbst verheilte. Es war eine
tiefe Schnittwunde, die immer wieder aufplatzte und weiter blutete.
Und trotzdem bist Du weiterhin auf die
Mutter losgegangen.
„Die hat sich
selber geschnitten – absichtlich“, hast Du gehöhnt.
Auch die folgenden Tagebuchzeilen
zeugen nur einmal mehr von meiner vollkommenen Hilflosigkeit und meiner
damaligen Unfähigkeit, Dein irres Verhalten zu verstehen:
„Er muss wirklich
gestört sein. Er hat auch schon Gedächtnislücken. Und er ist völlig
uneinsichtig. Er prügelt und schreit, aber dann pumpert er laut an unsere Tür
und fragt: ‚Warum sperrt’s ihr euch denn ein?‘ ‚‘Macht’s auf‘ schreit er.“
Natürlich war es aber nicht möglich,
sich den ganzen Tag vor Dir einzusperren, ohne einmal rauszukommen:
„Ich wollte jetzt
raus, um Essen zu holen. Hermann hat das Honigglas zerbrochen und das Brot auf
den Boden gehaut. Dann drang er gewaltsam in mein Zimmer zur Oberin ein. Sie
glaubte, ich sei es[,] öffnete, wollte wieder schließen[,] und er stemmte sich
dagegen und stand bei ihr im Zimmer, ein[e] alte, kleine Frau und ein massiger,
grinsender Orson Welles, der die Hand herhält und sagt: ‚ich will geld‘.
Voller Wut über
diesen gewaltsamen Einbruch und aus Erwartung weiterer Schläge [Erklärung: So
wie Du dastandest, erwartete ich, dass Du die Mutter gleich wieder schlägst]
hieb ich in seinen Bauch. Er war wütend. Ich floh. Es wurde eine lange
prügelreiche Rauferei. Er hieb oft auf meinen Hinterkopf und zerriß mein
Gewand, ich boxte in seinen Bauch.
Er ohrfeigte die
Oberin und mich schwer.
Ihre Fußwunde
platzte wieder auf[,] und wir sind jetzt eingesperrt in meinem Zimmer.
Müssen wir so den
ganzen Tag verbringen?
Wir machten sehr
viel Lärm[,] und ich schrie viel Hilfe. Daß die Polizei noch nicht da ist, ist
ein Wunder.
Der Hermann sagt
wütend: ‚Er hat ja angefangen‘
Er schreit jetzt
wieder: ‚Ihr hab’s ja angefangen‘
Das Schlimme ist, daß er sich wirklich völlig
im Recht fühlt!
Er wollte jetzt
mehr Geld für Bier. Wegen uns braucht er noch mehr. Ich schrie: ‚Ja, wer hat
denn angefangen.‘
[Deine Antwort:]
‚Ja, ich
natürlich. Ich bin immer der Schuldige!‘“
Und daneben blutete immer noch die
Wunde der Mutter und hörte nicht auf.
***
Der Fuß schwoll immer mehr an. Dass es
dann gelang, die Mutter am Abend desselben Tages endlich ins Spital einliefern
zu lassen, ist nicht selbstverständlich.
Du hast über Deinen Tellerwurf nur
gelegentlich trotzig und stumpfsinnig „Das
war ja nicht absichtlich“ gesagt, so als wäre damit allen Ernstes Deine
Verantwortung schon getilgt.
Tatsächlich war Dir aber die Verletzung
der Mutter vollkommen gleichgültig. Und kaum war sie weg, hast Du mich wieder
nur in einer Tour um Geld gefragt. Das war das einzige, was Dir wichtig war.
Das Allerunglaublichste aber: Nach
ihrer Entlassung aus dem Spital hast Du genauso weiter gemacht wie zuvor, ohne
irgendeine Veränderung, - hast uns beide genauso weiter beinahe jeden Tag wegen
Kleinigkeiten geprügelt, misshandelt, geschlagen, Dinge zertrümmert und Geld
aus uns rausgepresst.
So hast Du etwa – um nur eines von
unzähligen Beispielen zu nennen, die ich aus meinen Tagebüchern zitieren könnte
- am 2. September 1989 den kleinen Radiowecker in meinem Zimmer in einem
Wutanfall zertrümmert, weil ich einmal etwas anhören wollte, als Du – untertags
- schlafen wolltest. Dabei war Dein Zimmer ganz am anderen Ende der Wohnung, so
dass Du im Grunde kaum etwas hören konntest.
Es war eine furchtbare Rauferei mit
Dir, und die Mutter hat verzweifelt um Hilfe und nach der Polizei gerufen.
Du hast sie aber angebrüllt:
„Du weißt noch nicht,
was Prügel sind! Glaubst du, das, was du bis jetzt bekommen hast, sind Prügel?!
Hast du den Film mit der Farah Fawcett gesehen?!“
Und wenn ich während Deiner
Misshandlungen verzweifelt geschrien habe, dann hast Du mir höhnisch erklärt,
ich sei „schizophren“, da sehe man es ja, diese „feurigen Augen“, hast Du gespottet, man müsse eigentlich gleich
einen Arzt rufen.
So hast Du Dich weiterhin recht selbstbewusst
verhalten, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon vom Spital aus eine Anzeige wegen
Körperverletzung bei der Polizei gegen Dich vorlag und bereits ein Prozess
gegen Dich im Raum stand.
Das ist das Allererstaunlichste, nicht
nur in diesem Fall, sondern überhaupt bei Deinem ganzen Lebensweg: Deine vollkommene Lernresistenz.
***
Noch erstaunlicher ist aber, dass Du
damit durchgekommen bist. Der ganze familiäre Wahnsinn kommt darin zum
Ausdruck, dass in der Familie am Ende da alle mitgespielt haben, Dir recht
gegeben und die Mutter beschuldigt haben, selbst in dieser Situation noch, und
Dich keiner an die Polizei oder an das Gericht ausgeliefert hat.
Wenn es darauf ankam, wenn es derart
ernst wurde, dann haben doch alle zu Dir gehalten und für Dich gemauert,
wollten das, was geschehen war, nach Möglichkeit vertuschen.
Am allermeisten ich selbst. Das ist ja
das Verrückte.
So unverständlich ist es aber freilich
nicht. Wenn ich heute meine Tagebücher von damals durchlese, dann bezeugen sie,
dass meine Emotionen damals eine einzige Achterbahnfahrt waren.
Ist ja logisch! Du warst ja doch mein
eigener Zwillingsbruder! Niemand ist mir so nahe gestanden wie Du!
Unzählige Tagebucheintragungen
bezeugen, wie viel Du mir bedeutet hast, wie viel Angst und Sorgen ich mir um
Dich machte und wie ungeheuerlich ich trotz all Deiner Gewalttätigkeiten an Dir
gehangen bin!
Ich habe mich ja überhaupt nicht mehr ausgekannt,
habe überhaupt nichts begriffen, habe nicht verstanden, warum Du das überhaupt
tust, war vollkommen verwirrt, - und meine Gefühle waren ein andauerndes
Jojo-Spiel.
Ich habe mich darum dann damals vor
Gericht total falsch verhalten. Das habe ich erst vor zwei Jahren eingesehen,
als ich die alten Tagebücher durchgelesen habe.
Ich hätte damals vor Gericht über Dich
auspacken sollen.
Ich hätte damals den Behörden die
ungeschminkte Wahrheit erzählen müssen, ich hätte alles erzählen müssen, wie Du
uns tagtäglich schwerstens misshandelst und verprügelst.
Dann hätte unsere Mutter nicht sterben
müssen.
Stattdessen habe ich aus lauter Angst
um Dich - aus lauter, blanker, panischer Angst, Du könntest ins Gefängnis oder
ins Heim gesteckt werden - den Mund gehalten.
Ja mehr noch, ich habe auch Einfluss
auf unsere Mutter genommen, ja, sie geradezu dazu genötigt, dass sie ihre
Anzeige widerruft beziehungsweise ebenfalls keine Aussage vor Gericht macht.
Das hätte ich nicht tun dürfen. Das
hätte ich niemals tun dürfen. Dazu hatte ich nicht das Recht.
Das war ein Verbrechen von mir.
Damals bin ich, ohne noch davon zu
wissen, mitschuldig an ihrem Tod geworden. Daran gibt es nichts schönzureden.
Zu der allgemeinen moralischen
Verwahrlosung in der Familie, die mich so weit getrieben hat, zu der Gefühllosigkeit
und Verrohung im allgemeinen sowie im speziellen in dieser Situation haben aber
freilich auch die älteren Geschwister ganz wesentlich beigetragen.
***
Unser großer Franz hat sowieso zu Dir
gehalten und das nachgebetet, was Du ihm vorgesagt hast: Die Mutter sei ja „selbst schuld“, sie sei Dir ja damals
in die Küche nachgerannt, also sei sie selbst schuld daran, dass sie dann den
Teller von Dir auf den Fuß bekommen habe.
Eine Äußerung, deren Logik noch
heutzutage frappiert.
Immerhin ist mir heute der Begriff „Täter-Opfer-Umkehr“ geläufig – und das
ist etwas, was Du wirklich stets beherrscht hast, nicht nur damals, sondern
Dein ganzes Leben lang.
Du warst und bist (um diese Metapher zu
gebrauchen; aber es ist nicht nur eine Metapher) jemand, der imstande ist,
einem voll ins Gesicht zu schlagen - und ihm danach vorzuwerfen, er habe mit
seinem Gesicht Deine Hand verletzt!
Die Frau von Franz, Gilla, wiederum
hatte zwar den verletzten Fuß nie gesehen, erklärte aber unserer Mutter dennoch
vollmundig am Telefon, die Verletzung
sei ja eine Kleinigkeit, und sie, die
Mutter, habe mit der Anzeige den
Familienfrieden gebrochen.
!!!
Eine Aussage, die auch insofern
irreführend ist, als die Anzeige ja wahrscheinlich am Beginn gar nicht von
unserer Mutter ausgegangen ist, sondern das Spital wohl Anzeige erstattet hat –
und das auch tun musste. Dadurch kam alles doch erst in Gang.
Ja, unsere Mutter hätte freilich lügen
und sagen können, sie habe sich selbst den Teller auf den Fuß geworfen.
Anscheinend ist es das, was man sich in der Familie erwartet hat.
Ingrid schließlich hat mir erklärt,
dass ich selbst schuld sei, als ich
ihr von Deinen Gewalttätigkeiten erzählte. Und das ebenfalls auf eine Weise, wo
man nicht nach der Logik fragen darf, die dahinter steckt.
***
Sicher, ich weiß, was Du Dir jetzt
denkst, Hermann (falls Du den Brief überhaupt so weit gelesen hast).
So gut kenne ich Dich, dass ich weiß,
dass Du jetzt immer noch genauso wie damals davon überzeugt bist, dass Du
damals im Recht warst.
Du würdest mir jetzt noch genauso mit
einem Gesicht wie ein Unschuldslamm antworten, dass Du ja den Teller nur fallen
gelassen hättest und der Fuß der Mutter ganz versehentlich davon getroffen worden
wäre.
So hast Du selbst als Angeklagter ja
auch dem Gericht den Vorfall erzählt.
Und da die Mutter und ich uns der
Aussage entschlagen haben, hat es zu einem Freispruch gereicht.
Aber täusche Dich nicht.
Wenn ich die Wahrheit erzählt hätte,
wenn ich über Dich ausgepackt hätte, dann wäre das ganz anders ausgegangen.
Und wenn der Richter wollen hätte, dann
hätte er Dich auch aufgrund Deiner eigenen Aussage wegen Körperverletzung
verurteilen können. Das hätte gereicht. Dann wäre es zwar keine absichtliche,
aber fahrlässige Körperverletzung gewesen. Der war wohl milde gestimmt.
Auch weil Du die Leute gut täuschen
kannst.
Ich kann mich erinnern, wie Du selbst
mir nachher erzählt hast, dass Du den Richter und das Gerichtssaalpublikum mit
einem Petrocelli-Witz zum Lachen gebracht hast.
Aber wenn die auch nur die geringste
Ahnung gehabt hätten, was für ein gewissenloser Psychopath hinter dieser
jovialen Fassade steckt …
Wenn ich ausgepackt hätte …
Wenn ich dem Gericht ganz einfach
gesagt hätte, dass Du die Mutter und mich regelmäßig schlägst, ohrfeigst, würgst,
trittst, misshandelst, prügelst, verängstigst, beschimpfst, Gegenstände
herumwirfst und zerbrichst und gelegentlich sogar mit dem Messer in der Wohnung
umherläufst, um uns zu bedrohen und Geld aus uns herauszupressen …
Wenn ich dem Gericht ganz einfach
gesagt hätte, wie Du die Mutter auch noch nach der Verletzung verhöhnt, bedroht
und verdroschen hast. Und Dir ihre Wunde vollkommen gleichgültig war …
Wenn ich dem Gericht ganz einfach
gesagt hätte, dass Du zwar den Teller vielleicht nicht vollkommen absichtlich
auf den Fuß geworfen hast – dass es Dir aber auch ganz egal war, ob Du sie nun
triffst oder nicht …
Ja, mache Dir nichts vor, Hermann, wenn
ich damals mit all dem ausgepackt hätte, dann wäre es unter Umständen
vielleicht sogar gelungen, Dich dahin zu bringen, wohin Du damals wirklich
gehört hättest: in eine Anstalt für geistig
abnorme Rechtsbrecher.
Und unsere Mutter würde noch leben.
***
Es hat ziemlich genau die von Dir höhnisch
angekündigten drei Monate gebraucht: Am 19. Oktober 1989 ist unsere Mutter
wieder in die Nervenheilanstalt Gugging gekommen, als ein vollkommenes
nervliches Wrack.
Ihren Tod, der sich dann fast genau ein
Jahr später ereignete, als „Selbstmord“ zu bezeichnen oder, wie es danach auch
versucht wurde, ihn sogar als ein bloßes „Versehen“ abzutun (sie habe sich ja
gar nicht wirklich umbringen wollen, sondern nur zu viele Tabletten erwischt,
wurde plötzlich von Gilla, der Frau unseres großen Bruders, behauptet) und auf
diese Weise die Wahrheit zu vertuschen, - beides ist ein Witz.
Den Tod unserer Mutter kann ich nicht
als Selbstmord ansehen, sondern nur
als Mord.
Es mag sein, dass meine Sicht
juristisch nicht hält, aber menschlich war es so.
Sie ist über viele Jahre lang in den
Tod hinein getrieben worden.
Und auch wenn ich weiß, dass Du
verlogen genug bist, um jetzt alle Deine Schuld abzustreiten und alles so
herumzudrehen, wie es Dir passt – Deine Reaktion, als ich nach dem Tod unserer
Mutter von der Polizei vernommen worden war (einer von uns beiden musste zur
Kripo, um über ihre letzte Nacht in der Wohnung zu berichten; und Du hast Dich
freilich gedrückt), hat Bände gesprochen.
Du hast Dich damals angeschissen, dass ich dort irgendetwas
gesagt haben könnte, was etwas anderes als ihre eigene psychologische
Disposition als Ursache ihres Todes in das Blickfeld rücken könnte.
„Wegen dir komme
ich vielleicht noch ins Gefängnis, du Spinner, kapierst du das nicht?!“ hast Du da zähnefletschend gekreischt,
als ich von der Vernehmung zurückkehrte.
Das ist verräterisch genug. Das sagt
eigentlich alles.
***
Du hast diese arme, alte, wehrlose Frau
in den Tod hinein geprügelt. Du hast sie tagtäglich geohrfeigt, geschlagen,
misshandelt und gequält und damit in den Selbstmord getrieben - aber Deine
ganze Perversität kommt darin zum Ausdruck, dass Du sogar in dieser Situation,
unmittelbar nach ihrem grässlichen Tod, nicht das geringste Mitgefühl mit ihr hattest,
sondern Dich wie üblich bloß angesoffen und selbstmitleidig geplärrt hast: „Ihr beide, du und die Oberin, ihr habt mein
Leben zerstört!“
***
Ich habe sie noch wenige Stunden vor
ihrem Tod im Spital gesehen, am späten Nachmittag oder frühen Abend des 20.
Oktober 1990 (ein Samstag).
Sie „sah
furchtbar aus. Die rechte Wange war tief eingefallen, sie schlief tief und
röchelte schwer.“
Erst da habe ich den Ernst der Situation überhaupt
kapiert.
Freilich habe ich ihn immer noch
unterschätzt. Im Rückblick wäre es am besten gewesen, ich wäre bei ihr
geblieben, und hätte ihr die Hand gehalten.
Oder mehr noch: ich hätte warten
müssen, bis sie wach wird, und sie dann einfach nehmen und umarmen und ihr
sagen müssen, dass ich sie lieb habe.
Aber erstens hatte es in unserer
Familie solche Gesten nie gegeben und wäre ich darum damals gar nicht auf so
eine Idee gekommen.
Und zweitens kapierte ich nicht, dass
mir nur ganz wenige Stunden blieben. Ich glaubte, es wäre noch mehr Zeit sie zu
retten. Der zuständige Arzt, Oberarzt Doktor Beck, nahm sich keine Zeit für
mich, deutete aber mit ein paar Worten an, dass sie nicht kooperiere. Er
erklärte mir aber nicht, was er genau damit meinte.
Ich ging nachhause und hatte den Plan,
die Familie, d.h. die Geschwister plus Ehepartner, zusammenzutrommeln, weil ich
die Idee hatte, dass wir alle am nächsten Morgen an ihr Bett kommen, und, wenn
sie wach wird, uns ihr von unserer guten Seite zeigen, ihr zeigen, dass wir für
sie da sind und sie dazu überreden, dass sie wieder leben will.
Es sagt sehr viel aus über die Familie,
dass auf meine verzweifelten Telefonate hin niemand von den Geschwistern aus
Wien her kam – sondern nur der Schwager.
Und der saß dann mit Dir und mir in der
Wohnung und redete mit uns ein wenig, - als dann, ungefähr um dreiviertel 9h abends
der Anruf aus dem Spital kam, dass sie gestorben ist.
***
Aber ihren schrecklichen, leidenden,
gemarterten Gesichtsausdruck, den sie hatte, als sie da am Nachmittag tief schlafend
(oder vielleicht im Grunde schon irgendwie bewusstlos) und röchelnd lag … den
werde ich nie vergessen.
Er war jedoch letztlich nur die
Steigerung der angstverzerrten, verzweifelten, gequälten Miene, die sie über
viele Jahre lang in unserer Wohnung aufgrund der tagtäglichen Misshandlungen trug.
Dieses Gesicht werde ich nie vergessen.
Dieses gequälte Gesicht hatte sie auch noch
ein paar Tage später bei der Aufbahrung.
***
Die ganze Verrohtheit und Verwahrlosung
der Familie hatte sich auch wenige Tage vor dem Tod der Mutter in aller
Deutlichkeit gezeigt, in jener Nacht, als sie ins Spital eingeliefert wurde.
Leider kann ich mich hier nicht
ausnehmen.
Wären wir beide, Du und ich, irgendwie
normal gewesen, wäre unsere Familie irgendwie normal gewesen, - so wäre es uns beispielsweise
gleich aufgefallen, dass die Mutter sich seltsamerweise im schönen Gewand
niedergelegt hatte.
Es war die Nacht vom Mittwoch, dem 17. Oktober
1990, auf Donnerstag, den 18. Oktober 1990.
„Um ca. ½ 2h in
der Früh wachte ich durch das Brechen der Oberin auf. ‚Was ist?‘ fragte ich.
Sie kniete schon vollkommen angezogen, mit einem blauen Kleidchen und feinen
Schuhen, über der Klomuschel und brach – PERMANENT! Ich wusste nicht, was ich
tun sollte!“
Man darf nicht vergessen, ich war ein
hochneurotischer und vollkommen ängstlicher Mensch. Ich hatte Scheu, die
Rettung zu rufen.
Die Mutter log mich an: „Nur eine kleine Magenverstimmung!“
„Ich weckte Hermann
auf, ein wenig wütend, daß er sich um nichts kümmerte. Er sagte, das sei doch
nichts Arges. Bricht sie halt!
Ich blieb ca. bis
½ 3h wach und teilweise bei ihr.
Ich sagte ihr,
sie müsse viel trinken, damit der Körper nicht austrocknet, brachte ihr ein
Kotzlavor ins Zimmer, damit sie nicht immer auf’s Klo rennen muss. Sie spie
rotes Wasser, weil sie eine Blutorange gegessen hatte, wie sie sagte. Ich hielt
es schon für Blut.
Soweit meine
positive Seite.
Dann schrie ich
aber auch mit ihr mitten in der Nacht, weil sie nie etwas tue und auf ihre
Gesundheit nicht aufpasse, und darum sowas ja kein Wunder sei. Und es kann
sein, daß ich auch noch Schlimmeres schrie und schimpfte. Ich war verärgert,
weil ich meinen Schlaf brauchte und müde war. Und schon genug Sorgen habe.
Irgendwann
schlief sie dann wieder ein. Ich zog mich in mein Zimmer zurück.
Ich träumte
gerade etwas Schönes und wachte dementsprechend verärgert auf, als sie rief:
‚Ich habe im Schlaf erbrochen!‘
Ich weckte dann
den Hermann auf und zwang ihn, mir zu helfen, sie zum Speiben aufzurichten.
Prügelte ihn auch. Wir stritten, rauften. Sie sagte: ‚Streitet nicht!‘
Noch an ihrem
Totenbett prügelten wir uns.
Schließlich
schrie Hermann: ‚Erbrechen, Verwirrtheit – ja siehst du denn nicht, daß das
Anzeichen eines Gehirnschlags sind? Wer ist hier der Maturant?‘
Ich rief den
Notarzt.
Oberin war
unansprechbar. Ich richtete sie wieder auf und sie sank immer wieder über dem
Speiblavor zusammen. Sie wollte sich wieder auf den Rücken legen, aber das
wollten wir nicht, damit sie sich nicht selber ankotzt und erstickt.
Die Sanitäter
begriffen nicht, wie unansprechbar sie ist, und sagten, sie solle mithelfen,
als wir sie in den Tragstuhl hoben. Es war ein schrecklicher Anblick. […]
***
Es ist eine unauslöschliche Schande: Das
war das Letzte, was unsere Mutter von uns beiden, von ihren jüngsten Söhnen, in
ihrem Leben sah - dass wir beide neben ihr miteinander schrien, stritten, rauften
und prügelten, währenddessen sie gleichsam schon im Sterben lag. Das ist derart
beschämend, wenn ich das heute lese. Es sagt aber alles über diese kranke,
barbarische Familie.
Ebenso wie der Umstand, dass wir uns
nicht weiter darüber wunderten, dass sie im schönen Kleid im Bett lag, dass wir
noch nicht einmal darüber nachdachten.
Wir glaubten, sie sei halt wieder
einmal krank.
Ich fuhr nicht mit der Rettung mit,
sondern befolgte die Anweisung des Sanitäters, packte die Medikamente der
Mutter ein und ging um ca. halb sechs Uhr früh, noch im Dunklen, zum Spital
nach, um sie dort abzugeben.
„Gott! Warum
immer nur Horror! Horror! Horror! Immer nur Leiden! Leiden! Leiden!“
dachte ich mir während des ganzen
Weges.
„Oben auf 3 B lag
meine Mutter auf dem Gang in einem Bett.
Eine Infusion
hatte sie am Arm. Sie schlief nun tief und fest.
Ich wollte
erleichtert sein, aber sie war trotzdem noch so ein schrecklicher Anblick.
Die Schwester
erklärte mir, daß a) Oberin Tabletten genommen habe und b) wesentlich der
Zucker entgleist sei.“
Selbst dann aber kapierte ich den Ernst
der Situation nicht. Nämlich, dass sie immer noch in Lebensgefahr schwebt. Ich
dachte, sie ist im Spital, also ist sie gerettet.
Was daraufhin medizinisch wirklich
passierte, ist auch bis heute äußerst unklar. Dazu gab es ganz unterschiedliche
Aussagen.
Als ich am Samstag mit dem Oberarzt
Doktor Beck sprach, erklärte er mir ganz im Gegensatz zu dieser Krankenschwester,
dass von einer Entgleisung des Zuckers keine Rede sein könne, sondern unsere
Mutter eine Lungenentzündung habe (daher
käme das Röcheln), und es schlecht enden würde, „wenn sie so weiter mache“, - wobei er mir keine Erklärung gab, was
er damit meinte. Und: „In das Innere der
Organe kann ich nicht reinsehen“, sagte er etwas unwirsch. Und dann war er
schon wieder auf und davon.
Du erzähltest mir unmittelbar danach,
dass dem Lupus im Spital gesagt worden sei, dass sie die Nahrung verweigere.
Und sie habe sich von ihm weggedreht, als er zu Besuch gekommen sei, habe sich
zur Mauer gedreht und nichts mit ihm reden wollen. (Da war sie also wach. Ich
könnte nun natürlich nachdenken über das, was geschehen wäre, wenn sie wach gewesen
wäre, als ich kam … Ich weiß es nicht. Aber es beschäftigt mich. Zumindest
heute weiß ich, was das Richtige zu tun gewesen wäre.)
Die Frau von Franz, Gilla, jedoch sagte
mir in der Woche nach dem Tod unserer Mutter bei einem Telefonat, dass sie dem
Obduktionsbericht (den ich selbst aber persönlich nie gesehen habe) zufolge an
einer Gehirnblutung gestorben sei.
Von Tabletten, die sie geschluckt habe, war da auf einmal überhaupt nicht mehr
die Rede, und auch eine Lungenentzündung soll sie gar nicht gehabt haben. Woher
die 41 Grad Fieber (die sie außerdem gehabt haben soll) gekommen seien, wüsste
niemand zu sagen, das habe wohl andere Ursachen gehabt.
***
Im Nachhinein muss ich Gillas Auskunft
allerdings als nicht vertrauenswürdig einstufen. Es ist ziemlich offenkundig,
dass sie versucht hat, das, was geschehen ist, zu vertuschen. Und sie hat dabei
nicht vor Lügen, Verdrehungen und wilden Behauptungen aller Art
zurückgeschreckt. Ein anderes Mal hat sie ja – wie schon oben erwähnt – dann
plötzlich gesagt, die Mutter habe zwar Tabletten geschluckt, aber nicht
wirklich sterben wollen …
Es waren lauter diffuse Wischi-Waschi-Behauptungen,
die da in der Familie in Umlauf gesetzt wurden, um alles nicht so schlimm
aussehen zu lassen und auch um sich selbst etwas vorzumachen. Widersprüchlich
und wirr waren die Äußerungen zum Tod unserer Mutter, mal so und mal so. (Beim Franz
sowieso, der es ja auch heute noch zustande bringt, in einem Satz das genaue Gegenteil
von dem zu sagen, was er gerade im Satz zuvor gesagt hat, ohne dass ihm das
selbst auffällt.)
All das passt aber keineswegs zu den
Abschiedsbriefen.
Diese sind eindeutig.
Auch die Umstände, wie diese Briefe
aufgefunden wurden, sind nebenbei ein weiterer Beleg für die Verwahrlosung in
unserer Familie und die grässlich-wirren Umstände des Todes unserer Mutter:
Mehr als ein Monat danach (!) fandest
Du ganz zufällig in einem Deckenstapel am Fußende ihres Bettes nicht nur diese
in total zittriger Schrift auf zerknitterte Zettel geschriebenen, verzweifelten
Abschiedsbotschaften, sondern auch die Dokumente (Lebensversicherung,
Geburtsurkunde, Wiener Verein), die wir vergeblich für die Beerdigung gesucht hatten.
Diese Dinge hatte sie dort für uns
hinterlegt, ohne allerdings vorherzusehen, dass wir dort wochenlang gar nicht
nachschauen würden.
Das bezeugt jedoch eindeutig, dass die
Mutter ihren Tod geplant und vorbereitet hatte und, obwohl sie dabei ein wenig
linkisch vorgegangen war, zu sterben entschlossen gewesen war.
Wahrscheinlich hatte sie bloß zu wenig
Tabletten genommen oder hatte deren Wirkung nicht richtig einschätzen können.
Darum kam es in der Nacht dann zu Erbrechen und Übelkeit, anstatt zum
Wegdämmern in den Tod, wie sie es sich wahrscheinlich gewünscht hatte.
***
Es mag sein, dass die Ärzte im Badener
Krankenhaus nicht gerade den Durchblick hatten und alles andere als kompetent agierten.
Wahr ist aber auch, dass es nachher in
unserer Familie nie mit irgendeinem normal über diese Ereignisse zu reden
möglich war. So etwas wie eine ordentliche Aufarbeitung gab es nie. Bis heute
nicht.
Da hätte man sich denn doch auch zu
sehr mit der jeweils eigenen Schuld auseinandersetzen müssen.
Stattdessen regierte nach dem Tod
unserer Mutter, ohne dass man daraus etwas gelernt hatte, in unserer Familie
weiterhin die blanke Gehässigkeit. Und es wurde dann plötzlich ausgerechnet mir
die Schuld an ihrem Tod in die Schuhe geschoben – aufgrund eines Briefes, den
ich an unsere Mutter nach Gugging geschrieben hatte.
Den schrieb ich ihr übrigens lange vor
ihrem Tod. Und es war ein Brief, von dem keiner von euch überhaupt weiß, was da
drin stand und warum ich ihn geschrieben hatte. Und das hat mich auch niemand von
euch je gefragt.
Das hielt Franz und Dich nicht davon ab
zu verbreiten, dass ich es sei, der die Mutter damit in das Grab gebracht hätte,
dass ich schuld an ihrem Selbstmord sei.
Das ist mal wieder so typisch für euch.
Für den ganzen Wahnsinn und die ganze Gehässigkeit in dieser Familie.
***
Dabei habe ich mein Letztes gegeben, um
alles zu retten, noch in den letzten Monaten vor ihrem Tod.
Und niemand hat mir dabei geholfen.
Niemand von euch allen.
Ich hatte kapiert, dass in unserer
Familie nur mehr die blanke Gewalt herrscht, dass unser Leben in der Wohnung in
Baden eine Rattenkäfigsituation darstellt und dort alles untergeht.
Ich habe versucht, irgendwie eine
Möglichkeit zu finden, damit wir beide ausziehen können, Du und ich, nach Wien,
damit wir von Baden wegkommen, weg von den Eltern, die ich damals noch als alleinige
Ursache allen Übels sah.
Wenn ich das geschafft hätte, dann wäre
auch die Mutter sicher vor Dir gewesen.
Aber ich habe kein Geld für die Ablöse
einer Wohnung gehabt. Was da gefordert wurde, war ein Vermögen für meine Verhältnisse,
auch wenn ich eine gewisse Summe aus meiner Zeit vom Zivildienst über hatte.
Und Job habe ich auch keinen gefunden.
Du hattest sowieso kein Einkommen,
nicht einmal mehr Familienbeihilfe, die hatte ich wenigstens noch.
Und niemand, niemand in der Familie hat
mir geholfen. Niemand.
***
Besonders das Verhalten der älteren
Geschwister in diesen Jahren vor dem Tod unserer Mutter war an Absurdität und
an Gemeinheit kaum überbietbar. Sie haben einen vollständig im Stich gelassen.
Franz und Ingrid haben sich auf eine
Art und Weise verhalten, die an Doppelbödigkeit nicht zu überbieten ist.
Zuerst haben sie einen über viele Jahre
lang gegen die Eltern aufgewiegelt. Haben Öl ins Feuer gegossen und das
Familienklima dadurch verschlimmert.
Franz und Ingrid haben über viele Jahre
lang auf uns eingeredet und uns erklärt, wie schlimm, gestört und unerträglich
unsere Eltern wären. Haben über sie in den ärgsten Ausdrücken geschimpft und
versucht, uns auf ihre Seite zu ziehen. Haben uns sogar Anekdoten aus den
Zeiten vor unserer Geburt erzählt, die belegen sollten, wie abnormal und irre unsere
Eltern wären.
Was für ein Spinner der Lupus sei! Was für eine Gestörte unsere Mutter sei! Wie arm
wir „zwei Kleinen“ doch bei denen wären!
Dadurch haben Sie Dich in Deinem krankhaften
Hass auf die Mutter auch noch angestachelt und bestärkt!
Bei den Streitereien um Deine mögliche
Entmündigung im Winter 1988/89 hat die Ingrid überdies im speziellen mich erfolgreich
mit allen Kräften gegen die Mutter aufgehetzt, hat so getan, als wäre sie unsere
Verbündete, die nun Dir und mir gegen die Eltern helfen würde – und hat dadurch
am Ende nur zur Eskalation beigetragen, hat dadurch nur noch mehr Angst,
Streit, Hass und Panik verursacht, was im Endeffekt sogar bewirkte, dass auch
ich auf die Mutter physisch losging.
Und beide, Franz und Ingrid, haben uns außerdem
über viele Jahre lang ganz große Versprechungen gemacht, wie sehr sie uns
helfen und sich immer uns kümmern würden! Wie sehr sie uns unterstützen würden,
wenn wir einmal aus der Wohnung der Mutter in Baden nach Wien auszögen! Was sie
alles für uns tun würden!
Was ist uns da alles versprochen
worden!
Und dann, als es ernst wurde, da war
natürlich auf einmal nichts mehr davon über. Als ich dann wirklich fragte, ob
sie uns nicht helfen könnten, eine Wohnung in Wien zu finden, ob sie uns dabei
unterstützen würden – da war auf einmal
die Wende um 180 Grad. Bei beiden.
Da wurden wir zwei auf einmal
verspottet und verhöhnt.
***
Als auf einmal wirklich etwas getan
hätte werden müssen, als schöne Reden nicht mehr ausreichend waren - da wollten
Franz und Ingrid auf einmal nichts mehr davon wissen.
Da wurden wir beide auf einmal
beschimpft dafür, dass wir überhaupt etwas von ihnen erwarteten.
Und über die Eltern und unsere Situation
in Baden wurde uns nun plötzlich das genaue Gegenteil von dem gesagt, was uns
vorher jahrelang immer gesagt worden war!
„Ja, was habt ihr
überhaupt für Probleme da draußen! Euch geht es ja eh gut! Schlecht geht es
doch den hungernden Kindern in Äthiopien, aber nicht euch!“
hat Franz mir plötzlich am Telefon
erklärt. Keinen Finger hat er für uns gerührt. Stattdessen hat er mich als „Klugscheißer“, als „Trottel“ und als „Geistesgestörter“
bezeichnet und dann sogar zornentbrannt unsere Mutter angerufen (24. Februar 1989)
und bei ihr intrigiert, dass sie mich bei meinen Auszugsplänen ja nicht
unterstützen solle!
Ingrid ist immerhin einmal, ein
einziges Mal, widerwillig mit mir zu einer Wohnungsbesichtigung mitgegangen (26.
Juli 1989).
Das war ihr schon zu viel. Dann hat sie
sich schon beschwert über die „Belastung“,
die ich ihr damit zumute.
Und ab dem Moment hat sie mir Reden
gehalten, dass wir zwei „faul“ wären,
dass wir zwei „selbst schuld“ an
unserem Schicksal wären und sie nicht einsehe, wieso sie uns helfen solle, wir
sollten das gefälligst „selbstständig“
machen, ich würde anscheinend nur warten, dass mir „die gebratenen Tauben“ in den Mund flögen, warf sie mir vor, ihr
habe ja auch keiner geholfen, behauptete sie, jeder müsse es allein schaffen,
es hänge nur von mir selbst ab, eine Wohnung zu finden, und ob man glücklich
werde oder nicht, hänge sowieso immer nur von einem selber ab.
Wenn es uns schlecht gehe, dann sei das
„unser Bier“, was gingen denn sie
meine Raufereien mit Dir und dem Lupus an, daran sei doch allein ich „selbst schuld“, was gehe das sie
überhaupt an, wir hätten ja „eh keine Probleme“,
„allen Leuten gehe es schlecht“, nicht
nur uns, was wollen wir denn überhaupt, wir sollen unsere Probleme „selber lösen“, und sie wolle davon gar
nichts mehr hören, uns sei offensichtlich „ganz
einfach nur fad im Schädel“.
Ihr selbst würde es ja eigentlich gut
gehen, betonte sie, nur unseretwegen gehe es ihr schlecht, wir zwei seien
schuld daran, denn wir wären so „negativ“.
Und gelegentlich konnte sie auch
einstreuen, dass wir beide eigentlich „abgetrieben“
gehört hätten.
Von oben bis unten wurde ich, wurden
wir beide in den Telefonaten mit Ingrid auf diese Weise beschimpft, erniedrigt
und heruntergemacht – während ich verzweifelt irgendeinen Ausweg suchte.
Das war es, ja, - das war die ganze Hilfe,
die ich von den älteren Geschwistern in dieser schlimmsten Zeit meines Lebens
bekommen habe.
***
In dieser ausweglosen Situation habe
ich etwas ganz Heroisches getan. Etwas, was niemand von euch verstanden hat.
Niemand von euch allen, so kommt mir vor, hat überhaupt kapiert, was ich damit
wollte.
Ich weiß, auch Du, Hermann, hast nie
verstanden, was eigentlich meine Gedanken waren, als ich Dir im Sommer 1990 den
Vorschlag unterbreitete, dass wir beide gemeinsam eine Interrailreise unternehmen und nach Athen fahren.
Dass es diese einfache Möglichkeit gab
(mit der Eisenbahn nach Griechenland fahren), diesen konkreten Tipp hatte mir
nicht irgendjemand aus der Familie gegeben, sondern jemand Außenstehender,
Waldemar, den ich damals gerade kennengelernt hatte. (Eine Seltenheit, denn
damals kannte ich eigentlich sonst kaum jemanden aus dem Universum außerhalb
der Familie, - jemanden, der nicht so gehässig war wie die Menschen in unserer
Familie.)
Wir waren (mit fast 23!) niemals im
Ausland gewesen, hatten noch niemals das Meer gesehen. Ich hatte wie gesagt
noch Geld vom Zivildienst über, und Griechenland war damals sehr, sehr billig.
Ich hätte nun ganz allein meinen
Rucksack nehmen, mich für ein Monat von den Schlägereien in der Familie
vertschüssen und mir ein schönes Leben machen können.
Aber so ein egoistisches Schwein war
ich nicht. Ich war nie einer, der nur an sich selber dachte.
Ich stand damals schwere innere Kämpfe
aus und fragte mich immer wieder, was zu tun richtig sei. Du selbst wolltest ja
am Anfang auch nicht mit mir mit und erklärtest mir, dass Du aufgrund Deiner
Phobien und Deiner Alkoholsucht gar nicht mit könntest.
Außerdem wusste ich, dass ich einen
großen Teil der Kosten für uns beide mit meinem eigenen Ersparten zahlen müssen
würde und die Eltern uns nur einen begrenzten Zuschuss geben würden.
Vor allem aber ahnte ich, dass es
wirklich schwer und anstrengend werden würde, diese Reise mit Dir. Während ich sehen
würde, wie andere junge Leute am Strand ihren unbeschwerten Spaß haben würden,
würde ich Dich quasi als Klotz am Bein mit mir herumschleppen und mich dauernd
um Dich kümmern müssen.
Es hätte also genügend Gründe gegeben,
die es mir leicht gemacht hätten, mich einfach aus dem Staub zu machen.
Und dennoch habe ich es durchgedrückt.
Dennoch habe ich Dich nach und nach dazu überredet mit mir mitzukommen.
Ich wollte Dich aus der Scheiße
herausholen. Ich glaubte, so eine Reise wäre eine Möglichkeit Dich zu retten.
Es war alles andere als eine einfache
Entscheidung. Es war ein großes Opfer. Aber Du warst es mir wert.
Du bist mein Bruder, habe ich mir
gedacht. Mein Zwillingsbruder. Es ist das erste Mal, dass ich ins Ausland
reise. Ich will Dich nicht allein im Elend zurücklassen. Ich will Dich dabei
haben.
Und ich glaubte damals fest daran, dass
Dich so eine Reise verändern, ja, „heilen“ würde.
Denn Du hast Dich doch immer darüber
beklagt, dass Du nie etwas vom Leben gehabt hättest. Damit hast Du Deinen Hass
auf alles und jeden begründet.
Und Du hast durchaus oft selbst von
Deiner Sehnsucht nach Reisen gesprochen. Ich habe darum damals angenommen, dass
so eine Reise Dich von Deiner mürrischen und aggressiven Stimmung befreien
müsste, von diesem krankhaften Hass auf alle Menschen und das ganze Leben, den
Du andauernd zelebriert hast (und – nebenbei – immer noch zelebrierst).
Und dadurch würde dann auch alles in
der Familie besser werden. Du würdest die Mutter nicht mehr schlagen, Du
würdest mich nicht mehr schlagen, nicht nachdem ich Dir diese Reise geschenkt hätte.
Du würdest eine neue Perspektive auf
das Leben bekommen. Du würdest sehen, dass das Leben nicht so grauslich,
hässlich, trostlos und ausweglos ist, wie Du dauernd glaubst, sondern stattdessen
erkennen, dass es im Grunde sehr schön ist.
Das würde Dir Hoffnung geben.
Und so habe ich das wirklich auf mich genommen
und habe Dich mit mir mitgenommen.
Und es war tatsächlich sehr schwer, ja,
es war sogar noch schlimmer als befürchtet. Selbst mitten auf dem Victoria
Square von Athen und auf den Brücken von Venedig hast Du auf mich mit
zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse
eingeprügelt und mir bei den Raufereien sogar mein Leiberl zerrissen.
Sobald wir in einer Stadt ankamen,
wurde der ganze Ablauf fast durchwegs von Deinen Bedürfnissen bestimmt. Zuallererst
musste für Dich stets irgendwo Alkohol besorgt werden, und dann ging es
freilich ums Essen für Dich. Und wenn ich, damit unser Geld für die ganze Reise
reicht, mich nicht in einen Gasthof setzen oder Dir eine Pizza kaufen wollte - dann
hagelte es schon schwere Schläge.
Alles Organisatorische musste ich ganz
allein regeln. An und von den Bahnhöfen aus musste ich herumlaufen und
Unterkunft suchen, Stadtpläne besorgen, öffentliche Verkehrsmittel ausfindig
machen und auch die Informationen für die Weiterfahrt organisieren, Travellerschecks
einlösen, Geld wechseln, Gepäckaufbewahrung checken und, und, und …
Während Du stets irgendwo in einem Eck gehockt
bist und dabei gesoffen, gegessen und immer nur gemeckert und einen beschimpft hast.
Am Ende der Reise war ich darum auch
vollkommen abgemagert, während Du dasselbe enorme Übergewicht hattest wie
zuvor.
Und trotzdem hatten wir ein paar wunderschöne
Momente, während der Zugfahrt durch das damals noch bestehende Jugoslawien, auf
den griechischen Fähren (ungeachtet meiner schweren Seekrankheit), auf den
Inseln, auf ihren Campingplätzen, die direkt am Strand waren … aber dann auch noch
in Venedig, Pisa, Nizza und am Schluss sogar in Paris.
Ich habe damals beinahe Übermenschliches geleistet, habe etwas
getan, was sonst keiner geschafft hätte. Kein Franz, keine Ingrid, kein Lupus hat
jemals so etwas getan! Ich habe meinen psychisch schwer kranken Bruder auf eine
Bahn- und Schiffsreise durch halb Europa geführt!
Ich habe es aus Bruderliebe getan!
All die schweren Opfer, die ich dafür
bringen musste, all die Mühsalen, die Quälereien und Streitereien, - das war es
mir wert, weil ich glaubte, nachher würde es Dir besser gehen!
Und weil ich Dich liebte, wie ein Bruder
seinen Bruder nur lieben kann!
In der Tat: In all Deinem krankhaften
Hass auf mich, den Du auch heute noch selbstmitleidig pflegst, vergisst Du immer
ganz, wie viele Dinge Du mir eigentlich zu verdanken hast!
Unter vielem anderem: Ohne mich hättest
Du es noch nicht einmal geschafft, je Deinen Fuß auf außerösterreichischen
Boden zu setzen!
Und ohne mich hättest Du niemals das
Meer gesehen!
***
Ich war perplex, als wir zurückkamen
und ich sah, dass sich nichts an Dir geändert hatte. Aber nichts, gar nichts, überhaupt nichts.
Die Prügelei ging ganz genauso weiter
wie zuvor.
Es war, als hätte es die ganze Reise
überhaupt nicht gegeben, als wären wir beide gar nicht weggewesen.
Du warst ganz der Gleiche wie vorher. Es
war, als wäre diese Reise in Deinem Bewusstsein gar nicht vorhanden.
Mit demselben stumpfsinnigen Rasen wie zuvor
hast Du auf einen eingedroschen, einen gequält, misshandelt und gefoltert, - die
Mutter und mich.
Tagebucheintragung vom 22. August 1990:
„Es ist
unglaublich. Eine Woche sind wir zurück[,] und Hermann führt sich ärger auf als
je zuvor! Fuchtelt mit dem Messer vor mir rum, preßt täglich 150 S[chilling]
aus der Oberin heraus, quält den Kater, wenn sie es nicht tut, wirft ihr Bücher
u. a. Sachen an den Kopf, schreit, hat laute Krämpfe in seine Fäuste brüllend
in seinem Zimmer, frißt ungeheuer viel Spaghetti und säuft Unmengen, und
verordnet mir höhnisch Diät, damit wir Geld sparen […]
Die Oberin bat
mich, ihren Schlüssel aus Hermanns Zimmer zu holen. Ich ging, aber Hermann war
schneller. Er hielt den Schlüssel hinter seinen Rücken, stellte sich vor die Oberin
und fragt: ‚Wie viel ist dir der Schlüssel wert?‘ Die Oberin ist von dem allen
schon ganz kaputt mit den Nerven. Diesmal fing sie ganz furchtbar zum Schreien
an, ‚Gibt mir den Schlüssel‘ und verzerrte ihr armes Gesicht zur von Leid und
Wut geplagten Grimasse. Ausnahmsweise gab Hermann nach.“
Das war aber nur für den Moment.
„Dann pumperte er
in ihr Zimmer: ‚Ich will Geld‘ – ‚Ich habe keinen Geldscheißapparat‘ – ‚Nur 100
Schilling‘ – ‚Ich kann nicht.‘ – Gib her.‘
Er beginnt dann
aggressiv zu werden und sich Zugang zur Geldschatulle zu verschaffen. Auch
diesmal schreit die Oberin wütend. Sie ist am Ende ihrer Nerven.
‚Schrei nicht mit
mir‘, wagt dann dieses Schwein zu sagen.“
Ich machte nun den Fehler, mich von
meinem Gefühl der Empörung mitreißen zu lassen. Das war vollkommen sinnlos, weil
Du viel stärker als ich warst und Dich jede Gegenwehr nur noch rasender gemacht
hat:
„Ich schlage voll
gegen seinen Rücken […] Voll Aggression stürzt er sich auf die Oberin und
schreit: ‚Jetzt gibst ma owa des Göd.‘ – ‚Ja, ich geb’s dir, ich geb’s dir ja!‘
[…]
‚Vieh‘ schreit
sie ihm nach, als er das Geld hat. – ‚Wenn du mich no amal Vieh nennst, dann …‘“
***
Am 2. September 1990:
„Vorhin hat mir Hermann
so in den Bauch geschlagen, daß ich für ein paar Augenblicke wirklich Angst
hatte, keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken.“
Am 19. September 1990 machte ich den „Fehler“,
Dir endlich doch einmal Dein Selbstmitleid
vorzuwerfen.
Das hast Du selbst mir damals zwar auch
oft höhnisch vorgehalten und mich regelmäßig auf noch viel schlimmere Weise
beschimpft. Du hast mich beispielsweise in diesen Wochen nach der
Interrailreise als „Morphiumsüchtigen“
verspottet, weil ich so abgemagert war und so schlecht aussah.
Nur galt da halt für Dich immer zweierlei
Maß. Ausgeteilt hast Du gerne. Du hast es als Selbstverständlichkeit angesehen,
dass Du den anderen beschimpfen darfst, wie es dir passt. Aber wehe, es hat einmal
einer Dich kritisiert:
„Als ich dann in der Küche war, kam er
plötzlich daher – so furchtbar habe ich ihn seit dem Polizeiverhör nicht mehr
erlebt!
Er würgte u
prügelte mich unbeschreiblich, weil er sich sowas [das mit dem Selbstmitleid] nicht
sagen lasse.
Ich prügelte
zurück. So cholerisch … Wie ein Irrsinniger …
Oh … Gott … Es
entstand ein großer Lärm … die Oberin kam dazwischen … Sie wollte Ruhe
schaffen, weil sonst die Polizei kommt … Er würgte sie und prügelte sie […]
Ich nahm meinen
Stecken und prügelte dauernd den Hermann!
Ich schlug so
stark zu, daß der Stecken brach!!!
Aber Hermann ließ
sich trotzdem! nicht davon abhalten, die Oberin zu würgen. Er wolle sich das
nicht gefallen lassen.“
***
Das war jetzt nur ein allerkleinster
und bei weitem unvollständiger, ja im Grunde vollkommen oberflächlicher kurzer Einblick
in Deine grausigen und abstrusen Gewalttätigkeiten, die auch im Spätsommer und
Frühherbst 1990, nach unserer gemeinsamen Interrailreise, sich beinahe täglich
abspielten, kurz vor dem „Selbstmord“ der Mutter.
All meine Bemühungen waren vergeblich
gewesen.
Und die älteren Geschwister hatten
nichts anderes zu tun als dazwischen weiterhin Öl ins Feuer zu gießen und tagesordnungspunktmäßig
die Mutter noch zusätzlich mit ihren Gehässigkeiten zu überschütten:
„Jetzt eben kam
die Oberin rein [in mein Zimmer] und sagte mir etwas (der Franz werfe ihr vor,
daß sie mir nicht beibringe, um ein Stipendium anzusuchen.) Wie sie ausschaut,
wie ein Gespenst, es ist einfach unbeschreiblich. Ihre weiße Haut hängt in
Falten vom verzogenen Mund herunter …“
Ja, diese Unverschämtheit besaß Franz: Er
selbst hat keinen Finger gerührt für Dich und für mich!– Aber der alten, zuckerkranken, schwer depressiven Frau, die kaum die
Wohnung zu verlassen imstande war, auf die ist er dann losgegangen, weil sie
nichts tue!
***
Im selben Herbst brach ein anderer
Hoffnungsschimmer zusammen. Ich hatte mich als Billeteur im Stadttheater Baden
beworben. Zuerst hatte es nach einer Zusage ausgesehen. Dann kam plötzlich der
Anruf, dass sie mich doch nicht brauchen (19. September 1990).
Ohne dass mich irgendjemand von der
Familie dabei unterstützt hätte, habe ich schließlich erst mehr als ein halbes
Jahr nach dem sogenannten „Selbstmord“ der Mutter im Oktober 1990 einen Job als
Museumsaufseher im Schloss Schönbrunn und zumindest eine vorübergehende Bleibe
in einem WG-Zimmer in Wien gefunden.
Und auch ohne dass mir irgendwer bei
diesem Umzug geholfen hätte, bin ich dann Ende Juni 1991 siebenmal (!) mit dem
Zug von Baden nach Wien und wieder zurückgefahren, um meine notwendigste Habe
in die neue Unterkunft zu transportieren. Und das, obwohl es in den Familien
unserer beiden älteren Geschwister Autos gab.
Dass auf der einen Seite wir zwei, Du
und ich, bis zu meinem Auszug weiterhin beinahe jeden Tag von dem wie Klaus Kinski besinnungslos tobenden Vater
niedergeschrien und beschimpft wurden und ich auf der anderen Seite außerdem
zusätzlich nach wie vor von Dir regelmäßig mit zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse tätlich
angegriffen und misshandelt wurde, das brauche ich wohl nicht extra zu
erwähnen. Nichts hatte sich an euch beiden Klaus
Kinskis geändert, nicht einmal nach dem grausigen Tod der Mutter, der wohl
jeden normalen Menschen zur Besinnung gebracht hätte – aber nicht euch beide.
Rückblickend kann ich froh sein, dass
ich irgendwann einsah, dass es trotz aller Bruderliebe unmöglich sein würde,
mit Dir gemeinsam auszuziehen und die Verantwortung für Dein Leben auch noch zu
übernehmen. Es ist absehbar, dass ich auch in einer neuen Wohnung wie ein Sklave von Dir gehalten worden wäre. Am
Ende hätte ich dort alles für uns beide tun müssen: Studieren, Wohnung putzen,
Geld beschaffen, Einkaufen gehen, Alkohol für Dich besorgen, - und zusätzlich
wäre ich nach wie vor täglich von Dir verprügelt und gewürgt worden, wenn Dir
gerade etwas nicht gepasst hätte. Ansonsten hättest Du nur gesoffen und gefressen,
so wie Du das ja auch in Baden gemacht hast.
Und selbst an meinem letzten Abend in der
Wohnung in Baden hattet ihr von der Familie nichts anderes zu tun als mir noch
einmal eure hässlichste Fratze zu zeigen.
Da kam Ingrid nach Baden raus und beschimpfte
mich einfach ansatzlos als „faulen Hund“,
weil die Küche dreckig war.
Und weil ich mir das nicht gefallen
ließ und zurückschimpfte, begann sie dann zum Weinen und fing auch noch mit Dir
zu streiten an.
Wie ich schon oben berichtet habe, hast
Du dann allen Ernstes daraus neuerlich eine Berechtigung abgeleitet, auf mich
einzudreschen. Nicht etwa auf Ingrid, dafür warst Du freilich zu feig, die ist
dann abgefahren und hat das gar nicht mehr mitbekommen, was sie angerichtet
hat, - sondern auf mich.
Zum letzten Mal hast Du auf mich
eingedroschen. Leider nicht zum letzten Mal überhaupt, aber zum letzten Mal in
der Badener Wohnung.
Das war der
Abschied meiner Familie bei meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung am 29.
Juni 1991!
Das muss man sich auch einmal
vorstellen! Wenn ich das irgendjemandem erzähle, der kann das ja gar nicht
begreifen!
***
Immerhin hat Ingrid in diesen Zeiten
vollkommener Turbulenzen auf mein Betreiben hin wenigstens den Kater an sich genommen. Der konnte ja
nicht in der Badener Wohnung gelassen werden, nur mit Dir und dem wahnsinnigen
Vater zusammen. Du hast ihn im Zuge Deiner Schübe von Gewalttätigkeit oft geärgert,
gepiesackt und gequält, mit Pölstern nach ihm geworfen oder mit dem Ball auf
ihn geschossen oder eben, wie schon geschildert, als Geisel benutzt, um Geld zu
erpressen. Dabei hast Du ihn am Schwanz gezogen, gezwickt oder sogar gewürgt,
bis er miaut hat.
Und manchmal, wenn Du getobt hast, wenn
Du wutschäumend mit Dingen um Dich geschleudert und etwas zerbrochen hast, dann
ist er in wilder Panik davon gelaufen, so dass man seine Tatzen richtig am
Parkettboden wetzen hören konnte.
Den konnte man nicht Dir überlassen. Was
Du mit dem getan hättest, war nicht absehbar. Du warst ihm gegenüber nicht weniger
gewissenlos als gegenüber der Mutter und mir. Ein Tierquäler.
Ich selbst war zum Zeitpunkt meines
Auszugs ein psychisches Wrack, hatte eine sehr unsichere Wohnsituation und war
nicht imstande, ihn mit mir zu nehmen, um ihn vor euch zu schützen und für ihn
zu sorgen.
Ja, ich weiß, Dir war der Kater beinahe
vollkommen egal, und Du weißt noch nicht einmal, wie gern ich ihn gehabt habe,
wie sehr ich an ihm gehangen bin. Ich selbst hatte damals auch ganz andere
Probleme. Ich hatte vieles andere im Kopf.
Schon deswegen habe ich mit Dir nie
darüber geredet. Erst in den letzten Jahren ist mir das auch erst so richtig bewusst
geworden, dass das Schicksal des Katers zu
all Deinen Verbrechen noch dazu kommt.
Über viele Jahre lang ist der Kater
jede Nacht zu mir gekommen, oder wann immer ich in meinem Zimmer war. Gelegentlich
lag er bei der Mutter, oft ist er aber auch in mein Zimmer gekommen. Ich habe
ihn gestreichelt, und er hat mich sehr gemocht.
Nur zu Dir ist er freilich weniger gern
gekommen, bei Deinem Verhalten. Der hatte das schon verstanden, was Du für
einer bist.
Deine ab der zweiten Hälfte der 80er
Jahre immer massiver werdende Gewalttätigkeit hat auch meine Beziehung zu
diesem Tier zerstört. Zuvor hatte ich die Tür meines Zimmers angelehnt lassen
können, damit er hinein und heraus konnte, wann er wollte. Nun aber musste ich
meine Zimmertür immer häufiger zusperren, um mich vor Deinen Übergriffen zu
schützen.
Da ist der anhängliche Kater dann oft
vor der Tür gesessen und hat erbärmlich miaut, weil er zu mir rein wollte. Das
arme Tier hat ja gar nicht gewusst, was da überhaupt los war und warum ich
meine Tür plötzlich verschlossen hielt.
Wenn ich ihm aber öffnete, dann konnte
es leicht geschehen, dass ich sehen musste, dass ich gerade einen Fehler
begangen hatte – weil Du unmittelbar neben dem Kater vor der Tür gelauert und bereits
mit einem hämischen Psychopathen-Grinsen Deinen Fuß in den geöffneten Spalt
geschoben hattest. Dann hast Du mich zur Seite gestoßen, bist in mein Zimmer
eingedrungen und hast sogleich unter irgendeinem Vorwand mit mir einen
Raufhandel begonnen hast, so wie es ständig Deine Art war.
Aber auch abgesehen davon haben mich
die andauernden familiären Gewalttätigkeiten in diesen Jahren derart nervlich
zerrüttet, dass ich mich dem Kater gegenüber meist nur mehr apathisch,
abweisend, unfreundlich oder sogar aggressiv verhielt.
Am 2. Juni 1991, also kurz vor meinem
Auszug aus der Badener Wohnung, ist dann Ingrids damaliger Ehemann gekommen und
hat das Tier mit sich genommen.
Er war nur etwas mehr als ein halbes
Jahr in seinem neuen Zuhause. Am 30. Dezember 1991 bekam ich den Anruf von Ingrid,
dass der Kater gestorben sei.
Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich
ihn dazwischen überhaupt noch einmal gesehen habe. Ingrid betonte freilich,
dass er es bei ihr gut gehabt habe und dass sein Tod nicht mit dem Ortswechsel
in Zusammenhang stünde.
Ich bezweifle das. Ich hatte ein sehr vertrautes
Verhältnis zu dem Kater. Ich habe ihn besser als ihr alle gekannt. Er war ein sehr
anhängliches Tier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er diese radikale
Veränderung nicht gespürt hat und der alsbaldige Tod reiner Zufall war. Der
Verlust der ihm bekannten Bezugspersonen und der vertrauten Umgebung. Plötzlich
aus einer luftigen und sozusagen mitten im Grünen liegenden Riesenwohnung in
eine winzige Wohnung im grauen Wien verfrachtet.
Auch sein Tod geht auf Dein Konto.
***
Ich habe im Grunde Großartiges
geleistet. Das hast Du nie verstanden. So wie Du Dich tagtäglich verhalten hast, so wie meine ganze
Lebenssituation war, all die Sachen, die damals geschehen sind – ich hätte im
Grunde genauso gut irgendwann durchdrehen, die Nerven verlieren, ein
Küchenmesser aus der Lade nehmen und es Dir dann in den Hals rammen können.
Dass das nicht passiert ist, ist wahrlich
nicht Dir zu verdanken. Nein, das ist meiner Selbstbeherrschung zu verdanken.
***
Da habe ich mich eher schon selbst
verletzt. Beispielsweise Ende März 1989, als ich von diesen ganzen Streitereien
und Raufereien mit Dir endlich so aufgebracht, verzweifelt und fertig war, dass
ich, nachdem Du mich wieder einmal verdroschen hattest, vollkommen die Nerven
verlor, Dir nachlief und dann so heftig gegen die Glastür schlug, die Dein
Zimmer vom Vorzimmer trennte, dass ich als Ganzer durch die Scheibe hindurch
stürzte.
Ich blutete daraufhin natürlich aus
einigen Schnittwunden relativ stark, ich kann mich noch erinnern, überall am
Boden waren dicke, rote Blutspritzer. Die Rettung wurde gerufen. Ich wurde
eingeliefert. Die Vene im rechten Handgelenk war aufgeschlitzt. Einen Splitter
hatte ich in der Ferse. Je 2 Schnitte hatte ich überdies im Oberschenkelbereich
und am Knie. Plus einige weitere kleine Schrammen und Schnitte im Gesicht.
Die ärgsten Verletzungen wurden genäht.
Und die Narbe am rechten Handgelenk habe ich jetzt noch. Sie schaut ein wenig so
aus, als hätte ich mir dort die Pulsadern aufzuschneiden versucht.
Die im Spital konnten sich freilich
nicht recht erklären, was passiert war, und verdächtigten mich der Schizophrenie, weil ich nur wirres Zeugs
hervorbrachte und teilweise sogar aggressiv wurde, wenn ich den Unfallhergang
erklären sollte.
Franz relativierte das einerseits,
andererseits griff er diese Diagnose gleichzeitig doch mit einer gewissen
Leidenschaftlichkeit auf und mimte – heute sehe ich das – auf ganz
verantwortungslose Weise den Amateurpsychologen. Er erklärte mir: „Nein, nein, schizophren bist du nicht! Höchstens schizoid! Das ist jeder Popstar! Du bist
bizarr!“
Du wiederum hast mich, kaum dass ich
aus dem Spital draußen war, ohne Rücksicht auf die frischen Nähte, weiter
verdroschen. – Und Du hast mich fast wahnsinnig gemacht, indem Du mir gleich
wieder mit Deinem Selbstmord gedroht hast, weil Du keine so schöne Mutter hättest
wie der Junge in dem Film von Louis Malle! Das war damals Dein Lebensthema!
Und Du hast gleich wieder Geld für
Alkohol wollen und ohne Unterlass „Roby
Tuesday“ und „Paint it black“
gespielt, was mich ganz fertig gemacht hat.
Meine Verletzung war Dir total
gleichgültig und Du hast Dir auch nicht die Frage gestellt, was dazu geführt
hat. Du hast das überhaupt nicht kapiert, was da passiert ist!
Ingrid erklärte mir unterdessen am
Telefon: „Ihr könnt’s mich alle am Arsch
lecken!“
Und ich fragte mich natürlich
verzweifelt, ob ich wirklich schizophren sei,
wie die Ärzte im Verdacht hatten.
Erst heute, im Rückblick, wenn ich
diese Tagebuchnotizen durchlese, kann ich das, was damals geschehen ist, viel
klarer und nüchterner verstehen. Ich habe den Ärzten nichts vom Unfallhergang
mitgeteilt, weil ich nicht wollte, dass die etwas von den Streitereien in der
Familie erfahren, erstens, weil ich wusste, dass die das nicht verstehen würden
und es sie auch (das war damals noch meine Meinung) nichts anging – und
zweitens speziell auch, um DICH zu
schützen!
Denn damals, März 1989, war es erst
wenige Monate her, dass der Bezirksrichter Racz vergeblich versucht hatte, Dich
unter Sachwalterschaft zu stellen. Und ich wollte nicht, dass der irgendetwas
von Raufereien in der Familie erfährt und vielleicht einen Grund findet, um wieder
gegen Dich vorzugehen.
Ja, so sehr habe
ich damals zu Dir gehalten!
Dass ich sogar quasi den Wahnsinnigen gespielt habe, damit Du keine
Schwierigkeiten bekommst! So sehr habe ich mich für Dich geopfert! Und Du hast das
überhaupt nicht bemerkt und hast mich weiterhin bloß verdroschen und verdroschen
und verdroschen …
***
Eine andere furchtbare Szene gab es am
4. November 1989. Das war also in der Zeit vor der Gerichtsverhandlung wegen
der schweren Fußverletzung, die Du der Mutter zugefügt hattest. Sie aber war
gerade wieder in der Nervenheilanstalt Gugging (siehe oben).
Wie ich schon berichtet habe, ging
Deine Gewalttätigkeit trotz dieser schrecklichen Resultate ungebrochen weiter. So
etwas wie Reue, Schuldbewusstsein, Besinnung, Einsicht, wie man das bei jedem
normalen Menschen erwarten kann, gab es bei Dir einfach nie.
Du hast mich auch in dieser Zeit weiter
verprügelt und gewürgt und Dinge zerbrochen, wie es Dir gepasst hat, mit der
Begründung, dass alles „wurscht“ sei,
weil Du ja doch nicht die schöne Novotny (Anm: Deine ehemalige Therapeutin vom
AKH) „ficken“ könntest.
Wir sind zusammen einkaufen gegangen,
wir haben gestritten, und Du hast vor allen Leuten auf mich eingedroschen.
Zuhause schleuderte ich wütend das
Geschirrspülmittel und das Waschmittel zu Boden, weil ich mich endlich einmal
nicht mehr zusammenreißen und alles immer nur schlucken wollte.
Ich wollte endlich auch einmal etwas
kaputt machen. Schließlich nahmst Du Dir auch immer dieses Recht heraus, wenn
Dir das passte.
Ich war hungrig, wir hatten nicht sehr
viel für das Wochenende. Und Du erklärtest mir, zur Strafe für mein Verhalten würde
ich keine Salami bekommen.
„Ich schüttete
den Reis aus. Er prügelte auf meinen Kopf ein.“
Und dann drehte ich endlich tatsächlich
durch.
„Ich zerbrach und
zerstörte und wirklich einiges: endlich auch mal zerstören, nicht nur immer er:
ich zerbrach den Besen, warf meinen Multivitaminsaft zu Boden, daß er den Boden
jetzt noch verglennt [verpickt], zerriß das Plastiktischtuch, den Spielkarten (Joker-)deckel
und vielleicht noch mehr.
Dazu heulte und
weinte ich ununterbrochen 1 ½ Stunden mindestens.“
Was für mich aber total unfassbar war,
das war Deine Reaktion auf meinen Nervenzusammenbruch:
„Er, der immer so
viel Verständnis für sich verlangt […], zeigte für meinen Zusammenbruch nicht
das geringste Mitgefühl.
Ja, er blieb
vollkommen ungerührt, richtig cool und schrie mich an, weil ich Dreck gemacht
hatte, und solle er das jetzt zusammenputzen?“
Ich wollte nur meine Ruhe, hatte mich
in die Küche gesetzt und heulte.
„Er machte wieder
Vorwürfe, ich gab sie zurück, mir war schwummerig, nur geheult, nichts
gegessen, er schlug wieder auf meinen Kopf ein. Aber dann hab‘ ich ihm […]
gesagt, er könne sich aufhängen, mir sei es egal.
Er saufe, wieso dürfe
ich nicht mal heulen.“
Und dann hast Du etwas getan, was sehr
typisch für Dich ist, was Du damals oft getan hast, vor mittlerweile fast
dreißig Jahren, und was Du bei unseren letzten Konfrontationen in Wien vor
wenigen Jahren auch noch ganz genauso getan hast.
Das ist einfach dieselbe Masche, seit
dreißig Jahren.
Du hast Dich vor mir aufgepflanzt,
während ich geweint und geheult habe, und mir allen Ernstes erklärt:
„Warum heulst Du?
Du hast ja keine Probleme! Probleme habe doch ich, aber nicht Du!“
Und dann hast Du mir eine Rede
gehalten: Ich hätte keine Neurosen, die
hättest ja nur Du, ich könnte ja ficken, im Unterschied zu Dir (tatsächlich
war ich damals noch ganz genauso einsam und jungfräulich wie Du), Du hättest ja Probleme ganz anderer Dimension,
das verstünde ich eben nicht!
Und Du hast mir erklärt, dass ich keine Argumente hätte! Ich hätte keine
Probleme, die Dir groß genug wären, damit Du deswegen Rücksicht auf mich nehmen
müsstest!
„Und wer hat denn
gerade den Nervenzusammenbruch gehabt?“
wandte ich fassungslos ein.
Deine Antwort:
„Ich habe jeden
Tag einen Nervenzusammenbruch! Also winde Dich nicht so in Selbstmitleid!“
Allein wenn ich heute diese
Tagebucheintragung durchlese, die fast dreißig Jahre alt ist, dann fröstelt es
mich angesichts dieser kalten Brutalität.
Du sagst mir da allen Ernstes direkt
ins Gesicht, ich hätte keine Probleme, währenddessen alles, was gerade vor
Deinen Augen geschieht, doch der Gegenbeweis ist, währenddessen ich unmittelbar
vor Dir zusammenbreche …
So eine gewissenlose, unmenschliche Unverschämtheit
muss man einmal zustande bringen.
***
Einige Stunden später rief Franz an.
Ich muss ihm zu Gute halten, dass er in dieser Situation (was sonst keineswegs
selbstverständlich war) spontan Menschlichkeit zeigte.
„Ohne dass ich es
wollte, fing ich an zu weinen und erzählte von meinem Zusammenbruch.
Er lud mich
ein[,] und ich übernachtete bei ihm.“
Also fuhr ich nach Wien zu Franz und
blieb bei ihm.
Die Krone ist aber, dass Du mir selbst
daraus noch einen Vorwurf machtest: „Hermann
warf mir vor, er müsse sich deswegen besaufen.“
***
Ja, für Dich waren tatsächlich immer die anderen schuld. Immer. Und an allem.
Bloß Du selbst warst nie für irgendetwas verantwortlich.
(Und ich weiß, dass das auch heute noch
Deine Sichtweise ist. Darin erschöpft sich letztlich Dein ganzes Weltbild.)
***
Wie das in der Familie so üblich war,
zerstritten Franz und ich uns freilich binnen kurzem wieder. Er hat überhaupt
nie kapiert, dass es – neben dem Toben unseres Vaters – ganz konkret die
tagtäglich von Dir ausgehende Gewalt war, die mich kaputt machte. Stattdessen
wollte er mir einreden, dass all mein Leiden daher käme, dass ich nicht
Wirtschaft studierte oder mich zum Werbefachmann ausbilden ließ. Ja, er meinte
allen Ernstes, daher kämen alle – meine/Deine/unsere - Probleme.
Und wenn er diese absurden Ansichten
vertrat und ich ihm widersprach, konnte er sehr ungut und aggressiv werden. Da
ich aber einfach nicht Wirtschaft studieren wollte, wurde ich natürlich von ihm
beschimpft und erklärte er mir, ich sei „selbst
schuld“ an allem. U.s.w., u.s.f. Auch das also nur ein Feld unnötiger und
vollkommen absurder Streitereien in dieser Familie.
***
Und jetzt kommt das Erstaunliche: Ich
habe Dir alle Deine enormen Gewalttätigkeiten nie übel genommen. Jedenfalls nie
auf Dauer. Trotz allem, was Du mir antatest, und so sehr ich darunter gelitten habe.
Wenn ich heute in den meine damalige vollkommene
Verwirrung belegenden Tagebucheintragungen jener Zeit lese, dann zeugen sie stattdessen
von einem fortwährenden Verdrängungsprozess.
Einem fortwährenden Verdrängungsprozess
in Bezug auf Deine Gewalttätigkeiten.
Immer wieder findet man in meinen
Tagebüchern diesen Kreislauf:
Wenn Du die Mutter und mich wieder
einmal schwerstens misshandelt und geschlagen hast, dann habe ich mir zwar
jedes Mal zutiefst verbittert geschworen, dass ich nun endlich mit Dir brechen
würde.
Aber einige Zeit später war das schon
wieder ganz vergessen, und dann zeugen meine Tagebucheinträge erneut davon, wie
ungeheuer viel Du mir bedeutet hast, wie sehr ich an Dir gehangen habe und wie
sehr ich Dich retten habe wollen.
So ging das andauernd im Kreis.
Ganz im Gegensatz zu dem, was Du
fantasierst, nämlich dass ich immer nur Dein Feind gewesen sei und Dir immer
nur Böses getan hätte und Du immer nur das arme Opfer gewesen wärst – ist
leider das absolute Gegenteil wahr, habe ich immer eisern zur Dir gehalten, mit
einer, aus heutiger Perspektive, schon erschreckenden Nibelungentreue, und war
in hohem Maße emotional abhängig von Dir – was auch verheerende Folgen
hatte.
Denn ich habe mich von Dir dadurch auch
ungeheuerlich aufhetzen, manipulieren, benutzen und missbrauchen lassen. Und
ich habe darum am Ende überdies Dinge getan, die ich nie hätte tun dürfen und
heute zutiefst bereue.
Ich meine Sachen, die ich unserer
Mutter gegenüber getan habe.
Mit Zähnen und Klauen habe ich Dich wieder
und wieder gegen alle Kritik und Angriffe verteidigt, gegen unseren Vater,
gegen Franz, und auch gegen unsere Mutter. Ja, Du hast mich mit Deinen gehässigen
Tiraden so erfolgreich gegen sie aufgehetzt, dass leider auch ich auf sie
tätlich losgegangen bin. Das ist das Erschreckende, was ich heute sehe, wenn
ich die alten Tagebücher lese.
Jahrelang, ja
jahrzehntelang, selbst über meine Zeit in Baden hinaus, war ich Dir hörig wie
die sprichwörtliche dumme Ehefrau, die immer noch zu ihrem Ehemann hält, egal,
wie oft er sie geschlagen und misshandelt hat, weil sie in ihrer starrsinnigen Liebe
immer noch davon überzeugt ist, dass er nur ein unglückliches Opfer der
Umstände sei, und immer noch an die grundsätzliche Unschuld und Herzensgüte
ihres Peinigers glaubt.
***
Du
hattest, könnte man in Variation davon sagen, bei uns in der Badener Wohnung in
etwa die Rolle inne, die sonst eher der Familienvater hat. Der Familienvater,
der Alkoholiker ist, seine Frau und seine Kinder schlägt und misshandelt und
ihnen vielleicht sogar noch das Geld abknöpft und alles vertrinkt. Das ist ja
das klassische Klischée, wenn man an Gewalt in der Familie denkt.
Bei
uns aber warst Du das.
Den
wirklichen Vater als cholerisch Tobenden, den hatten wir zusätzlich allerdings
auch noch. Der hat aber wenigstens „nur“ nervenzerfetzend und mit Klaus-Kinski-Grimasse um sich gebrüllt.
Auch
noch schlimm genug. So waren wir gleich doppelt und dreifach bedient, im
Verhältnis zum geläufigen Klischée.
***
Unsere
Mutter hat nicht Selbstmord begangen.
Sie ist auch nicht, diese Version wäre euch wohl am liebsten, einfach ihren
Erkrankungen erlegen.
Sie
ist definitiv ermordet worden. Ob das jetzt juristisch hält oder nicht, das ist
mir gleichgültig. Für mich ist das so.
Es
war ein jahrelang andauernder Mord. Ein Mord auf Raten.
Sie
ist freilich nicht von Dir allein ermordet worden, - auch wenn Du eindeutig der
Haupttäter warst. Am Ende ist unsere Mutter von der ganzen Familie in den Tod
getrieben worden, auf eine brutale, grausame und perverse Weise, die wohl
einzigartig dasteht.
Eine
60jährige, schwer kranke und depressive Frau, die jeden Tag beschimpft, erniedrigt,
gedemütigt, geschlagen und misshandelt wurde.
Und
alle haben dabei zugesehen und auf die eine oder andere Weise mitgetan. Alle
haben ihr Blut an Händen kleben.
Ich
wünschte, ich könnte mich davon ausnehmen.
Leider
ist es stattdessen anhand meiner Tagebücher erkenntlich, dass es, zwar
vereinzelt, aber doch, in dieser extremen Rattenkäfigsituation, inmitten all
der herrschenden moralischen Verwahrlosung, in diesem Meer alltäglicher Gewalt,
in der ich nicht mehr den Durchblick hatte (und NIEMAND ihn mehr hatte) auch Momente
gab, in denen ich die Nerven verlor und, wie schon erwähnt, selbst auf sie tätlich
losging und sie erniedrigend beschimpfte.
Im
Unterschied zu Dir bereute ich, auch davon legen meine Tagebücher Zeugnis ab,
das nachher immer zutiefst. Und ich könnte auch andere Entschuldigungen und Relativierungen
anführen.
Aber
das will ich gar nicht. Dann wäre ich ja genauso ein gewissenloser Psychopath
wie Du selbst, der sich immer alles gerichtet hat und stets sofort alle
möglichen Gründe und Erklärungen angeführt und allen Ernstes geglaubt hat,
damit wäre das Grauenhafte, was er getan hat, erledigt.
Nein.
Im Unterschied zu Dir übernehme ich die Verantwortung für mein Handeln. Ich
habe Erklärungen dafür, aber diese
Erklärungen, nun ja, wenn ich Glück habe, mildern sie etwas von meiner großen
Mitschuld ab, aber keinesfalls löschen sie sie aus.
Ich
habe Dinge getan, die ich niemals hätte tun dürfen. Das kann ich erst heute
erkennen.
***
Der
gewaltsame Tod unserer Mutter ist aus dem Kontext extremer verbaler,
psychischer wie körperlicher Gewalt nicht loszulösen, die in unserer Familie
gang und gäbe war. Unsere Mutter hatte das Pech, dass sie dabei die Schwächste
war, diejenige, die sich am wenigsten wehren konnte.
An
ihr haben alle stets ihre schlechte Laune abreagiert, ohne dass sie irgendeinen
nennenswerten Widerstand zu befürchten hatten.
Du
warst auf Lupus wütend, weil der Dich mit seiner Klaus-Kinski-Grimasse niedergebrüllt hat? Hast aber vor ihm selbst
Angst gehabt? Für Dich kein Problem – Du hast stellvertretend auf die Mutter
eingedroschen, ihr die Schuld an allem gegeben und so die Wut rausgelassen.
Du
warst aber da nicht der einzige.
Umgekehrt
hat Lupus ja ganz ähnlich funktioniert. War er Deiner Schulprobleme wegen wütend,
war aber selbst unfähig, etwas daran zu ändern – kein Problem, er hat dann eben
der Mutter die Schuld dafür gegeben und hat sie beschimpft.
Und
mit den älteren Geschwistern war es ganz ähnlich.
So
wurde jahre-, wenn nicht jahrzehntelang, aller Müll auf ihr abgeladen.
Die Mutter ist an allem schuld,
das war eine Parole, die generell von allen (mit Ausnahme von mir, aber mit
Lupus inkludiert) in der Familie schon ungefähr zehn Jahre vor ihrem Tod
ausgegeben worden war, als die Sache mit Deinen Schulängsten begonnen hatte.
Und
über viele Jahre lang wurde das in der Familie immer wieder wiederholt, wie ein
Mantra.
Die
Mutter war der Supersündenbock für alles und jeden.
So
unterschiedlicher Meinung alle in der Familie waren, so sehr alle übrigen sich
auch untereinander dauernd bekriegt und miteinander gestritten haben – in dem
Punkt waren sich alle einig.
Die
Hetz- und Hassreden gegen die Mutter und das abfällige Geschimpfe über sie
waren das tägliche Brot in der Familie.
Und
ihr gegenüber war darum auch alles erlaubt. Jeder hat nach seinem Gutdünken seinen
Frust und seine schlechte Laune, ja seinen blanken, primitiven Hass auf ihr
abgeladen, jeder hat ihr die Schuld für alles und jedes zugeschoben, sie
beschimpft und beleidigt, wie er wollte, weil er wusste, dass sie sich nicht
wehren konnte.
Und
das über viele Jahre lang.
Erst
vor diesem Hintergrund ist es überhaupt verständlich, dass Du Dich derart
ausbreiten konntest, dass Du Dir derartige Gewalttätigkeiten ihr gegenüber
leisten konntest und Dir nie jemand entgegen getreten ist.
Der
Mutter und mir (als zweitschwächstem) gegenüber war das möglich.
Hättest
Du Dir freilich nur einen Bruchteil dessen, was Du uns angetan hast, gegenüber Franz,
Gilla, Ingrid oder Lupus erlaubt, dann … dann hättest Du schnell ein paar
Ohrfeigen von denen gehabt.
Aber
bei denen hast Du Dich freilich das
nie getraut.
Zu Franz
bist Du ja nicht in die Wohnung gegangen, hast seinen Kater gepackt und
geplärrt: „Ich will 100 Schilling für
Alkohol, sonst reiße ich dem Tier die Barthaare aus!“
Nein.
Denn
da konntest Du auf einmal erstaunlich schlau sein. Und Du warst im Grunde ein
Riesenfeigling:
Du
hast Dich immer nur mit Schwächeren
angelegt.
***
Welche
absurden Formen das in unserer Familie so beliebte Spiel des Mutter-Bashings annehmen konnte, zeigt
eine Tagebuchnotiz unserer Mutter vom 16. Oktober 1982:
Ingrid: Telepho: [sic!]
Über Billet an Alfons: Ich
habe ihr kein Billet ins Spital geschickt. Habe als Mutter ständig mein
Kranksein demonstriert. (Auf dem Boden liegen – 1968) Jetzt habe ich d. Hermann
ruiniert.
Da
greift Ingrid die Mutter allen Ernstes an, weil sie ihrem (Ingrids) damaligen
Freund Alfons, der im Spital war, eine Grußkarte geschickt hat!
Das
muss man sich einmal vorstellen!
Jeder
normale Mensch würde sich zuerst einmal dafür bedanken, wenn die Mutter seinem
Partner eine Grußkarte ins Spital schickt!
Unsere
Mutter aber wurde das vorgeworfen!
Wenn
ich das irgendeinem normalen Menschen erzähle, der kann das ja gar nicht
begreifen!
Es
zeigt aber, wie unserer Mutter wirklich aus allem
und jedem ein Strick gedreht
wurde, sogar aus einer gutgemeinten Grußkarte!
Das
muss man sich mal klarmachen! Neidisch auf eine Grußkarte an den eigenen
Partner!
Der
Rest der Tagebucheintragung bietet einen Einblick in die massiven
Beschuldigungen, die in Bezug auf Dich, Hermann, damals andauernd auf die
Mutter niederprasselten. Sie habe Dich „ruiniert“.
Unter
solchen drastischen Ausdrücken wurde ja in unserer Familie gar nicht erst
angefangen miteinander zu reden.
Und
dann wurde ihr fortwährend ihre „Schwächlichkeit“ und „Kränklichkeit“
vorgehalten, als wäre das per se schon ein Verbrechen!
***
Auch
hier in diesem Telefonat mit Franz am 14. Juni 1982.
Da
warst Du gerade krank und konntest nicht nach Wien zu Franz fahren. Da musste Franz
natürlich sofort dafür jemanden beschuldigen. Natürlich die Mutter, denn die war ja immer an allem schuld:
F. ruft an ob H. kommt.
„Er ist immer krank, wie
du“
Ich: Du bist wegen 37 3
eine Woche im Bett
Er: „Fängst wieder an zu
streiten.“
Wohlgemerkt:
Franz ist es, der hier zu streiten beginnt, ganz eindeutig. Und dann bringt er
es fertig, der Mutter vorzuwerfen, sie
hätte angefangen zu streiten!
Denn
die Mutter, die war ja an allem schuld.
***
Das
sind keineswegs bloß Bagatellstreitereien. Das ist massive psychische Gewalt,
die hier andauernd auf unsere Mutter ausgeübt wurde. Was das für Ausmaße
annehmen konnte, zeigt ein anderer Tagebucheintrag unserer Mutter (23. Februar
1980):
Ingrid
böse, weil ich Hermann verbiete, mir immer das Götzzitat zu sagen. Ich: „Werde
doch das Recht haben, ihm das zu verbieten.“
Ingrid:
„Du bist ein Narr, der gar kein Recht auf was hat.“
Ja,
so wurde unsere Mutter tatsächlich von ca. 1980 an bis zu ihrem Tod mehr oder
weniger in unserer Familie behandelt. Als eine Person, die jeder einfach
beschimpfen darf, wie er will, als eine vollkommen rechtlose Person, als
jemand, „der gar kein Recht auf was hat“.
***
Das
ist freilich nur ein allerkleinster, ein allerallerkleinster Ausschnitt der
alltäglichen seelischen Grausamkeiten in unserer Familie, ein allerallerkleinster
Ausschnitt davon, wie regelmäßig mit unserer Mutter geredet wurde, über viele
Jahre lang, wie sie beinahe jeden Tag von oben bis unten beschimpft und
gedemütigt wurde.
Ich
war anfangs anders. Ich war über lange Zeit der einzig Verbliebene, der noch zur
Mutter gehalten hat. Dafür bin ich von euch Geschwistern, insbesondere von Franz
und Dir, ja auch schief angeschaut und verachtet
worden. Du warst sowieso immerzu vom chronischen Neid geplagt, weil Du der
Meinung warst, dass von uns zweien ich der von der Mutter Bevorzugte sei, dass
ich derjenige sei, den sie mehr liebe als Dich, und dass Du der von ihr Benachteiligte
seist. Du hast darum ohnehin einen andauernden krankhaften Grundhass auf uns
beide gehabt, den Du bei jeder Gelegenheit rausgelassen hast, und sei es unter
auch noch so fadenscheinigen Vorwänden.
Ihr alle habt so getan, als sei etwas mit mir
nicht in Ordnung, als wäre ich geistig nicht ganz gesund, ihr habt mich
verhöhnt und verspottet, weil ich nicht mit euch über die Mutter schimpfte,
sondern sie verteidigte. Ich war der „Brave“, der „Musterknabe“, und das habt
ihr mir alle sehr, sehr übel genommen. Deswegen war ich das Feindbild, - das „blasierte
Muttersöhnchen“, der „Kollaborateur“ oder so ähnlich. Franz hat mir mal in
einer Situation am Telefon ganz drastisch vorgeworfen, ich wäre die „ökonomische
Pfeilspitze der Mutter“, nur deswegen, weil sie und ich gerade verhindern hatten
wollen, dass Du alles Geld gewaltsam an Dich nimmst und versäufst!
***
Irgendwann
aber habe ich mich leider von der um mich tagtäglich herrschenden Brutalität
und Gehässigkeit anstecken lassen, habe ich mich von euch aufhetzen lassen und
habe auch über sie zu schimpfen begonnen.
Was
anderes habe ich ja nicht um mich gehört. Ich hatte leider Gottes nicht
genügend Charakterfestigkeit, um mich auf Dauer eurem Einfluss zu entziehen. Meine
eigenen schweren psychischen Probleme nach der Matura kamen dazu. Ich war sehr
labil und hatte viel Hass und Verzweiflung in mir und war darum leider für
vieles empfänglich. Um mich andauernd Gewalt, in vielen Varianten. Und
irgendwann in diesen Jahren, ich weiß nicht mehr, wann genau, habe ich unsere
Mutter mit der gleichen Selbstverständlichkeit als „alte Sau“ bezeichnet, wie Du das immer getan hast.
Heute
schäme ich mich dafür, wenn ich nur daran denke. Damals aber habe ich nicht
kapiert, dass das falsch ist, weil ja andauernd in unserer Familie nur in
solchen Schimpfwörtern und noch ärgeren geredet wurde.
Daraus
bestand im Wesentlichen unsere Kommunikation. Es war eigentlich unmöglich, sich
anders zu unterhalten.
Vor
allem von Dir ist das ausgegangen. Und, wenn auch mit anderem Vokabular, vom
Lupus. Aber im Prinzip haben da alle mitgetan, jeder auf seine Weise.
Es
gab ja tatsächlich genügend Sachen, die kritisch bei unserer Mutter zu sehen
waren, sehr, sehr kritisch sogar. Das will ich gar nicht abstreiten.
Wenn
das nicht der Fall gewesen wäre, dann wäre ich nicht so leicht zum „Überläufer“
geworden.
Aber
nichts, gar nichts, gibt das Recht, einen Menschen so zu behandeln! Es hat Jahrzehnte
gedauert, bis ich das begriffen habe!
Und
erst recht rechtfertigt nichts Deine Gewaltorgien, die Du tagtäglich
veranstaltet hast! Das ist kriminell, was da abgegangen ist!
***
Typisch
für Dich war freilich Deine Reaktion, als ich im Jahr 2013 (25. Februar) einen ohnehin
nur zaghaften Versuch unternahm, mit Dir über Deine Gewalttätigkeiten der
Mutter gegenüber zu sprechen. Du hast mich den betreffenden Satz, so wie es
Deine Art ist, freilich gar nicht zu Ende reden lassen. Stattdessen hast Du
mich unterbrochen und mir beinhart erklärt, dass ich sie umgebracht hätte –
dadurch, dass ich mich von ihr abgewandt hätte.
Im
gleichen Moment hast Du auch nur den Gedanken, dass Du etwas mit ihrem Tod zu
tun haben könntest, als vollkommenen Unsinn zurückgewiesen, mit einer zwar bloß
krankhaften, aber leider sehr trügerischen Selbstsicherheit, gegen die man
nicht ankommt.
Und
dann hast Du gleich höhnisch von den Ohrfeigen geredet, die sie von mir
bekommen hätte.
Du
hast schon immer eine Rhetorik beherrscht, mit der Du binnen Sekunden alle
Schuld auf jemanden anderen abwälzen und denjenigen zutiefst verletzen
konntest.
***
Von
solcher Psychopathen-Selbstsicherheit war ich leider – oder Gott sei Dank –
meistens meilenweit entfernt. Deine Behauptung verunsicherte mich, weil ich um
meine Mitschuld weiß, im Unterschied zu Dir, der Du gar keine Schuld anerkennst,
keine Reue, keine Einsicht kennst und kein Gewissen hast.
So
niederträchtig und wirksam, so durchsichtig ist aber doch auch Deine Rhetorik.
Das ist ja, wie wenn der größte Übeltäter eines Bankraubs dann die Schuld auf
den schiebt, der Schmiere gestanden hat.
Deine
damaligen Äußerungen, also die vom 25. Februar 2013, die ja Teil eines längeren
Gesprächs waren, eines Dialogs, den ich zu führen versuchte, haben mir sehr zu
denken gegeben.
Nachdem
ich jahre- und jahrzehntelang - trotz
aller Streitereien und Auseinandersetzungen zwischen uns, trotz allem, was Du
mir in der Vergangenheit angetan hattest - immer noch prinzipiell zu Dir
gehalten hatte, – ist mir damals zum ersten Mal bewusst geworden, was für ein durch und durch widerwärtiger
Mensch Du eigentlich bist.
Damals
– und nicht in den früheren Jahren, wo ich regelmäßig von Dir verprügelt und
misshandelt wurde – ist mir das erst bewusst geworden.
Denn
solche Äußerungen deuten nicht bloß auf eine schwere psychische Erkrankung.
Sondern überdies auf einen wirklich niederträchtigen Charakter.
***
Besonders
perfid ist Dein Vorwurf an mich unserer Mutter betreffend, weil Du selbst mich
doch über Jahre lang gegen sie aufgehetzt hast und weil Du regelrecht den Hass
auf die Mutter von mir gefordert, ja mir ihn regelrecht angezüchtet hast!
Im
Unterschied zu Dir ist mir trotzdem ihr gegenüber nur wenige Male die Hand
ausgerutscht, - aber wenn das geschehen ist, dann war es immer, weil ich bei
euch zwischen die Fronten geraten bin.
Wenn
ich Dich leiden gesehen habe und Du mir in langen Tiraden erklärt hast, dass unsere
Mutter daran schuld sei. Oder wenn ich Dich vor den Eltern, vor ihr und Lupus schützen
zu müssen glaubte.
Deinetwegen bin ich auf sie
losgegangen, aus Angst und Sorge um Dich, aufgehetzt von Dir. Ich war Dein
nützliches Werkzeug. Dein Idiot. Und jetzt erklärst Du mir mit Häme, dass ja
alle Schuld bei mir läge.
***
Ich
bin damals (1986-90) auf Dich hereingefallen. Das ist die Wahrheit. Ich habe
mich von Deinen Psychospielen durch und durch manipulieren lassen. Das ist mir
erst 2014/2015 beim Studium der alten Tagebücher in seiner ganzen Tragweite
bewusst geworden.
Dass
Du stundenlang ganz herzzerreißend hast weinen, heulen und plärren hast können,
das habe ich schon oben erwähnt. Das war ja das Furchtbare. Du konntest entsetzlich
mitleiderregend sein.
Ich
habe mich total aufstacheln lassen von Deinem andauernden grässlichen Geweine,
Gejaule und Gejammere, dass Du immer der Arme seist und dass die Mutter an
allem schuld sei. Ich habe mich verrückt machen lassen von Deinen permanenten
überdramatisierenden und einseitigen Schilderungen, was sie Dir alles angeblich
angetan hätte. Dein andauerndes selbstmitleidiges Gejeiere und Gezetere über
sie, - was für eine schlechte, schwache
Mutter sie sei, was sie Dir alles Schlimme angetan hätte, dass sie keine
ordentliche starke, schöne, wunderbare Mutter sei, wie Du sie Dir gewünscht
hättest, dass sie Dein Leben verpfuscht hätte – davon habe ich mich damals
leider vollkommen aus der Fassung bringen lassen. Ich war, mit meinen 21
Jahren, nicht in der Lage, das vernünftig zu filtern.
Beispielsweise
als Du mir einmal halb weinend und klagend, halb zornig und zähnefletschend geschildert
hast, wie Du als ungefähr zehnjähriges Kind (vom damaligen Standpunkt also
ungefähr zehn Jahre früher, Ende der 70er Jahre) plötzlich diesen
unerklärlichen enormen Bluthochdruck bekommen hattest und unsere Mutter Dich daraufhin
zu den Ärzten gebracht hatte und wie diese dann nicht verstehen konnten, was
mit Dir los war; wie Du deswegen von einem Arzt zum anderen herumgereicht und schließlich
auf eine Station der Kinderpsychiatrie gebracht worden warst.
Deine
umfangreiche Tirade diesbezüglich habe ich in einem längeren Protokoll
festgehalten, das ich am 18. Dezember 1988 gegen 2 Uhr in der Früh
aufgeschrieben habe.
Die
ganze Niederschrift belegt in ihrem Ton, wie ungeheuer erschüttert und tief
betroffen ich von Deiner Mitteilung war. (Denn ich hatte im Alter von zehn
Jahren ziemlich wenig von dem mitbekommen, was mit Dir geschehen war. Für mich
war das alles darum ziemlich neu.)
Entscheidend
dafür, dass ich mich von Deiner Empörung so sehr mitreißen ließ und Dir das
alles eins zu eins so glaubte, wie Du erzähltest, war aber natürlich der
Umstand, dass dieses Gespräch zwischen uns gerade in den Monaten stattfand, wo
die Rede davon war, dass unsere Eltern Dich entmündigen lassen wollten, und ich
darum ohnehin vollkommen aufgebracht gegen sie war, so dass ich sehr leicht auf
Deine Seite zu ziehen und für solche Horrorstorys ganz besonders empfänglich
war, wie Du sie einem gerne mitgeteilt hast, um zu beweisen, was für ein armes
Opfer Du schon immer gewesen bist.
Etwas
anderes kommt aber noch dazu. Du konntest ja auch leicht wütend werden und mir
eine herunterhauen, wenn ich nicht sofort allem bedingungslos zugestimmt habe,
was Du mir gesagt hast. Das war also ein sehr merkwürdiges emotionales
Abhängigkeitsverhältnis zwischen uns.
Das
ganze sehr umfangreiche Protokoll der Rede, die Du mir damals gehalten hast, kann
ich leider aus Platzgründen hier nicht wiedergeben.
Auch
heute noch klingt vieles davon bizarr und unbegreiflich für mich, - etwa Dein immer
wiederkehrender Hinweis auf starke „Krämpfe
in den Eiern“, die Du schon mit 8 Jahren gehabt hättest und für die kein
Arzt eine Erklärung gehabt hätte.
Natürlich
floss Deine Tirade über von Angriffen auf all die Psychiater und Ärzte, denen
Du alle möglichen Fehler vorwarfst, ja, Du nanntest sie mir gegenüber „arrogante Schwachköpfe“.
Und
dann, last but not least, selbstverständlich die erbitterten Vorwürfe gegen die
Mutter, die nicht fehlen durften, die Du allein für Deine Einweisung in die
Psychiatrie verantwortlich machtest und die nichts als „Schwächedemonstrationen“ geliefert hätte, anstatt dass sie für
Dich da gewesen sei.
***
Damals,
mit 21 Jahren, habe ich mich wie gesagt unter dem unmittelbaren Eindruck Deiner
emotionalen Tirade total aufwühlen lassen, damals war ich von Deiner Erzählung
ganz entsetzt und habe einen ungeheuren Zorn auf unsere Eltern und speziell auf
unsere Mutter entwickelt, freilich auch einen ungeheuren Zorn auf die Ärzte und
Psychiater, die das alles mit Dir gemacht haben.
Erst
2014/2015, als ich das Protokoll wiederfand, war ich imstande, dazu Distanz
einzunehmen und seinen Inhalt vernünftig zu filtern.
Erst
da war ich in der Lage, mir die Frage zu stellen, ob das alles überhaupt so
stimmt, wie Du es mir damals erzählt hast. Besser als damals weiß ich heute,
wie wenig Du auch vor vollkommen Verdrehungen der tatsächlichen Umstände
zurückschreckst, wenn es Dir darum geht zu beweisen, wie „böse“ Dein Leben lang alle anderen immer zu
Dir gewesen wären. Das ist Teil Deiner Psychopathie.
Und
dann las ich mit dieser geänderten, vernünftigeren und distanzierteren Einstellung
beispielsweise diese Passage aus Deiner von mir protokollierten Schilderung:
Er kam deswegen [wegen des
Bluthochdrucks] ins Breyer’sche [richtig: Preyer’sche] Kinderspital. Dort hat
er jede Nacht geweint. Daneben war die Babystation.
Jede Nacht: ‚Wäh, wäh‘ von dort.
Die Babys waren so schrecklich. Sie
hielten ihn die ganze Nacht wach.
Herz-Röntgen wurde gemacht,
Blutuntersuchungen, Blutdruck, Leber, Nieren. Die Gallfy hat ihn hingeschickt.
Es wurde immer versucht, alles
organisch zu begründen.
Für ihn sei es schrecklich gewesen:
einerseits die starke Muttergebundenheit, andererseits dieses [sic!]
Schwächedemonstratationen und Familienstreitigkeiten und Spitalsaufenthalte.
Ich
sehe Dich ja wieder leibhaftig vor mir und höre richtig vor meinem geistigen
Ohr Deine Stimme wieder, wenn ich jetzt diesen Text lese. So getreu habe ich da
Deine Art zu reden wiedergegeben.
Wie
„schrecklich“ alles für Dich gewesen
sei. Die „schwache Mutter“. Ihre „Schwächedemonstrationen“. „Die Babys waren so schrecklich“.
Dieser
ganze dramatisierende selbstmitleidige Tonfall, den Du immer drauf gehabt hast.
Ja,
sicher, Du hast schlimme Dinge
erlebt! Das will ich gar nicht abstreiten. Das stelle ich mir sehr schlimm vor,
da als ungefähr zehnjähriges Kind von den Ärzten herumgereicht zu werden und
dann allein in einem Spital übernachten zu müssen.
Aber
spätestens bei der Stelle, wo Du von den schreienden Babys sprichst, werde ich
kritisch.
Da
schilderst Du sogar diesen banalen Umstand schon wie eine ganz große
Katastrophe. Ganz theatralisch. Als etwas Ungeheuerliches,
was man Dir angetan hat!
Sogar
den Babys hat man Dich ausgeliefert!
Ja,
Hermann, ich bin mir sicher, dass das alles schlimm für Dich war. Mit einer
schwachen Mutter, die nicht wusste, was sie tun sollte. Mit unfähigen Ärzten.
Nein, ich bezweifle gar nicht, dass das alles wirklich „schrecklich“ für Dich war.
Nicht
wahr ist aber, wenn Du behauptest, andere hätten keine so schwache Mutter.
Solche Geschichten gab und gibt es genug.
Daran
ist nichts Besonderes, und weder ist Dein außergewöhnliches Selbstmitleid durch
solche Geschichten gerechtfertigt noch Dein enormer, krankhafter Hass auf die
Mutter, den Du immer mit dem Verweis diese Vorkommnisse gerechtfertigt hast und
immer noch rechtfertigst.
Waren
diese Ereignisse schlimm für einen zehnjährigen Buben?
Ohne Zweifel.
Ist
das aber ein Grund, in der eigenen Mutter einen absoluten Todfeind zu sehen, so
wie Du das immer getan hast?
Ganz gewiss nicht.
Leitet
sich irgendwie daraus das Recht ab, die eigene Mutter tagtäglich als „hässliche, alte Sau“ zu beschimpfen,
sie zu misshandeln und zu verprügeln, wie Du das getan hast?
Nein.
Das
steht ja in keinem Verhältnis zueinander!
Unsere
Mutter war schwach gewesen, Du warst allein im Spital, die Ärzte waren unfähig,
und Du hattest ein paar Babys neben Dir schreien – aber deswegen verdient sie
doch nicht Prügel, Misshandlungen, Folter und Tod!
***
Immerhin
warst Du damals, als Du mir diese Dinge erzähltest, bereits 21 Jahre alt und
eben kein zehnjähriges Kind mehr. Klar, auch immer noch jung, aber doch schon
ein erwachsener Mensch und nicht mehr in einem Alter, in dem man sich
argumentativ immer nur darauf zurück ziehen kann, was einem Leute einmal
angetan haben, als man ein kleines Kind gewesen war.
Genau
das aber war da offenbar der Fall: Du warst in Deiner Selbstwahrnehmung immer
noch auf dem Stand eines kleinen Kindes und spieltest das ewige Opfer, während
Du in Wahrheit damals bereits selbst längst zum gnadenlosen Täter mutiert
warst.
Als
treuer Zwillingsbruder habe ich damals leider diese Selbstinterpretation von
Dir übernommen, habe ich mir das von Dir so einreden lassen.
Erst
2014/2015, mehr als 25 Jahre später, bei der Relektüre dieses Protokolls,
konnte ich die Schieflage der damaligen Perspektive kapieren. Und heute ist die
Diskrepanz ja noch viel offensichtlicher!
Ein
Mann Ende 40, der über seine Mutter, die vor mehr als 25 Jahren seinetwegen in
den Tod gegangen ist, immer noch nur in den vulgärsten Tönen schimpft und auch
seither nicht im geringsten die Verantwortung für sein Leben übernimmt, sondern
stets allen anderen die Schuld gibt!
Damals, vor 25 Jahren, ja damals, bin ich auf Deine
Selbstmitleidsmasche noch voll reingefallen und habe mich davon voll
manipulieren lassen.
Heute
nicht mehr!
***
Damals
war es leider freilich noch anders. Damals habe ich mich von Dir verrückt
machen lassen. Und jetzt kommt noch das Grauen all dieser Jahre mit Dir hoch,
wenn ich solche Tagebucheintragungen lese:
19.
Februar 1988:
„Weil es jetzt dunkel wird, fängt Hermann wieder an, auf
seine entsetzliche Art zu heulen.“
***
Oder
genauso einige Tage vorher, am 12. Februar 1988:
„Hermann sitzt wieder in seinem Zimmer (liegt) und heult wieder auf seine
entsetzliche Art – wie nach dem Ödipus-Film; laut, schluchzend depressiv und
dabei sprechend, wobei für mich, der ich ihn kenne, auch eine latente
Aggressivität dahintersteckt, so daß ich fast Angst habe, er knallt mir gleich
eine oder haut alles zusammen. […] Ah – jetzt geht er auf’s Klo und speibt. Ja,
er hat viel gesoffen heute – und gestern. […] Und schon all die letzten Wochen
belastet ihn verstärkt der Haß auf die Oberin und ihre Passivität und daß er
gerne eine ganz andere, schöne, gemeinschaftliche Mutter hätte – sein
Ödipuskomplex.“
Ich
kann auch hier unmöglich den ganzen Tagebucheintrag wiedergeben, der sehr
drastisch, wirr und schwer verständlich ist, überhaupt für einen Außenstehenden.
Aber er zeugt von meiner vollkommenen Zerrissenheit und Hilflosigkeit
angesichts Deiner perversen Ausbrüche, weil ich überhaupt nicht verstand, was
da überhaupt passierte und was da mit Dir los war.
Auf
der einen Seite das Mitleid mit Dir, auf der anderen Seite der Ärger über Dich,
der Zorn darüber, wie Du Dich da gehen lässt; und natürlich deswegen die
wüstesten Streitereien mit Dir.
„Und anstatt zu schauen, daß er was für sich tut, um
rauszukommen, heult er dauernd deswegen, weil die Oberin so eine schlechte
Mutter ist, weil sie nicht auf sich achtet, weil er keine richtige Mutter hat,
etc.
Und diesen Frust reagiert er an der Oberin ab und
bespuckt sie.“
Mein
Verhalten in diesen Situationen war bisweilen merkwürdig ambivalent. Auf der
einen Seite habe ich Dich von der Gewalt gegen die Mutter abzuhalten und sie mit
aller Macht vor Deinen Übergriffen zu schützen versucht. Auf der anderen Seite habe
ich mich dann meinerseits von Deinen ganzen Heulereien und Vorwürfen gegen sie
derartig aufpeitschen lassen, dass ich auch auf sie losgegangen bin, sie
beschimpft habe und leider auch tätlich geworden bin.
„‘Ich bin so traurig‘ – heult er.“
In
meiner Hilflosigkeit bin ich auf euch beide losgegangen. Ich habe Dich wütend
angeschrien, habe paradoxerweise mich aber trotzdem gleichzeitig mit Deinen
Vorwürfen gegen unsere Mutter identifiziert und sie ebenso angegriffen:
„Ich habe einen Haß auf ihn, schimpfe ihn jetzt
‚Schwein! Drecksau! Verschwind!‘ Die Oberin habe ich geboxt und angespuckt:
‚Hörst du, wie er heult? Du und der Lupus, ihr Verbrecher?‘“
***
Die
größte Schuld unserer Mutter gegenüber habe ich aber, und daran gibt es nichts
schönzureden, ohne Zweifel im Zusammenhang mit dem schon erwähnten
Körperverletzungsprozess auf mich geladen.
Auch
hier kam die allergrößte Ambivalenz zum Tragen.
Ich
hing ja an euch beiden.
Als
die Mutter von Deinem Tellerwurf schwer verletzt war und Du Dich so viehisch
betragen hast, da war ich zuerst natürlich in furchtbarer und panischer Sorge
um sie. Ich fürchtete um ihr Leben und hatte eine irrsinnige Wut auf Dich. Ich
kritzelte finster in mein Tagebuch, dass Du es büßen würdest, dass Du zu weit
gegangen seist und dass ich nun endgültig mit Dir brechen würde.
Solche
Schwüre gab es in Folge Deiner Gewaltorgien allerdings öfter in meinen
Tagebüchern. Als es dann aber ernst wurde mit Polizei und Gerichtsverhandlung,
bin ich natürlich wieder in das totale Gegenteil gekippt, bin aus Sorge und Angst
um Dich halb wahnsinnig geworden.
Ich
geriet in vollkommene Panik, als die Vorladungen zur Polizei ins Haus
flatterten.
Heute
schäme ich mich zutiefst dafür, wenn ich in meinen alten Tagebüchern lese, dass
ich dann tatsächlich in meiner Hysterie meiner Mutter gegenüber ausgerastet und
massiv gewalttätig geworden bin. Ich habe sie mehr oder weniger in Eigenregie
dazu gezwungen, die Anzeige am Telefon und ebenso schriftlich zu widerrufen.
Ich habe dann sogar persönlich den Brief zur Post getragen. (Tagebucheintrag
24. September 1989.) (Das Gerichtsverfahren konnte dadurch allerdings nicht
mehr verhindert werden.)
Das
war verbrecherisch von mir, und das hätte ich niemals tun dürfen.
Noch
mehr aber schäme ich mich fast, wenn ich lese, wie ich wenige Tage zuvor
(Tagebucheintrag 19. September 1989) mit Dir zusammen auf die Rudolfshofwiese
ging, mich dort von Deinen andauernden abfälligen Reden über die Mutter
aufhetzen ließ, schon ganz genauso wie Du sie für alles Übel in der Familie
verantwortlich machte und dann in Dein wildes Geschimpfe über sie einstimmte,
mit Formulierungen, die ich hier gar nicht wiedergeben mag, so sehr schäme ich
mich heute dafür.
***
Wenn
ich das in meinen alten Tagebüchern lese, dann sehe ich entsetzt, dass das das
Allerböseste ist, was ich in meinem Leben getan habe. Damals jedoch war ich
wirklich davon überzeugt, dass ich das Richtige tue. So verrannt kann man sein.
Ich
glaubte, ich tue etwas Gutes, weil ich Dich damit rette. Dass ich meiner Mutter
gegenüber schlicht nicht das Recht hatte das zu tun, was ich tat, das verstand
ich damals nicht. Ich sah auch nicht voraus, dass sie sich das Leben nehmen
würde.
Dabei
– warst Du mir nicht einmal im Geringsten dankbar dafür oder erkanntest das
irgendwie an, was ich da in dieser prekären Situation tat, um Dich aus der
Misere rauszuholen.
Nein,
Du warst einem nie für irgendetwas dankbar, was man auch für Dich tat. Du hast
nie nach einer allgemein nachvollziehbaren menschlichen Logik funktioniert.
Damals
ging ich so weit, dass ich in dieser schrecklichen Situation meiner eigenen
Mutter in den Rücken fiel, und das um Deinetwillen, aus Angst um Dich. Und ich wurde
dadurch mitschuldig an ihrem Tod.
Ich
habe das Äußerste getan, was ein Mensch für einen anderen eigentlich tun kann,
wenn man von der Hingabe des eigenen Lebens absieht.
An
Deinem Verhalten mir gegenüber hat das nichts geändert. Gar nichts an Deinem
Verhalten hat sich dadurch geändert.
Es
ist weiter gegangen wie zuvor. Weiterhin wurde ich von Dir geschlagen und
misshandelt und Du hast mir weiterhin erklärt, dass ich (zusammen mit der
Mutter) an Deinem Unglück schuld sei. Und das tust Du auch noch heute.
***
Ja,
darin liegt meine Mitschuld, meine Komplizenschaft mit Dir. Das kann und will
ich gar nicht abstreiten. Dass Du aber bei dem Gespräch mit mir am 25. Februar
2013 alle Schuld auf mich abgewälzt hast, das ist perfid. Das Entsetzen, das
tagtäglich in das Gesicht unserer Mutter geschrieben stand, das hatte sie nicht
meinetwegen, das hatte sie Deinetwegen,
aus Angst vor Dir. Weil Du bei jeder Gelegenheit wie ein Tier
über sie hergefallen bist und sie erbarmungslos verdroschen hast. Ich habe
manchmal die Nerven verloren. Aber so etwas habe ich nie getan.
***
Das
Entscheidende war jedoch ganz allgemein der alltägliche lieblose und total
verrohte Umgang in unserer Familie.
Eine
Familie, in der es selbstverständlich war, dass wir beide, Du und ich, uns
gegenseitig als „Schwein“, „Drecksau“,
„Arschloch“, „Beidl“, „Hund“, „Trottel“ u.s.w. beschimpft haben, ohne
Unterlass. (Wobei ich betonen muss: das ist von Dir ausgegangen, nicht von
mir.)
Eine
Familie, in der es selbstverständlich war, dass der Vater jeden Tag in die
Wohnung getreten ist und ansatzlos wie pauschal uns alle als „internationalistisches, sozialistisches,
rotes Drecksgesindel und Lumpenproletariat“ beschimpft und wie ein Irrer
zähnefletschend zu toben begonnen hat.
Eine
Familie, in der es selbstverständlich war, dass Du andauernd zur Mutter „alte Sau“ oder gar „hässliche, alte Sau“ gesagt
hast, - und ich das irgendwann von Dir übernommen habe.
Die
größten Verletzungen haben wir einander und insbesondere der Mutter gar nicht
körperlich zugefügt, sondern mit unseren Reden.
Das
ist es, was unsere Mutter kaputt gemacht hat. Und das hat sie ja dann auch klar
genug in ihren Abschiedsbriefen ausgedrückt, in denen sie uns diese
Beschimpfungen vorgehalten hat.
Sie
war das schwächste Glied von uns allen und ist daran zerbrochen. Sie selbst
hat, nebenbei, nie solche Schimpfworte gebraucht, wie wir übrigen alle das
getan haben. Als einzige in der Familie hat sie sich daran nicht beteiligt.
Aber alle anderen in der Familie haben alle Schimpfwörter, die sie nur hatten,
auf ihr abgeladen.
Selbst
als wir beide, Du und ich, dann schließlich bei ihrem Begräbnis ganz hinten, in
einigem Abstand zu den anderen, nebeneinander getrottet sind, haben wir über
sie geredet und sie dabei noch ein letztes Mal als „Arschloch“ bezeichnet.
So
moralisch verwahrlost waren wir. Erst Jahre später habe ich kapiert, dass man
so von der toten Mutter nicht redet. Ja, gar nicht von der Mutter. Und
eigentlich von gar niemandem.
Heute
schäme ich mich zutiefst dafür.
***
Ruine Raueneck 9. März 2017 – Da
war ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder auf der Ruine Raueneck. Das
war ein merkwürdiges Erlebnis. So vertraut war mir der Ort, so verwachsen damit
fühlte ich mich, weil wir hier als Kinder so oft gewesen waren, und
gleichzeitig war er mir doch so fremd, weil ich so lange nicht da gewesen war.
Beinahe jeden Raum, jede Nische, jeden Stein aber erkannte ich und sah ihn ein
wenig wieder mit den Augen jener Kinder, die wir mal gewesen waren. Was für
Abenteuer das damals gewesen waren!
Da
hat uns unsere Mutter oft hergeführt. Sie allein uns beide.
Und
da wurde mir bewusst, was das für ein Irrtum ist, sie wäre eine schwache Frau
gewesen. Das war sie gar nicht. Sie war eine starke, eine bewundernswerte Frau,
dass sie mit uns beiden solche Sachen unternommen hat. Das macht nicht jede
Mutter.
Wie
viel ist sie mit uns beiden durch die Wälder gestreift! Wie viel hat sie uns
gegeben!
Das
ist alles andere als selbstverständlich. Eine 45-50jährige körperlich schwächliche
und kränkliche Frau, die allein mit ihren beiden kleinen Kindern an solche Orte
wandert – und dann noch diesen finsteren, ungesicherten Turm mit ihnen
hinaufsteigt! Viele würden das nicht wagen. Allein die ganze Verantwortung.
Wenn da den Kindern etwas passiert.
Aber
sie hat es getan.
***
Und
dann denke ich an alle die Mythen und Lügen, die von Dir, von Franz, von Ingrid
und Lupus verbreitet wurden, dass unsere Mutter so eine schwache, faule und
unfähige Frau gewesen sei.
Dabei
hat sie in Wahrheit enorme Dinge geleistet! Mehr als ihr alle zusammen! Während
ihr immer nur genörgelt habt, hat sie wirklich etwas getan. Sie hat am
allermeisten in der Familie geleistet. Hat vier Kinder großgezogen, ohne dass
sie dabei eine Unterstützung von ihrem Mann bekommen hat, ist allein zu den
Ärzten und Ämtern und Schulen gelaufen und hat all die Wege erledigt.
Hat
uns als Babys gewickelt und versorgt und uns am Leben gehalten, während
rundherum nur alle gestritten und gerauft haben und ihr keiner geholfen hat.
Sie hat sich um uns gekümmert, wenn wir krank waren, hat uns gepflegt, wenn wir
Fieber hatten, hat an unserem Bett gewacht, hat uns den Kopf gehalten und den
Kübel hingehalten, wenn wir erbrochen haben, hat uns aus Märchen- und
Kinderbüchern vorgelesen, hat uns Butterbrot gebracht, wenn wir ferngesehen
haben, hat den ganzen Haushalt gemacht, Wäsche gewaschen, hat uns zur Schule
begleitet, hat mit uns die Hausaufgaben gemacht und mit uns gelernt, hat an
langen Winterabenden mit uns Mensch-ärgere-Dich-nicht, Karten oder DKT
gespielt, hat die Katzen versorgt und ist mit ihnen zum Tierarzt gegangen, und,
und, und – während Lupus nichts gemacht hat, keinen Finger gerührt hat, sondern
über alles, was nicht funktioniert hat, nur geschimpft und ihr die Schuld
gegeben und sie auch noch betrogen hat.
Für
alle ihre Leistungen hat sie nicht den geringsten Dank bekommen, von niemandem
von uns, bis an ihr Lebensende nicht. Stattdessen war niemand damit zufrieden
und ist sie dafür beschimpft worden, von oben bis unten, und von allen Seiten.
Vom
Lupus ist sie dafür beschimpft worden, dass wir von seinem Geld leben, von Ingrid,
dass sie selbst schuld sei an ihrem Elend, sie hätte ja daneben arbeiten gehen
und sich unabhängig machen können – von einer Ingrid, die kein einziges Kind großgezogen
hat, selbst sich trotzdem nur von Arbeitslosigkeit zu Arbeitslosigkeit
gehantelt und die meiste Zeit ihres Lebens vom Staat erhalten hat lassen.
Und
zuallerletzt ist unsere Mutter auch noch von Dir misshandelt und geschlagen
worden.
***
Es
stimmt, dass sie einige fatale Dinge gemacht hat, einige sehr, sehr fatale
Dinge. Dinge, die sie niemals hätte tun dürfen. Das sehe ich auch so. Aber
nichts, gar nichts rechtfertigt, mit einem Menschen so umzugehen. Nichts, gar
nichts rechtfertigt, wie man mit ihr umgegangen ist und was man ihr getan hat.
Denn von uns übrigen war keiner um ein Haar besser. Die Fehler, die sie gemacht
hat, die haben wir alle längst gemacht und noch viel mehr.
Nicht
weil sie wirklich die Schuldige gewesen wäre, nicht weil sie wirklich so viel
angerichtet hätte, ist sie die Zielscheibe geworden, sondern weil sie die
Wehrloseste war, weil bei ihr sich ein jeder getraut hat, was er sich bei
niemandem anderen getraut hätte, hat man sie derartig fertig gemacht.
Sie
war der Sündenbock für alles und jeden. Nie hat sie irgendjemandem etwas
recht machen können. Und es war auch vollkommen unmöglich für sie. Weil ja ein
jeder ihr etwas anderes vorwarf und etwas anderes von ihr forderte. Die
Vorwürfe waren doch vollkommen widersprüchlich.
Warfen
die einen (unsere älteren Geschwister) ihr ihre autoritäre Erziehung vor, so warfen die anderen (Lupus und seine
Geschwister) ihr ihre anti-autoritäre Erziehung
vor. Und so weiter und so fort.
Sie
konnte tun, was sie wollte. Schuld war sie immer für irgendwen und am Ende in
den Augen aller. Jeder hat seinen Meinungssud und seinen Müll an ihr abgeladen.
Für
alles und jedes wurde sie verantwortlich gemacht, was jemandem gerade nicht
gepasst hat.
Lupus
hat ihr vorgeworfen, dass sie nach vier Kindern nicht seinem
Balletpüppchen-Ideal entsprochen hat, dass sie sich nicht so gekleidet und so
erotisch hergerichtet und so geschminkt hat, wie er sich das gewünscht hätte, und
dass sie sich nicht mit „Frau Doktor“ anreden lassen wollte, wie er es sich von
einer ordentlichen Ehefrau erwartete.
In
seine Fußstapfen bist Du mit Deinem abartigen Ödipuskomplex getreten, als Du
ihr allen Ernstes einen persönlichen Vorwurf daraus gemacht hast, dass sie
keine so schöne und tolle Mutter wie eine fiktive Figur in einem weltfremden französischen
Film aus den Siebziger Jahren gewesen ist.
Frage:
Wer hat so eine Mutter?
***
Tatsächlich
war auch Dein dauerndes Geschimpfe, dass unsere Mutter so „hässlich“ wäre, ein Blödsinn. Unsere Mutter war nicht hässlich,
nur deswegen weil sie mit ihren 60 Jahren nicht den sexuellen Vorstellungen
ihres perversen 20jährigen Sohnes entsprach. Unsere Mutter hatte schöne, weiche
Gesichtszüge. Aber ihr Leben und ihre Leiden hatten sich halt in ihren Leib und
ihr Gesicht gegraben.
Euer
dauerndes Schauen auf Äußerlichkeiten gibt aber überhaupt zu denken.
Was
immer sie nämlich getan oder nicht getan hat, falsch oder richtig getan hat –
sie hat eine schöne Seele gehabt.
Und
das kann man von euch nicht
behaupten. In euren Seelen wohnt nichts als Hass, Gehässigkeit und Streitsucht.
Ihr (Du, Franz, Ingrid) seid die wahren Erben des Vaters, nicht der Mutter.
***
Abgesehen
davon, dass man sich fragen kann, was das überhaupt soll: Zwei Personen (Lupus
und Du), die ihr selber immer nur mit abstoßender, zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse herumgelaufen seid
– aber ihr habt das Aussehen von jemandem anderen kritisiert!
Wie
pervers ist das denn bitte?
***
Es
hat viele Jahre, ja, Jahrzehnte gedauert, bis ich überhaupt kapiert habe, was
damals alles an Irrsinn geschehen ist.
Deswegen
und aus Zwillingsbruderanhänglichkeit habe ich so lange noch den Kontakt mit
Dir gehalten, trotz allem, auch nachdem ich aus Baden ausgezogen bin.
Heute
hingegen kann ich mich nur mehr mit Grauen von Dir abwenden.
***
Es
war ein langer und schmerzhafter Lernprozess, der das bewirkt hat. Beispielsweise
bei den schon erwähnten Gesprächen am 3. Juli 2013 (siehe oben, im Zuge der Wanderung
zum Steinbruchsee), in denen ich Dir unter anderem den schlichten Vorschlag
unterbreitete, dass Du, mehr als 20 Jahre nach dem Tod unserer Mutter, doch
auch einmal an ihr Grab gehen könntest, mit mir zusammen.
Alles
aber, was ich als Antwort bekam, war Dein mit zorniger, zähnefletschender Klaus-Kinski-Grimasse hervorgestoßenes
Kreischen: „Ja, sag‘ einmal, bist du denn
deppart??!! Warum soll ich denn so etwas tun??!!
Was
ist so jemand für ein Mensch bitte, der so daherredet?
***
Dieses
Treffen mit Dir am 3. Juli 2013 war eine jener Begegnungen mit Dir in den
letzten Jahren, die meine Einstellung zu Dir gekippt haben. Als ich da Deinen gehässigen
Tiraden und Reden zuhörte, da entstand in mir eine solche Abscheu vor Dir, wie
ich sie früher nie verspürt hatte. Niemals, nicht einmal in den schlimmsten
Stunden mit Dir, nicht einmal, als Du mich am ärgsten misshandelt hast in
früheren Jahren, meine Mutter und mich, habe ich so einen Ekel vor Dir gefühlt
wie nach diesem Gespräch am 3. Juli 2013.
Da
habe ich auf einmal so glasklar wie nie zuvor gefühlt, was für ein
entsetzlicher, grässlicher Mensch Du eigentlich bist.
Wahrscheinlich
liegt es daran, dass ich inzwischen einen Abstand zu Dir gewonnen habe, den ich
früher nicht hatte.
***
Ähnliche
Äußerungen hat es ja in Wahrheit schon früher von Dir gegeben. Sätze wie „Aber ja, die alte Drecksau liegt zu Recht
unter der Erde!“ hast Du schon früher über unsere Mutter gesagt.
Und
Du bist leider keineswegs die Ausnahme in dieser Familie. Siehe etwa Franz, der
mich plötzlich im Mai 2014 anrief und, Wahrheiten und Halbwahrheiten mit
totalen Verdrehungen und offenkundigen Fantastereien vermischend, in wütenden
Tiraden über die Mutter herzuziehen und sie zu beschuldigen begann, sogar für
Dinge, die vor 50 Jahren und noch früher geschehen sind!
Was
seid ihr alle für Menschen bitte?
Unsere
Mutter ist einen allergrässlichsten Tod gestorben, einen so entsetzlichen Tod, dass
es kaum mit irgendetwas anderem vergleichbar ist. Eine alte, vollkommen
vereinsamte, schwer depressive, zuckerkranke Frau, die über viele Jahre von der
ganzen Familie beschimpft und gedemütigt, und überdies auch noch im speziellen
von Dir misshandelt und geschlagen wurde, bis sie sich endlich das Leben nahm.
Was
immer sie auch getan hat und selbst wenn sie wirklich all die schweren
Verbrechen, die ihr ihr andauernd vorwerft, begangen hätte – sie hätte allein durch
all ihre Leiden und mit diesem grauenhaften Tod ohnehin zu Genüge dafür bezahlt!
Nirgendwo
aber gibt es bei euch auch nur einen Moment des Innehaltens, der Reue oder
wenigstens der Besinnung, ob das denn recht war, wie ihr mit ihr umgegangen
seid, wie ihr euch verhalten habt.
Keine
Spur der Selbstreflexion bei euch, auch nach Jahrzehnten nicht.
Stattdessen
könnt ihr nicht ablassen, über sie fanatisch zu schimpfen. Sogar fast 30 Jahre
nach ihrem grässlichen Tod verfolgt ihr diese arme Frau immer noch mit eurem
krankhaften Hass und gießt euer Geschimpfe über sie aus.
Was
wollte ihr denn noch bitte?
***
27
Jahre ist unsere Mutter nun tot. Wenn sie wirklich an allem und jedem schuld
gewesen wäre, dann hätten wir übrigen ja seither alle Chance gehabt, es besser
zu machen. Dann müsste ja seither regelrecht das Paradies für uns alle
ausgebrochen sein!
Tja,
komischerweise ist das nicht der Fall.
Dass
das alles doch nicht so einfach war, wie er sich in seinem Kopf zugerechtgelegt
hatte, das musste auch Lupus bald nach ihrem Tod merken.
Wie
oft hatte er nicht unsere Mutter, solange sie gelebt hatte, dafür beschimpft,
dass sie so „dumm“ sei, Dir Geld für Alkohol
zu geben, hatte ihr großsprecherisch ihre „Schwäche“
vorgehalten – ohne zu kapieren, dass sie Dir das Geld nicht einfach freiwillig gab,
sondern Du es häufig genug aus ihr rausprügeltest.
Nun,
kaum war sie tot – machte er plötzlich genau dasselbe! Schleppte Dir den
Alkohol heran und gab Dir Geld für Alkohol!
Oder
er schob, wenn er die Wohnung verließ, mir heimlich Geld zu und flüsterte mir
zu, dass ich es Dir später geben solle – damit Du Dir Alkohol kaufen könntest!
Dazu
eine Stelle aus meiner Tagebucheintragung vom 24. Februar 1991, also vier
Monate nach dem Tod der Mutter, inmitten all des Horrors nicht ohne eine
gewisse Häme verfasst:
Lupus ist auch gut. Oberin
hat er vorgeworfen, sie gewöhne Hermann den Alkohol nicht ab. Jetzt schimpft er
selber nur gehässig: ‚Sauf dich ruhig zu Tode, du Trottel.‘
So
weit zu den Leuten, die immer alles besser gewusst haben als unsere Mutter! Das
ist ein Beispiel, das wirklich so wunderschön die ganze Erbärmlichkeit des obsessiven Mutter-Bashings illustriert, das in unserer Familie jahrzehntelang
betrieben wurde und immer noch betrieben wird!
***
Auch
nach meinem Auszug aus Baden 1991 habe ich mich von Dir über viele Jahre lang
von Dir manipulieren, missbrauchen, beleidigen und beschimpfen lassen, habe
weiterhin Streitereien Raufereien und wilde Prügeleien mit Dir ertragen. Dennoch
habe ich immer noch zu Dir gehalten, aus Bruderliebe und aus einer hartnäckigen
Anhänglichkeit an Dir.
Darum
habe ich mich immer wieder auf Dich eingelassen, habe mich immer wieder mit Dir
getroffen, habe Dich besucht, habe Dir geholfen, wo ich konnte, habe Dir
Freunde zu verschaffen versucht, bin sogar wieder mit Dir verreist und wandern
gegangen.
Obwohl
Du selbst auf den Wanderungen mit mir gestritten und geschimpft hast, aus den
nichtigsten Anlässen, aus bloßen Einbildungen heraus!
Wann
immer Du Hilfe gebraucht und mich verzweifelt angerufen hast, weil Du Geld
gebraucht hast oder etwas auf den Ämtern nicht erledigen konntest oder krank
warst, habe ich Dir aus der Patsche geholfen.
Dennoch
bist Du ungebrochen von einem krankhaften und völlig irrationalen Hass auf mich
besessen und machst nach wie vor die Mutter und mich für Dein Elend
verantwortlich.
Mir
kommt vor, es ist Dir noch nicht einmal bewusst, dass Du ohne mich (und Ingrids
Unterstützung) nicht einmal eine Wohnung hättest, sondern auf der Straße stehen
würdest, und ohne mein Einschreiten auch nachher schon mehrmals delogiert
worden wärst. Beziehungsweise wärst du ohne unsere Hilfe ohnehin schon längst
an den Folgen Deines Alkoholismus allein in Deiner Wohnung gestorben.
Nur
durch unser wiederholtes Einschreiten ist das verhindert worden. 2007 rettete
Dir Ingrids damaliger Mann Georg das Leben, indem er Dich ins Spital brachte.
Ich brach damals Deinetwegen daraufhin sogar die Weltreise ab. Und Deine vermüllte
Wohnung renovierten wir Dir damals auch, sonst wäre es gar nicht einmal möglich
gewesen, dass Du aus dem Spital zurückkehrst.
Was
war Dein Dank dafür? Du hast nur gekeppelt und geschimpft, dass wir zu langsam mit
dem Renovieren wären!
So
wie Du Dein ganzes Leben lang immer nur über andere gekeppelt und anderen
Leuten fortwährend die Schuld gegeben hast, wenn Dir irgendetwas nicht gepasst
hat!
Und
ich weiß von Deinem derzeitigen Psychiater, dass Du ihm die freche Lüge aufgetischt
hast, wir hätten uns damals nicht um Dich
gekümmert!
Das
ist tatsächlich Dein Lebensinhalt: über andere zu keppeln und zu sudern und
anderen die Schuld an allem zu geben!
Was
haben sich Deinetwegen andere Menschen immer wieder den Haxen ausgerissen,
haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um Dir zu helfen! – Und Du hast das
noch nicht einmal wahrgenommen, hast immer nur über sie gekeppelt und
geschimpft, hast sie dafür immer nur mit Hass und Verachtung belohnt!
***
Immer
wieder bin ich auf Dich reingefallen, auf Dich und Deine mitleidsheischende Masche,
auf Dein emotional erpresserisches „Bitte
– BITTE – BIIIITE!“-Gekreisch (das habe ich jetzt noch im Ohr; das konntest
Du ohne Pause hervorstoßen, noch zu Lebzeiten der Mutter, wenn Du Geld für
Alkohol wolltest), auf Deine ganze krankhafte „Ich-bin-ja-so-arm-und-alle-anderen-sind-ja-so-böse-zu-mir!“-Schauspielerei.
Und
immer wieder habe ich es bitter bezahlen müssen.
Etwa
Anfang März 2009, als ich auf einen schrecklichen Hilferuf von Dir sofort alles
liegen und stehen ließ.
***
Damals,
am 2. März 2009, war ich gerade in der U-Bahn, auf dem Weg in die Arbeit. Was
noch dazu kam, das war, dass das wenige Tage vor meiner Schulteroperation war.
Aber
was meine Umstände gerade waren, danach hast Du sowieso nie gefragt.
Zuerst
wollte ich ja gar nicht mit Dir reden und hob nicht ab, weil ich wusste, es
gibt doch wieder nur Streit.
Aber
dann sprachst Du mir auf die Nachrichtenbox.
Und
die hörte ich dann ab.
Was ich hörte, war
entsetzlich. Eine verweinte, um Hilfe flehende Stimme: „Bitte, Ortwin, bitte
heb ab, ich kann nicht mehr, bitte, ich, kann nicht mehr, bitte ich brauche
dringend Hilfe“ – eine zitternde, von Verzweiflung geschüttelte Stimme.
Und
es geht weiter:
Da konnte ich nicht anders.
Ich rief ihn zurück, noch in der U-Bahn. Er, mit ebensolcher Stimme: bitte, ob
ich ihm helfen kann […] Er redete u redete viel, alles verstand ich nicht, aber
er war in einer derartigen Verfassung, daß ich wußte, ich muß ihn heute noch treffen,
es geht nicht anders …
Du
befandest Dich gerade auf der Mariahilfer Straße. Es war nach 18 Uhr, ich hätte
eigentlich gerade den Dienst in meiner Arbeit antreten sollen, aber ich machte
das Unmögliche möglich.
Ich
kam ins Büro, wo ich mich immer bei Dienstbeginn melden musste, ich hatte noch
das Handy am Ohr, als ich eintrat, und Du hast immer noch nicht aufgehört zu
reden und zu reden …
Endlich
musste ich das Telefonat abbrechen, viele Leute waren im Büro – und dann habe
ich mich vor meinem Chef regelrecht auf die Knie geworfen, rang mit den Tränen,
er sah, da ist etwas komisch, er schickte die übrigen raus, dann habe ich ihn
gebeten, dass er mir freigibt, es sei was Schlimmes mit meinem Zwillingsbruder
… und er erfüllte mir die Bitte.
***
Um
ca. dreiviertel sieben trafen wir einander vor dem Thalia.
Nur
wenige Worte zwischen uns, und Deine schleimige „Bitte! Bitte! Ich brauche Hilfe!“ – Freundlichkeit war vorbei.
Du schriest mich an mit rollenden Augen und gefletschten
Zähnen, packtest mich am Kragen und schlugst zu und ohrfeigtest mich, nahmst
meinen Kopf zwischen Deine beiden Hände und klatschtest dagegen …
***
Nicht
ganz so gewalttätig, aber im Prinzip sehr ähnlich artete es aus, nachdem wir am
17. Juli 2013 telefoniert hatten und Du wieder einmal Hilfe von mir gefordert
hattest. Kein Geld, sondern dass ich Dir Essen vorbeibringe, Kartoffeln und
Spaghetti. Du hättest seit Tagen nichts mehr zu essen, klagtest Du.
Das
waren ja an sich nicht sehr anspruchsvolle Wünsche. Charakteristisch war
trotzdem wieder Dein unduldsamer Tonfall und die Selbstverständlichkeit, mit
der Du diese Hilfe von mir fordertest.
Natürlich
gerieten wir schon am Telefon in allerlei unsinnige Streitereien um gar nichts,
so wie das zwischen uns beiden immer der Fall war. Aber am Nachmittag des
folgenden Tages, des 18. Julis also, fuhr ich trotzdem zu Dir nach Rodaun.
Ich
hatte eigens noch nichts selbst für Dich eingekauft, ganz bewusst, weil ich
schon bemerkt hatte, dass Du spezielle Vorstellungen hattest, und wusste, Du würdest
wieder cholerisch werden, wenn ich Dir etwas Falsches einkaufte.
So
gut kannte ich Dich ja schon!
Allerdings
hatte ich der Nachbarin zwei Packungen Nudeln um je einen Euro abgekauft, die
sie gerade über hatte. Noch viel mehr würden wir dann gemeinsam für Dich einkaufen
gehen, dachte ich mir.
Dazu
kam es aber dann gar nicht.
Schon
als ich Dich während der Straßenbahnfahrt anrief und Dir sagte, dass ich auf
dem Weg zu Dir sei und wir dann gemeinsam einkaufen gehen würden, wurdest Du
aggressiv.
„WAS?
ICH DACHTE, DU HAST DAS SCHON!“
schriest Du mich zornentbrannt durch das Telefon an.
Es kostete mich einige Mühe, Dich zu besänftigen.
Als ich zu Dir kam, warst Du gerade dabei,
Zigarettenstummeln vom Gehsteig aufzulesen, um sie fertig zu rauchen …
Aber als ich dann meinen kleinen Rucksack öffnete und Dir
die zwei Nudelpackungen gab, fing der Streit schon wieder an. Denn es waren
Nudeln, die Du nicht wolltest. Hörnchen und Spiralnudeln.
„Ich
habe dir doch gesagt, du sollst SPAGHETTI kaufen!“
Ich war vollkommen perplex, dass Du nicht froh warst,
dass Dir überhaupt jemand etwas zu essen vorbei bringst, wenn Du tagelang
gehungert hast.
Als ich mich zu rechtfertigen versuchte, Dir erklärte,
dass Du doch froh sein solltest, dass ich überhaupt gekommen sei, und Dir
erklärte, dass ich mich mit Pasta eben nicht auskenne, da wurde ich von Dir
freilich als „deppart“ beschimpft.
Und dann behauptetest Du noch, ich hätte das absichtlich gemacht!
Ich schrie Dich dann an, und da war zu merken, dass Du
nahe daran warst, auf mich einzuschlagen.
Er
aber riss sich gerade noch zusammen, starrte mich nur wütend an, stand auf und
ging im großen Bogen um mich weg, gab mir die Nudeln wieder her und zischte,
ich solle verschwinden, und ich solle nie wieder herkommen. Ich sagte nichts
mehr, weil ich wusste, wenn ich jetzt noch was sage, haut er hin.
Also verschwand ich. Was blieb mir anders übrig?
***
Allerdings wollte ich Dich ja trotzdem nicht verhungern
lassen. So sehr Du mich beschimpft hattest, ich war immer noch so großzügig,
dass ich am 20. Juli 2013 allein für Dich einkaufen ging (ich hoffte, diesmal
das Richtige) und es Dir dann um Mitternacht heimlich vor die Wohnungstür
stellte.
3 kg Kartoffeln, 6x500g Spaghetti, 7 Gläser verschiedenes
Sugo, dazu auch 1 Mexikanischen Bohnentopf und 1 Linseneintopf in der Dose.
Irgendeinen Dank bekam ich freilich auch später nie
dafür. Stattdessen warfst Du mir vor, dass ich teure Bio-Produkte gekauft
hätte.
Alles in allem war diese Episode die Neuauflage jener
Episode 30 Jahre zuvor, als Du die Mutter nur deswegen geschlagen und bespuckt
hat, weil sie Dir die falschen Pfefferoni gekauft hat!
***
Das sind freilich nur einzelne Höhepunkte aus einer
ganzen Serie von psychischen wie physischen Gewalttätigkeiten, denen ich auch
nach meinem Auszug nach Baden 1991 ausgesetzt war.
Dein bislang letzter tätlicher Angriff auf mich ereignete
sich am 5. Mai 2014, als Du plötzlich in verwahrlostem Zustand und völlig
betrunken bei meiner Wohnung aufgetaucht bist.
Auch diesmal hast Du ja zuerst total mitleiderregend
gewirkt. Dein Anblick war herzzerreißend. Du hattest eine geschwollene,
gefühllose Hand. Du warst halb verhungert.
Als ich Dir etwas zu essen gab, sind Dir die Tränen aus
den Augen geflossen, und in einer plötzlichen Gefühlsanwandlung hast Du sogar meine
Hand ergriffen und mich stumm und ganz inniglich umarmt.
Ich war zutiefst gerührt.
Leider währte der Frieden nur einige Momente lang.
Ich machte den Fehler, die Kühlschranktür zu öffnen. Da
sahst Du die Flaschen Alkohol, die ich drinnen hatte. (Es waren Geschenke
meiner Kunden, ich selbst würde mir keinen Alkohol kaufen.)
„GIB
MIR! GIB MIR!“
Ich wollte Dir freilich nichts davon geben, weil der
Alkohol sowieso schon Dein Leben zerstört und Dich gesundheitlich ruiniert hat.
Schließlich hast Du Leberzirrhose.
Und dann kam natürlich wieder Dein Wimmern und Jaulen.
„BITTE!
BITTE! BITTE!“
Als ich immer noch nicht nachgab, drängtest Du mich mit
all Deinem Gewicht gegen die Kühlschranktür und bekamst dabei wieder Deine Klaus-Kinski-Grimasse, diesen grässlichen,
zähnefletschenden Gesichtsausdruck, und warst auf einmal voll Wut.
Endlich begannst Du mit mir zu raufen, packtest mich mit
aller Gewalt am Kragen meines Pullovers und versuchtest mich zur Seite zu drücken.
Gott sei Dank kam dann die Nachbarin. Darum musstest Du
aufhören. Allerdings stahlst Du danach doch, ohne dass ich es bemerkte, heimlich
eine Flasche Wein, die ich im Vorzimmer auf dem Regal stehen hatte; um die es
mir besonders leid tat, weil sie ein Erinnerungsstück gewesen war.
***
Jahre- und jahrzehntelang habe ich Deine
Gewalttätigkeiten und tätlichen Übergriffe stets auf das Neue toleriert, verziehen,
vergessen und verdrängt. Dieser Vorfall im Mai 2014 war aber für mich ein
Schlussstrich.
Da erst habe ich so richtig kapiert, dass solche
Gewalttätigkeiten schlicht inakzeptabel sind. So lange habe ich gebraucht, um
so etwas Einfaches zu verstehen!
Wenn 15jährige untereinander derart raufen, dann ist das bis
zu einem gewissen Grad normal, das sehe ich ein. Auch unter 25jährigen oder
sogar 30jährigen kann von mir aus so etwas gelegentlich noch vorkommen.
Aber dass ich mich als 46jähriger mit meinem
Zwillingsbruder derartig prügeln muss – nein.
Und mir wurde klar, wie absurd das ist. Mir wurde
vielleicht zum ersten Mal so richtig bewusst, dass Du als jemand, der Mitte 40
ist, emotional immer noch den Reifegrad eines 14- oder 15jährigen hast, nicht
mehr.
Und vielleicht ist das noch zu hoch gegriffen, manchmal
bist Du auch bloß auf dem Stand eines Kleinkinds oder gar Babys.
In der Folge kam ich zu dem Entschluss, dass ich das
nächste Mal, wenn Du so etwas tust, einfach die Polizei rufen würde – oder
vielleicht sogar schon, wenn Du es wagst, noch einmal zu mir herzukommen.
Du bist ein gewalttätiger Psychopath und gefährlich. Jede
Toleranz Dir gegenüber ist ein Fehler.
Du hast mir ja schließlich auch selbst einmal gesagt (ich
glaube, das war bei Deinem diesem Vorfall vorangehenden Anruf, am 1. Mai 2014),
Du fürchtest, dass Du mich umbringen
könntest, wenn wir uns treffen.
***
Ich weiß auch, dass jedes weitere Gespräch zwischen uns beiden
nur mehr sinnlos ist. Ich habe mehrfach versucht, mit Dir über Dein Benehmen zu
sprechen und Dich auch auf Deine Gewalttätigkeiten hinzuweisen.
Du leidest aber an einer solch schweren Soziopathie, dass
Du unfähig zu jeder Einsicht in Deine eigene Verantwortung bist.
Ein kleiner Ausschnitt aus dem Tagebuch vom 10. Mai 2014,
als ich mit Dir telefonierte und Dich auf Deine körperliche Attacke und den
Diebstahl am 5. Mai ansprach:
Er sagte, er habe Erklärungen [dass Du den Alkohol
unbedingt gebraucht hast] – aber ich würde ja dann glauben, dass er sich
entschuldigen will!
Ich: Entschuldigung oder Erklärung, egal, es seien
jedenfalls Erklärungen, wie er sie bei anderen nicht gelten lässt.
Er: Ich bin euch gegenüber in der schwächeren Position …
Da platzte mir der Kragen.
Ich: Jaja, ich weiß, der Lupus war auch immer das Opfer …
Ich glaube, das war, wo er dann auflegte.
So verlieren sich alle Versuche, mit Dir zu
kommunizieren, nur in vollkommen absurden und kafkaesken Dialogen, bei denen
letztlich herauskommt, dass Du immer das vollkommene unschuldige Opfer bist und
der andere für alles verantwortlich ist, selbst wenn Du ihn gerade tätlich
angegriffen hast – auch Dann bist Du Deiner eigenen Auffassung nach so
unschuldig, dass dafür nicht einmal die geringste Entschuldigung notwendig ist!
Bei anderen, bei der Mutter und mir etwa, hast Du allerdings
weder Entschuldigung noch Erklärung noch sonst irgendetwas gelten lassen.
Da hast Du gleich gebellt: „Das ist keine Entschuldigung …“ , wenn jemand Dir etwa erklären
wollte, wieso er das und das so oder so getan hat, und nicht anders.
Da hat es sowieso nur gleich Beschimpfungen und Hiebe
gehagelt, wenn Dir etwas nicht gepasst hat!
Man sieht also, Du hast interessante Begriffe von
Gerechtigkeit.
Baff war ich aber auch bei dem schon erwähnten Gespräch
am 25. Februar 2013, als ich die Rede darauf brachte, wie Du mich im März 2009
auf der Mariahilfer Straße zusammengeprügelt hast.
Deine trockene Antwort war, ich zitiere aus meinem
Tagebuch, „dass das ja nicht stimme, dass
er mich da auf der Mariahilfer Straße zusammengeprügelt hätte.“
Wie soll man mit so einem Menschen noch reden?
Klar. Mir fiel dann wieder ein, dass es schon zu den
Zeiten so gewesen war, als unsere Mutter noch gelebt hatte.
Da war ihr Oberarm übersät mit blauen Flecken.
Aber wenn man Dir gesagt hat, dass Du sie geschlagen
hast, dann hast Du einem voller Überzeugung geantwortet:
„Ich
habe doch niemanden geschlagen! Ich habe sie ein bisschen gestoßen, ihr ein
paar Knüffe gegeben!“
***
Deine schwere Soziopathie, ohne dass ich sie damals aber
schon als solche zu verstehen in der Lage war, zeigte sich auch bei einem Vorfall
an der Raststätte „Ötscherhias“ in den Ötschergräben im Sommer 1999 – ein
Vorfall, der derart absurd ist, dass ich ihn hier unbedingt erwähnen muss.
Du saßest mir gegenüber und klagtest über Franz. Über
irgendetwas, was er Dir gesagt hätte.
Und ich versuchte, Dir ganz besonders geduldig und
teilnahmsvoll zuzuhören und sah Dir geradewegs in die Augen. Ich war zuvor bei
einem buddhistischen Kurs in Frankreich gewesen und hatte dort gelernt, dass
man dem Gegenüber Empathie schenken solle. Darum versuchte ich ganz besonders,
Dir zu zeigen, dass ich für Dich da bin.
Vielleicht hätte ich Dir aber gar nicht so mitfühlend in
die Augen blicken sollen. Vielleicht brachte gerade das Dich durcheinander.
Denn plötzlich hieltest Du inne, sahst mir auch direkt in
die Augen und sagtest mir auf einmal ohne irgendeinen Anlass mit einem ganz verächtlichen
Gesichtsausdruck:
„Aber du
- du bist ja auch ein Trottel!“
Das war einfach zu viel für mich.
Ich hatte schon so viele Beschimpfungen von Dir
geschluckt. Auch bei diesem gemeinsamen Aufenthalt im Mariazellerland war ich ohne
Unterlass von Dir als „Arsch“ und als
„Trottel“ beschimpft worden. Aber nun
war das Maß voll. Nun hielt ich es nicht mehr aus. Nun reichte es mir.
Da stand ich wortlos auf und ging für eine Stunde weg. Ja,
ich rannte einfach weg, ohne mich umzusehen, ohne noch etwas zu sagen, und kam
erst nach einer Stunde wieder.
Als ich wieder zu der Raststätte zurück kam, hörte ich
Dich schon von der Ferne andauernd laut meinen Namen in der Gegend herum rufen.
Offenbar hattest Du das eine Stunde lang getan.
Als Du mich sahst, brachst Du in ein grässliches,
herzzerreißendes Schluchzen aus, plärrtest wirklich wie ein kleines Kind, und sagtest,
Du hattest Angst gehabt, dass ich irgendwo runter gestürzt sei oder mich runter
gestürzt hätte.
Das war ja irgendwo dann wieder rührend und zeigte
immerhin, dass mein Schicksal Dir keineswegs vollkommen gleichgültig war.
Aber freilich erhobst Du nun lauter Vorwürfe gegen mich,
als hätte ich irgendein Verbrechen begangen, weil ich eine Stunde weggewesen
sei und Du Angst um mich hättest haben müssen.
„Das
kannst Du doch nicht machen! Du warst eine Stunde lang weg!“
Natürlich verteidigte ich mich gegen Deine Vorwürfe und
sagte Dir, dass Du doch mich dauernd beschimpfst und wie den letzten Dreck
behandelst, - und wenn ich dann wegrenne, dann sei ich schuld?
Und ich forderte Dich auf, einmal über Dein eigenes
Verhalten nachzudenken.
Da schnittest Du dann freilich wieder Deine hässliche,
verzerrte Grimasse.
„Du,
Oasch, du!“ stießest Du dann zwischen den gefletschten Zähnen hervor.
Und ich dachte schon, im nächsten Moment haust Du mir
eine rein.
Ganz besonders wütend wurdest Du aber dann, als ich
sagte, mein Verhalten hättest Du Dir selbst zuzurechnen.
***
Das ist genau der Punkt. Du bist wirklich nicht imstande
zu verstehen, dass Du mit Deinem Verhalten bestimmte Reaktionen bei anderen
auslöst. Du bist nicht imstande, den Zusammenhang Deines eigenen Verhaltens mit
dem der anderen zu verstehen, kurz gesagt, die Wechselwirkung zwischen Dir und
den anderen Menschen.
Darin besteht im Kern Deine Persönlichkeitsstörung.
***
In umgekehrter Richtung, nämlich dann, wenn es darum
geht, dass Du den anderen die Schuld gibst, legst Du freilich wieder besonderen
Wert auf diese Wechselwirkung. Einer Deiner Vorwürfe lautete nun, dass Du
meines Verhaltens wegen einen dritten Most bestellen hättest müssen, mit
anderen Worten, dass Du Dich meinetwegen betrinken hättest müssen.
Sofort war also wieder ich an allem schuld. Und überhaupt
hätte ich Dir dadurch den ganzen Urlaub verdorben, erklärtest Du mir nun …
***
Du warst ein Bild des Elends und des Jammers, als wir
beide durch die Ötschergräben weiter wanderten. Du warst stockbetrunken,
verzweifelt, wanktest und schwanktest, zogst aber trotzdem rasch vor mir davon,
freilich nur, um immer wieder umzufallen, die Abhänge runter zu rutschen, für
eine Weile mit einem vollkommen entgeisterten Gesichtsausdruck im Gras liegen zu bleiben, dann wieder hinauf
zum Weg zu kriechen und stumm und wortlos weiter zu gehen.
Es zerriss mir das Herz. Es war auch nicht ungefährlich. An
der einen oder anderen steilen Stelle hättest Du hinabstürzen und Dich ernsthaft
verletzen können.
Nachdem wir zu dem Garagendachboden, in dem wir Quartier
hatten, zurückgekehrt waren, schliefst Du rasch auf einer der verstaubten,
alten Matratzen ein.
Als ich Dich als Schlafenden betrachtete, tatest Du mir
so unendlich leid. Wenn Du schläfst, strahlst Du etwas ganz Entsetzliches aus, dann
sieht man all Dein Leiden in Dein Gesicht geschrieben. All Dein Leiden und Dein
Unglücklichsein, all Deine Verletzbarkeit und Verletztheit.
Und Du wirkst wie ein armes, verlorenes, unschuldiges
Kind.
***
Du bist ein großes, armes, verlorenes Kind. Unschuldig
bist Du aber nicht.
Dass Du physisch zwar ein fast 50jähriger Mann, innerlich
jedoch ein 14jähriger bist, das bekam ich auch drastisch vorgeführt, als ich
Dich am 8. Jänner 2015 im Kaiser-Franz-Josef-Spital besuchte.
Da erklärtest Du mir wieder einmal vollmundig, dass Du
mit keinem Menschen irgendetwas zu tun haben wollen würdest, dass Du lieber
ganz allein leben würdest, Du seist sehr gerne einsam, Du seist allein
glücklich, ohne irgendeinen Kontakt zu Menschen. (!!!)
Und dabei bekamen natürlich auch die Personen ihr Fett
ab, mit denen ich Dich eigens bekannt gemacht hatte, damit Du aus Deiner
Isolation heraus kommst. Selbstverständlich warst Du mir nie dankbar dafür. Du
warst immer unzufrieden mit meinen Freunden, denen ich Dich vorgestellt hatte. Waldemar
etwa nanntest Du einmal einen „Clown“.
Nun kam Hilde dran. Ihr warst Du am Donauinselfest im
Sommer 2000 begegnet. Und jetzt, 2015, 15 Jahre später, machtest Du Dich immer
noch lustig über sie:
„Es war eine irrsinnig schlechte Musik. Und da ist sie
gestanden und hat so komisch mit ihrem Hinterteil gewackelt!“
Immer wieder wiederholtest Du diesen Satz hartnäckig und
vor Lachen prustend:
„Wie die da so komisch mit dem Arsch gewackelt hat! Und
du hast dich daneben gestellt und mit deinem komischen Gesicht mitgetan!“
Als ich Dich sah, wie Du da trotz Deiner eigenen schweren
Erkrankung, vom Alkohol und Menschenhass vollkommen zerstört und im Grunde
selbst eine durch und durch lächerliche Figur, im Spitalsbett liegend, so auf
superlustig machtest und mir erklärtest, was für eine alberne Person meine
Bekannte sei und dass es doch klar sei, dass Du mit so jemandem nichts zu tun
haben wollest, da wurde mir nicht nur mit einem Schlag Dein ganzer
unverschämter Hochmut drastisch vor Augen geführt, - sondern auch, dass ich mich
mit einem 14jährigen unterhalte, oder mit jemandem, der emotional auf dem Stand
eines 14jährigen geblieben ist!
Ja, bei Teenagern ist das leider normal, dass sie sich
derart blödsinnig prustend, grinsend, kichernd und lachend über jemanden
aufgrund seines bloßen äußeren Erscheinungsbildes lustig machen.
Aber mit 47 Jahren …
***
Ungefähr ein dreiviertel Jahr zuvor, am 1. Mai 2014,
hattest Du mich (nachdem wir zuvor viele Monate keinen Kontakt hatten)
plötzlich angerufen und durch das Telefon wild gekreischt, dass Du Deine
vollkommene Einsamkeit nicht mehr aushieltest.
Du erzähltest mir, dass Du vor lauter Einsamkeit jede
Nacht bis 4 Uhr in der Früh wie am Spieß schreien würdest, derartig laut, dass
Dich wundere, dass die Nachbarn noch nicht die Polizei geholt hätten. (!!!)
Und dann machtest Du mir diese Schreierei in den
unfassbarsten Tönen gleich am Telefon vor.
So viel dazu, wie sehr man Deine Aussagen, Du seist
allein, ohne jeden Kontakt mit Menschen, glücklich, ernst nehmen darf.
Oder wie sehr man überhaupt irgendwelche Aussagen von Dir
ernst nehmen darf!
***
Dementsprechend ist jede vernünftige Kommunikation mit
Dir unmöglich. Und all die Dialoge und Streitereien, die ich mit Dir seit mehr
als 30 Jahren führen muss, sind ja darum auch vollkommen kafkaesk und unsinnig,
ohne jede Kohärenz.
Du sagst mal etwas, mit felsenfester Überzeugung. Und
wenn wir ein anderes Mal darüber reden, sagst Du mit ebenso felsenfester Überzeugung
das genaue Gegenteil.
Und wenn ich Dich dann auf diesen Umstand hinweise, dann
streitest Du das total ab.
Manchmal widersprichst Du Dir auch schon innerhalb eines
Gesprächs.
Das ist bei Dir ganz wie bei Franz.
***
Als ich Dich etwa am 13. Juni 2013 bei Deiner Wohnung in
Rodaun besuchte, da fingst Du (ganz von selbst) auf einmal von Deiner ehemaligen
Therapeutin Eva Novotny zu reden an.
Nun hast Du Dich schon früher, in den 80er Jahren, aber
auch später, stets nur vollkommen abfällig über sie geäußert, hast Dich
andauernd über sie beklagt, hast mir lange Tiraden darüber gehalten, was sie
alles angerichtet habe, wie unfähig sie gewesen sei, dass sie keine ordentliche
Therapie mit Dir gemacht habe, dass sie bei Dir nur wild herum gedeutet habe,
und vieles andere. Und auch die Ärzte und Psychiater hast Du (siehe die oben
zitierte Tagebuchstelle aus dem Dezember 1988) zusammen mit Novotny ja stets in
langen, heulenden und wimmernden Tiraden alle als Vollidioten hingestellt, die
Dich kaputt gemacht hätten.
Und selbst jetzt (am 13. Juni 2013) sagtest Du mir am
Beginn des Gesprächs, dass Du seinerzeit auf Novotny leider „reingefallen“
seist.
Bis dahin hört sich alles ganz eindeutig an.
Aber das Allerseltsamste geschah genau in dem Moment, als
ich Partei für Dich ergriff und sagte, ich sei wütend auf Novotny, wegen all
dem, was sie Dir angetan habe.
Auf einmal schwenktest Du um 180 Grad um.
Auf einmal begannst Du sie mir gegenüber zu verteidigen!
Aber nein! sagtest Du ganz erstaunt. Du seist doch gar nicht
wütend auf sie! Und auch nicht auf die Psychiater! Die könnten ja gar nichts
dafür!
Und Du konntest Dich nicht einmal daran erinnern, als ich
Dich darauf hinwies, dass Du früher über sie geschimpft hast.
Und dann geschah die für Dich ganz typische Kehrtwende:
Plötzlich bewiest Du mir im Tonfall von jemandem, der die
absolute Wahrheit zu verkünden glaubt und von dem, was er sagt, felsenfest
überzeugt ist, alle meine Einwände hinwegfegend, dass die Ärzte, die Psychiater
und auch Novotny gar nichts für irgendetwas könnten und an allem nur unsere Mutter schuld sei!
***
Fast ein Jahr später, Anfang Mai 2014, als Du, wie schon
oben erwähnt, nach einer längeren Beziehungspause plötzlich zu mir kamst,
schimpftest Du freilich wieder in alter Manier über die Therapeuten. Die hätten
Dich überhaupt so weit gebracht, dass es Dir so schlecht gehe. Und dann sagtest
Du auch über die Novotny, dass sie Dir nicht geholfen habe.
Ich, erstaunt: Ach, letztes Mal hast Du sie verteidigt.
Du, ganz kategorisch: Nein.
***
Ähnlich absurd war es, als Du mir am 25. Februar 2013
plötzlich mit der vollkommensten Überzeugung und in aller Seelenruhe erklärtest:
„Ich hab‘ eh nie Probleme mit Lupus
gehabt.“
Ich war fassungslos.
Da wächst Dir doch Deine Pinocchio-Nase bis zum
Leitha-Gebirge.
Hermann, solche Lügen kannst Du anderen erzählen,
irgendwelchen Fremden, Deinen Psychiatern, den Richtern, wem auch immer, die
mögen Dir das alles abnehmen – aber doch nicht mir, der mit Dir aufgewachsen
ist und alles miterlebt hat!
Nicht mir, bei dem Du Dich schluchzend ausgeweint hast
darüber, dass der Lupus mit Wutgrimasse auf Dich losgegangen ist, als Du nicht
in die Schule gegangen bist! Nicht mir, der auch alle eure späteren
Auseinandersetzungen live miterlebt hat, - wo Lupus Dir beispielsweise erklärte,
die Hunde würden Dich auch noch im Wald finden, wenn Du davon läufst!
Nicht mir, der aus Solidarität zusammen mit Dir 1988/89
über viele Monate außer Haus gegangen ist, sobald der Lupus gekommen ist, weil
wir ihn im Verdacht hatten, dass der gegen Dich gerichtete Antrag auf Sachwalterschaft
auf ihn zurück geht! Da wolltest Du ihm auf keinen Fall begegnen!
Nicht mir, den Du auch nach seinem Auszug aus Baden noch oft
angerufen und in langen Telefonaten angejammert hast, wie gemein der Lupus zu
Dir sei und wie schlimm er mit Dir schimpfe!
Nicht mir, der mit Dir 1994 um den Erlaufstausee
gewandert ist und dem Du während der ganzen langen Wanderung wimmernd Dein Leid
geklagt hast, wie schlecht Dich Amalia und Lupus behandeln und was die sich für
Frechheiten erlauben würden!
Regelrecht aufgestachelt hast Du mich damals gegen die
beiden, so dass ich eine ungeheure Wut auf sie bekam!
Und nun erklärtest Du mir in aller Gemütsruhe, Du hättest nie Probleme mit ihm gehabt!
Aber was ich nun auch einwandte, es war das Übliche, ich
prallte gegen eine Wand, alles drehtest Du so herum, dass es für Dich
passte.
Und Du erklärtest sogar mir, dass ich nie
Probleme mit ihm gehabt hätte!
„Was
hast Du denn für Probleme mit ihm gehabt?!“
fragtest Du mich regelrecht wütend.
Ich fasste es nicht. Du warst doch bei allem dabei
gewesen! Musste ich Dir nun unsere ganze Familiengeschichte nacherzählen?
Mittlerweile ist mir klar, dass Du bei dieser absurden
Unterredung dasselbe in Grün machtest, was unsere älteren Geschwister, Franz und
Ingrid, schon 30 Jahre zuvor gemacht hatten, als sie uns jüngere Geschwister
zuerst über viele Jahre lang gegen die Eltern aufhetzten – nur um uns dann plötzlich
zu erklären, dass wir es eh gut bei ihnen hätten und wir „eh keine Probleme“ hätten!
Das ist Teil der irren Psycho-Spiele und
Manipulationstechniken in dieser Familie. Zuerst wird alles dramatisiert, wird
man von euch in eine künstliche Aufregung versetzt – und dann, wenn ihr einen
endlich so weit habt – dann lasst ihr einen fallen wie eine heiße Kartoffel und
stellt denjenigen wie einen Verrückten hin, der doch nur das sagt, was ihr ihm
zuvor beigebracht habt! Auf einmal ist dann eh alles okay!
***
Das Spiel der Intrigen hast Du dementsprechend immer
bestens beherrscht! Und es hat auch hier lange gebraucht, bis ich das begriffen
habe! Denn ich habe mich jahrzehntelang von Deiner Jammerei in die Irre führen lassen,
- wie Du sie etwa bei einem unserer Treffen 2013 zelebriertest, als Du mir
mitleidheischend darlegtest, Du seist ja in einer Sonderposition, Du seist ja
stets der „Schwächste von uns allen“ gewesen!
Dabei ist das Gegenteil wahr. Tatsächlich hast Du – auch
abgesehen von Deinen physischen Gewalttätigkeiten - immer schon eine ungeheure
Macht auf andere auszuüben verstanden, hast die Familie um Dich im Kreis
gejagt, hast die Leute geschickt gegeneinander aufgehetzt, manipuliert,
gesteuert und getäuscht, auch mich.
So richtig durchschaute ich das erst 2015, während Du im
Spital warst. Da hatte ich eine Unterredung mit Deinem Psychiater.
Und da erfuhr ich von ihm, dass Du Dich bei ihm über uns
beklagt hattest, - also über Deine Geschwister, gemeint waren in dem Fall dem
Kontext nach Ingrid und ich. Du hattest ihm tatsächlich die unverfrorene Lüge aufgetischt,
dass wir uns 2007, als Du in der Psychiatrischen Anstalt auf der Baumgartner
Höhe warst, zu wenig um Dich gekümmert hätten. Und das, nachdem wir uns damals
alle Haxen für Dich ausgerissen hatten!
Den Psychiater hast Du wirklich gut getäuscht. Der
glaubte Dir das wirklich! Und auf einmal musste ich mich vor ihm rechtfertigen!
Was der Psychiater allerdings nicht wusste, das war, dass
Du Dich zuvor ganz umgekehrt bei mir über
ihn beklagt hattest! Du hattest mich in
langen Tiraden angejammert, dass er sich nicht um Dich kümmere!
Und da, in diesem Moment durchschaute ich auf einmal dein
Doppelspiel. Geschickt, dachte ich mir. Du hetzt mich gegen ihn auf, und
gleichzeitig ihn gegen mich. Und Du selbst wirst dazwischen als der „Arme“ betrachtet, als das „unschuldige Opfer“, mit dem alle
Mitleid haben müssen.
Auf einmal kapierte ich, dass Du dieses Spiel in Wahrheit
schon seit jeher getrieben hast. Mit uns allen in der Familie. Bei Franz hast
Du gejammert, wie böse ich zu Dir sei. Bei mir, wie böse Franz zu Dir sei. Franz
war auf mich wütend, ich auf ihn. U.s.w. Und Du warst fein raus.
Du bist so ein richtiger Zwietrachtsäer, wurde mir da
klar, - so ähnlich wie der überall um sich herum permanent Streit auslösende
Römer Destructivus in dem Comicband „Streit
um Asterix“!
***
Mittlerweile habe ich auch einen passenden Namen für
Deine Art und Weise mit mir zu reden: Crash-Rhetorik.
Erst in jüngster Zeit bin ich in den Medien auf diesen
Begriff gestoßen. Damit ist eine bestimmte Redetechnik gemeint, die, vor allem
in politischen Diskussionen verwendet, bewusst darauf abzielt, jedes
vernünftige Gespräch zu zerstören und bloß destruktiv daran zu arbeiten, den
Ruf des Gegenübers zu ruinieren.
Das ist genau das, was Du machst. Es geht Dir immer nur
darum, aus Prinzip dem anderen zu widersprechen und das, was er sagt, zu
entwerten, als vollkommenen Unsinn hinzustellen oder über irgendjemanden
herzuziehen und ihn ins Unrecht zu setzen.
Und es geht Dir immer nur darum zu beweisen, dass Du das
Opfer bist und die anderen schuldig, - ganz gleich, was sie tun, ganz gleich,
was Du tust.
Und dass es Dir immer schlecht gegangen und den anderen
gut gegangen ist.
***
Es war etwa Dir gegenüber nicht einmal möglich, den
einfachen Satz zu formulieren, dass ich von der vielen Gewalt in der
Vergangenheit traumatisiert sei. Ich
versuchte es – und Du erklärtest mir sofort, dass das wertlos sei, was ich da
sage, weil „Trauma“ eine „inflationäre
Diagnose“ sei.
Ein
jeder sei traumatisiert. Du bräuchtest nur den Fernseher aufdrehen, und da kämen
dauernd Menschen vor, die traumatisiert wären, jeder hätte das, alle hätten
das, das sei eine „Gummi-Diagnose“, die Immigranten hätten das, Du sähest das
oft im Fernsehen, in vielen Familien sei das so.
So Deine Aussagen.
Als ich, vollkommen perplex und hilflos, erwiderte, das
sei doch Polemik, da erwiderst Du mir: Nein,
das seien Fakten, und wiederholtest: Das
sähest Du dauernd im Fernsehen, das sei in vielen Familien so.
(Gespräch am 25. Februar 2013)
***
Als wäre mein Trauma jetzt gegenstandslos, weil Du im
Fernsehen andere Leute gesehen hast, die auch Traumata haben!
Das war in etwa die Logik, die Du mir damit verkaufen
wolltest!
Was soll man auf so etwas antworten? Du verhöhnst Deine
Opfer.
Du erklärst mir da seelenruhig und gelehrt, als würdest
Du über den Dingen stehen, Trauma sei eine „inflationäre
Diagnose“, wenn ich von meinen
Leiden spreche, und sprichst mir damit letztlich meine Leiden ab - Du, derselbe Mensch, der, wenn es um seine Leiden geht, in wildesten Tönen wie
ein Kleinkind herum kreischt, er habe ja Phobien,
und das hätte ja von uns niemand, und keiner verstünde das, überhaupt keiner,
gar keiner verstehe das, wir alle würden ja nicht verstehen, wie das sei, wir
würden ja nicht verstehen, dass Du Dich ansaufen müsstest!
***
Was muss man daraus für Schlussfolgerungen ziehen?
„Trauma“ ist also eine „inflationäre Diagnose“ – „Phobie“
aber nicht??
Oder vielmehr, dass Du zweierlei Maß nimmst?
***
Es ist insofern tatsächlich kein Wunder, dass ich im
Laufe dieser Gespräche mit Dir im Jahr 2013 eine immer größer werdende Abscheu
vor Dir entwickelte.
Da habe ich erst allmählich zu durchschauen begonnen, was
für ein Mensch Du eigentlich bist.
Ein Mensch, mit dem ich einfach nicht mehr kann.
***
In Wahrheit, so wurde mir nun erst rückblickend klar, bin
ich dieser perfiden Argumentationsstrategie schon vor 30 Jahren ganz genauso
ausgesetzt gewesen. Das war im Grunde immer schon gleich.
Meine Leiden streitest Du grundsätzlich immer ab und
bagatellisierst sie. Deine eigenen stellst Du als ungeheuerlich hin.
Das zieht sich durch alle Gespräche mit Dir. Seit 30
Jahren und sogar länger.
***
Oder als Du mir, ebenfalls im Zuge dieser Gespräche 2013,
vorhieltest: „Du hast ja keine Probleme
gehabt!!! Du hast doch nie Probleme gehabt!!! Ich habe Probleme gehabt!!! Aber
was hast Du bitte für Probleme gehabt??!!“
***
… Eine alles andere als originelle Rhetorik, denn schon
vor 30 Jahren hat Lupus uns erklärt, dass wir „keine Probleme“ hätten, haben Franz und Ingrid, wenn sie gerade in
der entsprechenden Laune waren, uns erklärt, dass wir beide, Du und ich, „keine Probleme“ hätten, hast Du mir
erklärt, dass ich ja „keine Probleme“
hätte, sondern nur Du …
***
… während ich fast jeden Tag von Dir geprügelt und
misshandelt wurde, während ich Nervenzusammenbrüche hatte, weil ich die
Schreiereien und Wutausbrüche unseres Vaters mit Klaus-Kinski-Grimasse nicht mehr aushielt, während ich tagelang
depressiv im Bett lag und mich nicht mehr zu rühren vermochte – und alles in
allem von all den Gewalttätigkeiten so kaputt war, dass ich noch Jahre nach
meinem Auszug in Baden unwillkürlich den Arm wie zum Schutz hob, wenn mir
jemand in bestimmten Situationen nahe kam, weil ich unwillkürlich das Gefühl
hatte, gleich werde ich geschlagen …
***
Gegen Ende unseres Gesprächs am 25. Februar 2013 teiltest
Du mir außerdem noch grinsend mit, Du hättest
ja Mitgefühl mit mir, Du würdest mir einen Strick geben, damit ich mich
aufhänge, wenn Du einen dabei hättest …
***
So hast Du auch mit unserer Mutter geredet, als sie noch
gelebt hat.
Das hat sie sogar in einem ihrer Abschiedsbriefe, der an
Dich gerichtet ist, dokumentiert:
Danke für den guten Rat, ich
soll beim Fenster rausspringen! Wie lieb, nicht!
Ja, mit unserer Mutter hast Du so geredet, Hermann.
Mit mir aber nicht mehr.
Es reicht.
Nach mehr als 30 Jahren psychischer und physischer
Gewalt, die Du mir angetan hast, reicht es wirklich.
Ich bin fast 50, und so lasse ich nicht mehr mit mir
reden.
***
Dieser Brief an Dich ist darum auch nicht als Versuch
einer neuerlichen Kontaktaufnahme misszuverstehen.
Ganz im Gegenteil: Dieser Brief ist ein Abschied von Dir.
Und ich wiederhole mein Statement, dass ich die Polizei
rufen werde, wenn Du mir noch einmal nahe kommst.
Ich muss mich vor Dir schützen.
Ich war lange genug Dein Opfer, ich will es nicht mehr
sein.
30 Jahre sind genug.
***
Als ich diesen Brief zu schreiben begonnen habe, wusste
ich zwar, dass er umfangreich, aber freilich nicht, dass er derart umfangreich werden
würde.
Und dennoch ist er immer noch entsetzlich unvollständig.
Dennoch fehlen immer noch ganz zentrale Aspekte unserer gemeinsamen Geschichte.
Vieles habe ich nur oberflächlich gestreift.
Lupus etwa, unser eigener Vater, der kommt kaum vor,
obwohl er so ungeheuer wichtig ist für alles das, was geschehen ist, und insbesondere
seine unheilvolle Gestalt allem so eine verhängnisvolle Dynamik verliehen hat.
Er war der einzige Mensch, der sich Deinen
Gewalttätigkeiten entgegenstellen hätte können, der einzige, vor dem Du einen
gewissen Respekt und eine gewisse Furcht hattest.
Er war aber leider selber ein Psychopath. Er hat sich
stattdessen selbst nur wie ein Irrer aufgeführt und mit wutverzerrter Klaus-Kinski-Grimasse getobt.
Er hat sich zwar über alles Mögliche aufgeregt – wobei
das meiste davon nur auf seinen Einbildungen beruhte. (Darin glich er Dir.)
Wegen aller möglichen Kleinigkeiten konnte er keppeln.
Weil ein Bleistift nicht im rechten Winkel lag.
Ich kann mich aber nicht erinnern, dass er irgendwann
einmal ein kritisches Wort zu Dir gesagt hätte, weil Du die Mutter und mich
verprügelt hast.
Das, was nötig gewesen wäre, hat er nie getan.
Das hat alles nur verkompliziert. Hätte man nur einen
Irren in unserer Wohnung in der Antonsgasse toben gehabt, so hätte man
vielleicht irgendwie einen klaren Umgang damit bekommen können.
Aber zwei tobende Irre, jeder auf seine Art – die Mutter
und ich, wir wurden von euch in die Mangel gekommen, zwischen euch beiden
eingeklemmt und aufgerieben.
Ist der Lupus am Abend gegangen und war man den endlich
los, war sein unsinniges Toben vorbei, dann bist Du aus Deinem Loch
hervorgekrochen und wie eine Dampfwalze über einen gerollt, kaum dass man Luft
dazwischen holen konnte.
Gerade war man noch dabei, die irren Reden und
Schreiereien des Vaters zu verdauen, und versuchte zu verstehen, was da
eigentlich geschehen war, schon hast Du Dich vor einem aufgestellt und mit
einem zu streiten begonnen, hast auf einen eingedroschen, und man war schon
wieder mit dem nächsten Psychopathen beschäftigt, mit dem Film, der nun in
Deinem kranken Hirn ablief.
***
Meine eigene schwere psychische Krise, die in den Jahren
nach der Matura voll ausgebrochen ist, kommt ebenfalls in diesem Brief fast gar
nicht vor, obwohl sie ebenso freilich den damaligen Ereignissen eine
zusätzliche, fatale Dynamik verliehen hat.
***
Generell sind darum die Jahre nach meiner Matura, die
Jahre 1986-1991, meiner Meinung nach die Schlüsseljahre unserer
Familiengeschichte geworden. Die Familie war vorher schon schwierig, aber in
diesen Jahren kam zu vieles an negativen Faktoren zusammen, das sich
gegenseitig aufschaukelte und die Situation vollkommen eskalieren ließ.
Die Mutter wurde immer schwächer und brach eigentlich nur
mehr zusammen. Ich, der ich bis zu diesem Zeitpunkt, bis zur Matura, als
einziger in der Familie zu „funktionieren“ schien, verlor ebenfalls plötzlich
den Boden unter den Füßen.
Und im Gegenzug nahmen sowohl Deine als auch Lupus‘
Aggressionen und Gewaltausbrüche immer wildere und schließlich vollkommen
ungezügelte, exorbitante Formen an, ohne dass sich irgendjemand euch beiden entgegenzustellen
in der Lage war.
Hinzu kamen die unseligen Einmischungen von außen,
unserer älteren Geschwister, Franz und Ingrid, die letztlich kaum hilfreich
waren, sondern ebenfalls nur zur Eskalation beitrugen.
Wir wissen, worauf alle diese zunehmende familiäre Gewalt
schließlich gipfelte: im Selbstmord unserer Mutter.
***
Und dann gibt es auch noch die fragwürdige Rolle, die
Gerichte, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, psychiatrische Anstalten,
Sozialarbeiter und so weiter bei all dem spielten.
Auch dieser Aspekt ist nun in meinem Brief zu wenig
beleuchtet. Die Vertreter der Institutionen haben in diesen Jahren vor allem
durch eine vollkommene Inkompetenz geglänzt.
Bei einigen handelnden Personen kamen ihre Anmaßungen und
ihre gewaltige Selbstüberschätzung noch dazu.
Allein wenn ich an diesen unsäglichen, gänzlich ahnungslosen
Bezirksrichter Racz denke, der zuerst große Töne gespuckt und uns alle mit
seiner großspurigen Ankündigung verwirrt hat, dass er Dich unter
Sachwalterschaft stellen und in ein Heim zwangseinweisen lassen würde – noch
bevor er Dich selbst überhaupt zu Gesicht bekommen hatte!
Und dann, als er Dich zum ersten (und letzten) Mal
persönlich gesehen hat, ist er auf einmal um 180 Grad geschwenkt und hat
unserer Mutter erklärt, Du seist vollkommen gesund, er kenne sich da aus, er
sei psychologisch geschult – und er sehe mit einem Blick, Dir fehle gar nichts, Du seist einfach nur „faul“ … !
Das ist ja schon verbrecherisch. Der Mann hätte ja selbst
schon verklagt gehört für den Unsinn, den er angestellt hat.
Allerdings muss man freilich in Rechnung ziehen, dass Du
Dich, wenn es darauf ankam, immer glänzend verstellen konntest. Du hast vor ihm
gut geschauspielt. Und er ist auf Dich reingefallen.
***
Unsere dysfunktionale Familie ist letztlich unter der
Last all dieser Faktoren wie unter einem „multiplen Organversagen“
zusammengebrochen.
Das alles kann man ja in Wahrheit gar nicht beschreiben,
was damals alles geschehen ist.
So wirr, so komplex, so verrückt, so extrem, verworren,
ungewöhnlich und eigenartig ist es, was damals alles geschehen ist, dass ich
dem sogar in diesem Brief, so lang er auch geworden ist, in Wahrheit nicht
gerecht werden konnte.
Im Vergleich zu dem, wie es wirklich war, präsentieren selbst
meine Schilderungen immer noch ein viel zu geglättetes Bild.
Diese Dinge, die damals passiert sind, authentisch
wiederzugeben, würde ein literarisches Geschick erfordern, über das ich nicht
verfüge.
Das kratzt auch an den Grenzen der Sprache. All die
Intensität, all der Irrsinn, diese ganz eigene psychische Welt, in der wir als
Familie damals miteinander gelebt haben, das ist kaum zu beschreiben.
***
Natürlich bist auch Du in diesem Brief einseitig
gezeichnet. Natürlich sagt er auch über Dich nicht die ganze Wahrheit und wird der
Komplexität und dem Facettenreichtum Deiner kranken Persönlichkeit nicht
gerecht.
Du bist ein verbrecherischer Psychopath. Du bist ein
gewissenloser Gewalttäter. Aber Du bist doch nicht nur das.
Ich hätte genauso ganz andere Geschichten über Dich, über
uns beide, erzählen können, die ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil unseres gemeinsamen
Lebens waren. Ich hätte von ganz anderen Arten von Erlebnissen mit Dir berichten
können, die den hier von mir geschilderten manchmal fast zu widersprechen
scheinen.
Episoden, die Deine Feinfühligkeit und Gutherzigkeit
belegen, Dein Mitleid, Dein Mitgefühl, ja, Deinen Charme und Deine Sensibilität.
Ich hätte beispielsweise unsere gemeinsamen ausgedehnten
romantischen Spaziergänge, Radtouren und Wanderungen erwähnen können, die wir
beide als Heranwachsende zusammen beinahe täglich oder jedenfalls mehrmals
wöchentlich unternommen haben. Diese ungeheure Beziehung, die wir beide zur
Natur hatten. Oder unsere gemeinsamen Waldläufe am Donau-Pacour.
Das war ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens, das
haben wir miteinander geteilt, und das hat uns ungeheuer stark verbunden.
Du bist doch schließlich auch der Zwillingsbruder, mit dem
ich als Kind gespielt habe, mit dem und mit Sabine zusammen ich bei den Lassingers
am Bauernhof „Heuhupfen“ gespielt habe und am Traktor gesessen bin, wenn der
Pepi auf das Feld gefahren ist.
Du bist doch auch der Bruder, der mich so viel über Musik
oder Bildende Kunst gelehrt hat, der Bruder, der sich selbst Geige spielen
beigebracht und gemalt und gezeichnet hat, der Bruder, der mich immer auf
besondere Filme aufmerksam machte.
Hätte ich ohne Dich jemals ein Interesse für Jimi
Hendrix, die Rolling Stones oder Italo-Western und Musik von Ennio Morricone
entwickelt?
Du bist der Bruder, mit dem zusammen ich halbe oder
manchmal auch ganze Tage im Wald umherstreunte, wir beide dabei fast schon eins
mit der Natur werdend, wir beide ganz einsam und allein im Wald, abgetrennt von
der übrigen Menschheit.
Wir hatten doch nur uns zwei, wir hatten nur einander.
Wir haben so viel miteinander geteilt.
Diese Erlebnisse mögen der Grund für die ungeheure
Bindung zu Dir sein, die ich mein Leben lang verspürt habe, trotz all Deiner
Gewalttätigkeiten mir gegenüber.
Deswegen habe ich Dir so viel verziehen … immer und immer
wieder verziehen …
Und wenn Du anders drauf wärst, dann könnten wir jetzt,
mit 50, viel mehr auf solche Dinge zurückschauen und uns über solche Dinge unterhalten.
Oder sogar immer noch gemeinsam spazieren und wandern gehen.
Aber Dein Psychopathentum hat das verunmöglicht.
***
Wie Du die Natur wahrnehmen konntest, das hat mich oft
erstaunt. Obwohl Du enorm kurzsichtig warst und Dich stets eine Brille zu
tragen weigertest, so dass Du kaum etwas in der Umgebung erkennen konntest, wenn
Du die Augen nicht mit den Händen zu Schlitzen verzogst, – sahst und erkanntest
Du dennoch seltsamerweise Dinge in der Natur, die ich noch nicht einmal wahrzunehmen
in der Lage war.
Wo ich nur nichtssagende Flecken am Horizont zu sehen vermochte,
da erklärtest Du mir: „Das ist der
Schneeberg, das ist die Rax, das ist die Hohe Wand.“
Wo ich nur irgendeinen Schatten durch die Luft fliegen
oder am Baum sitzen sah, hast Du mir erklärt: „Das ist ein Eichelhäher.“
Oder Du hast mich auf irgendwelche Verbiss- oder
Reibespuren von Rehen an Bäumen aufmerksam gemacht – wo ich gar nichts bemerkt
hätte.
Noch bei einem meiner Besuch 2013 hast Du mir den
Unterschied zwischen hellem und dunklem Thymian erklärt, während ich trotz all
meiner Bemühungen, was über diese Dinge zu lernen, froh wäre, wenn ich
überhaupt einmal Thymian als solchen mit Gewissheit erkennen könnte.
Und ich wunderte mich stets, woher Du das alles weißt.
Ich habe keine Ahnung. Schließlich bin ich mit denselben
Eltern, denselben Büchern und denselben Filmen aufgewachsen wie Du.
Du hast ein Verständnis für die Natur, das mir fehlt.
Wie Du auch immer das Wetter und die Wolken studieren und
die Phänomene benennen und erklären konntest.
Das hatte für mich stets etwas ganz Wunderbares.
***
Wir haben
manchmal auf primitive Weise bloß um eine Dose Bohnensuppe miteinander gerauft
und uns geprügelt, wer die nun essen darf.
Du warst da gelegentlich
ungeheuer grausam und hast mich sogar verspottet, wenn ich krank war und mir selbst
nichts zu essen einkaufen konnte.
Aber Du warst
nicht nur ein Monster. Andererseits hast Du dann auf einmal Anwandlungen
gehabt, wo Du für mich eingekauft, gekocht und mir etwas ans Bett serviert
hast.
Oder sogar
unserer Mutter.
Du warst mir
gegenüber zwar schwerstens gewalttätig.
Aber dennoch
konntest Du mich dann in bestimmten Augenblicken plötzlich gegen die
Feindseligkeiten eines anderen mit einer Vehemenz verteidigen, die überraschend
für mich war.
Ich war Dir
keineswegs egal.
Ich hätte in dem
vorliegenden Brief etwa auch ausführlich eine Episode nacherzählen können, wo
Lupus mich mit einer derartigen Wucht ins Gesicht schlug, dass ich aus der Nase
blutete.
Als Du davon
erfuhrst, gingst Du wütend auf ihn los und schriest ihn an: „Meinen Bruder schlägst Du nicht!“
Bei einer
anderen Gelegenheit nahmst Du mich vor Franz in Schutz. Als ich eine
Augenverletzung vom Tennisspielen hatte, das Badener Krankenhaus sich für
unzuständig erklärte und darüber diskutiert wurde, ob Franz mich mit dem Auto
nach Wien fahren könnte, er aber sich diese Mühe nicht machen wollte – da hast
Du gewaltig mit ihm am Telefon gestritten!
Oder wenn ich
daran denke, wie ich fror, als wir 1996 bei unserer Fußwanderung nach Mariazell
auf etwas größerer Seehöhe übernachteten, und Du mir ganz selbstlos Deine Decke
abgabst …
***
Leider verstandest
Du es in der Regel, diese wunderbaren Momente aufkeimender Solidarität mit mir
auch sofort wieder selbst zu zerstören, noch bevor sie irgendwelche Früchte
hätten tragen können.
Die
Auseinandersetzung mit Lupus war noch kaum vorüber, da hast Du selbst wieder
auf mich eingedroschen, dass mir Hören und Sehen vergangen ist – nur weil ich
ein falsches Wort gesagt hatte.
Und ungeachtet Deines
Eintretens für mich gegenüber Franz am Telefon hast Du mich mehr oder weniger
gleichzeitig daneben geohrfeigt, obwohl ich ohnehin die Augenverletzung hatte.
***
Man darf sich
also angesichts solcher Vorkommnisse nicht über meine eigene vollkommene
Verwirrung und moralische Verwahrlosung verwundern, die ich ja mehrmals in dem
Brief angesprochen habe. Ich war nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, wo
gut und böse ist und zu wem ich halten soll und zu wem nicht.
Du hast die
Mutter und mich geprügelt, die Mutter andererseits hat wieder zu Lupus gehalten
… wie hätte ich mich da noch auskennen sollen?
***
Was alles hätten
wir beide nicht zusammen im Leben schaffen können, wenn wir zueinander gehalten
hätten, wenn Du nicht dem Wahnsinn verfallen wärst, wenn Du in Deiner Paranoia
nicht auf die fixe Idee verfallen wärst, in mir einen Feind zu sehen, wenn Du
nicht dieser Religion des andauernden sinnlosen Hasses und der Gewalttätigkeit
anheimgefallen wärst, die unser Vater wie ein Gift in unserer Familie
ausgestreut hat und die Du in Dich aufgesogen hast …
***
Irgendwann
machte es mir ja auch keine Freude mehr, mit Dir wandern und spazieren zu
gehen, irgendwann nahm ich ja dabei auch nichts mehr von der Natur wahr, weil
Du immer über irgendetwas sudern und keppeln musstest, weil Du immer mit mir über
irgendetwas streiten musstest, weil es nie entspannt sein konnte.
Schließlich
beherrscht Dich immer nur der Hass. Der Hass auf alles und jeden. Du hasst die Menschen, Du hasst das
Leben, Du hasst Dich selbst.
***
Vor zwei Jahren
war ich bei einem Konzert von Ennio Morricone und habe ihn live in der Wiener
Stadthalle gesehen, aus allernächster Nähe.
Ein
eindrucksvolles Erlebnis.
Wenn Du nicht so
drauf wärst, wie Du drauf bist, hätten wir das auch zusammen anschauen und
miteinander teilen können.
So aber war das
unmöglich …
Ich hatte nicht
einmal die Möglichkeit, Dir irgendetwas davon zu erzählen.
Und ich wette
sogar, wenn ich das getan hätte, hättest Du es irgendwie in den Schmutz gezogen
und Dich darüber lustig gemacht.
So ähnlich war
es ja auch, als ich Dir 2013 erzählte, dass ich zum Konzert von Paul McCartney
gegangen war.
„Was, zu der Schwuchtel?!“ war sogleich Dein höhnischer
Kommentar.
***
Der „andere“ Hermann, der darum nicht mehr vorkommen kann,
der gefühlvolle, musische und gutherzige Hermann - der findet jetzt zwar am
Schluss immerhin noch Erwähnung in diesem Brief, konnte aber nicht wirklich
sein Thema sein.
Das ist ein Hermann, den es praktisch nicht mehr gibt,
den hast Du ausgelöscht, der hat gegen Dich verloren.
Du hast mir nur mehr jenen Hermann über gelassen, über
den ich nun die meiste Zeit in diesem Brief geschrieben habe: Den
gewalttätigen, den verrohten Hermann – den Horror-Hermann.
***
Es ist diesem
Brief nicht anzusehen, unter welchen großen persönlichen Schmerzen er
geschrieben wurde.
Noch gewaltiger
waren aber die während des ganzen Prozesses der Ablösung von Dir in den
vergangenen Jahren.
Ich glaube, der
Bruch zwischen uns hat mit Deiner Einlieferung in die Psychiatrische Anstalt
auf der Baumgartner Höhe im Jahr 2007 eingesetzt. Trotz aller erbitterten Streitereien
und schweren Gewalttätigkeiten zwischen uns war bis dahin doch immer noch die
Bindung zwischen uns stärker als das Trennende.
Aber mit den
Auseinandersetzungen rund um Deine Zwangseinweisung änderte sich das. Seither
misstraust Du mir zutiefst und siehst mich als Teil einer gegen Dich
gerichteten Verschwörung.
Als ich Dich
2015 im Spital besucht habe, in das ich Dich neuerlich mehr oder weniger gegen
Deinen Willen bringen ließ, hat mich ja immer noch das Mitgefühl gepackt. Es
hat ungeheuerlich geschmerzt, Dich so zu sehen, zu sehen, was aus Dir geworden
ist, aus dem Zwillingsbruder, mit dem ich so viel geteilt habe, mit dem
zusammen ich aufgewachsen bin und zusammen gelebt habe, aus dem Menschen, dem
ich so nahe war wie sonst niemandem.
Aber ich mache
mir keine Illusionen mehr. Der Bruch zwischen uns ist nicht mehr zu kitten. Dafür
bin ich jedoch nicht verantwortlich. Ich habe immer zu Dir gehalten. Und ich habe
Dir alle Chance der Welt gegeben. Wieder und immer wieder.
Auch wenn Du es
nicht so wahrgenommen hast.
Es gab eine
Zeit, da hätte ich alles für Dich getan – und manchmal habe ich auch alles für Dich getan!
Aber nach und
nach hast Du es geschafft, diese ungeheuren starken brüderlichen Gefühle für
Dich zu zerstören.
Je mehr ich mich
wiederum mit unserer länger zurückliegenden Vergangenheit beschäftige, desto
mehr steht außerdem unsere tote Mutter zwischen uns.
Nicht allerdings
allein der Dinge wegen, die Du ihr in der Vergangenheit angetan hast. Sondern
auch weil Du jetzt noch ohne jeden Respekt von ihr redest, wie von einem Stück
Dreck.
***
Du hast mit
Deinem Wahnsinn mein Leben zerstört. Nun, nicht ganz, aber doch einen großen
Teil davon. Das der Mutter ohnehin. Und nicht zuletzt natürlich auch Dein
eigenes.
***
Obwohl Du auch früher schon, wie ich geschildert habe, zu
absoluten Grausamkeiten fähig warst, habe ich aufgrund der – zugegebenermaßen
spärlichen – Begegnungen zwischen uns in den letzten Jahren außerdem das
Gefühl, dass Du im Vergleich zu damals zusätzlich emotional verkümmert,
abgestumpft und verroht bist.
Das ist auch nicht schwer zu erklären. Wenn man jahre-
und jahrzehntelang in einer solchen absoluten Isolation wie Du lebt, gänzlich
ohne Freunde, ja überhaupt ohne irgendwelche menschliche Beziehungen, und sich
immer nur niedertrinkt bei der geringsten Regung von unangenehmen Gefühlen, ist
das Ergebnis zwangsläufig ein fortschreitender psychischer Verfall.
Du habest 5 Jahre lang mit keinem Menschen gesprochen,
teiltest Du mir 2013 (2014?) mit, als Du nach einer längeren Pause wieder den
Kontakt mit mir suchtest.
Das ist schon sehr drastisch.
Es mag auch etwas mit Deinem erzwungenen Auszug aus Baden
im Frühjahr 2000 zu tun haben. In den 90ern ist es Dir jedenfalls besser
gegangen. Da hast Du auch noch weit mehr unternommen. Da hast Du kurzfristig
sogar gearbeitet und mit mir noch Wanderungen gemacht, ja, sogar eine zweite
Interrail-Reise (1993).
***
Manchmal denke ich mir, Du bist gar nicht mehr mein
Bruder. Du bist nicht der Bruder, mit dem ich aufgewachsen bin. Das bist gar
nicht Du.
Du bist ein Dämon,
der in meinen Bruder gefahren ist.
Ja, ich weiß sehr gut – dieser böse und irre Hermann, den
ich da jetzt in diesem Brief beschrieben habe, das ist nicht der ganze Hermann.
Aber dieser böse und irre Hermann, der hat leider immer
mehr die Oberhand über Dich bekommen – und am Schluss über Dich gewonnen.
Dämon, gib mir meinen Bruder zurück!
***
Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass ich das
alles gar nicht mehr ernst nehmen sollte, was Du sagst oder tust, und erst
recht sollte ich es gar nicht irgendwie persönlich nehmen, - selbst wenn Du unsere
Mutter verhöhnst, mich beschimpfst und mir gegenüber gewalttätig bist.
Du bist nicht nur ein Alkoholiker, sondern auch ein
psychisch schwer kranker Mensch, und als einen solchen sollte ich Dich ansehen.
Und deswegen sollte ich mich wegen nichts mehr bei Dir aufregen.
Aber diese emotionale Distanz habe ich nicht zu Dir.
Deswegen ist es auch gut, dass Du jetzt von fremden
Leuten betreut wirst, die diese emotionale Distanz zu Dir haben.
***
Denn wenn vielleicht auch wahr ist, dass Du so schwer
krank bist, dass Du nicht verantwortlich bist für das, was mit Dir los ist –
ich bin es auch nicht.
***
Bist aber
Du aber wirklich so schwer krank, dass Du ohne jede Verantwortung für das bist,
was Du unserer Mutter und mir angetan hast beziehungsweise immer noch antust?
Bist Du wirklich nicht zur Rechenschaft zu ziehen?
Immerhin hast Du Dich ja erfolgreich gegen alle Anträge
auf Sachwalterschaft behauptet. Das bedeutet also, dass Du trotz Deiner schweren
Persönlichkeitsstörung sehr wohl uneingeschränkte Verantwortung für all Dein
Handeln trägst!
***
Das ist keine abstrakte Frage. Schließlich habe ich
mehrfach in diesem Brief von einem „Mord“
gesprochen und Dich als „Verbrecher“ bezeichnet.
Das meine ich auch so! Und das sage ich jedem und in
aller Öffentlichkeit!
Du bist
nicht weniger ein Verbrecher als beispielsweise ein Josef Fritzl.
Der leidet bekanntlich auch an einer schweren
Persönlichkeitsstörung – ist aber nichtsdestoweniger zurechnungsfähig und
juristisch schuldig für seine Taten.
Irgendwo auf dieser Ebene würde ich Dich einordnen.
Als mir das im Zuge der Lektüre meiner alten Tagebücher
bewusst geworden ist, ist natürlich auch die Frage für mich aufgetaucht, ob es
nicht möglich, oder ob es nicht sogar meine Pflicht wäre, zur Polizei zu gehen
und Dich anzuzeigen oder mir einen Anwalt zu nehmen und Dich der Verbrechen
wegen, die Du vor 30 Jahren begangen hast, anklagen zu lassen.
Und Deine tätlichen Angriffe gegen mich ziehen sich ja
wie gesagt sogar in die jüngere Vergangenheit.
Das sind alles strafrechtlich relevante Delikte, für die
ich Dich zur Verantwortung ziehen könnte – und vielleicht auch sollte.
Diese ungeheure Leidensgeschichte unserer Mutter, die von
unserer Familie seit Jahrzehnten totgeschwiegen wird, sowie Deine
Gewaltverbrechen gehören endlich ans Tageslicht, und Du gehörst endlich dafür
zur Verantwortung gezogen, ja die ganze Familie gehört dafür endlich zur
Verantwortung gezogen.
All dieses Leiden gehört endlich gesühnt und geahndet.
Lupus ist tot. Aber Du lebst noch. Du bist noch greifbar.
***
Meine Mitschuld am Tod unserer Mutter, für den ich ja
ebenfalls mit zur Verantwortung gezogen werden könnte, ist es nicht, die mich
davon abhält, diesen Schritt tatsächlich zu setzen.
Wenn dafür das, was damals geschehen ist, endlich den
Raum bekommen würde, der ihm zusteht, wenn dafür endlich die Verbrechen, die
damals geschehen sind, zur Sprache kämen und Sühne erhielten, dann wäre es mir
das wert.
Nein, das ist es nicht, was mich davon abhält.
Meine Bedenken sind anderer Natur.
Die damaligen Taten sind verjährt. Das Einzige, was nach
einem solch langen Zeitraum nicht verjährt ist, das wäre Mord. Für mich ist das zwar Mord, was damals mit
unserer Mutter gemacht wurde. Nur bin ich mir darüber im Klaren, dass mir darin
kein Staatsanwalt folgen würde.
Darüber hinaus habe ich aber auch kein sonderliches
Vertrauen in die Justiz und weiß, dass ein Gerichtsaal keineswegs der Ort ist,
um irgendwelche tieferen „Wahrheiten“ zu enthüllen und das aufzuklären, was
„tatsächlich“ geschehen ist. So laufen Gerichtsverhandlungen nicht ab. Das
geschieht höchstens in Film und Fernsehen so.
Das, was damals, vor 30 Jahren, in unserer Familie
passiert ist, ist äußerst komplex und verworren und für einen Außenstehenden
kaum zu begreifen. (Für die Innenstehenden genauso schwer, nebenbei.)
Was da wirklich passiert ist, das kann heute keiner mehr objektiv
klären.
Sicherlich, es gäbe meine Aussage und meine Tagebücher. Aber
es bräuchte schon ein außerordentlich fähiges juristisches und psychologisches Personal,
das gewillt sein müsste, sich ganz profund mit unserer Familiengeschichte
auseinanderzusetzen.
Deine Gewaltakte sind ein Faktum, aber wie soll ich sie
30 Jahre später beweisen?
Jeder von uns Geschwistern würde dem Gericht eine ganz
andere Version der Ereignisse auftischen.
Aber selbst wenn ich das alles durchstehen und Erfolg
haben würde – was würde es wirklich bringen, wenn Du ins Gefängnis oder in eine
Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher kommen würdest?
Das Leben der Mutter kann damit nicht mehr gerettet
werden.
Was jedoch mein Rachebedürfnis betrifft – bestraft hast
Du Dich selbst am allermeisten, mehr, als das ein anderer je könnte, durch
Deinen Lebenswandel.
Und es ist auch offensichtlich, dass Du nicht mehr lange
leben wirst.
Deine schlimmsten Feinde waren schließlich nicht andere,
auch wenn Du das immer geglaubt hast. Dein grausamster, wahnsinnigster Feind
warst immer Du selbst.
***
Sehr
wohl behalte ich mir allerdings vor, diesen Brief Freunden zu zeigen oder
online zu stellen oder anderweitig zu veröffentlichen.
Schließlich ist das vorliegende Schreiben ein Dokument.
Ein Beleg unserer grausamen Familiengeschichte und eine Art Beweisstück für
bislang zu Tode geschwiegene Verbrechen und strafrechtlich relevante
Handlungen.
***
Selten, aber doch, kommt es noch vor,
dass ich davon träume, dass wir wieder zusammen im Mariazellerland spazieren
gehen. Ja, manchmal wünsche mir nichts sehnlicher als das!
Es ist ein unerfüllbarer Traum.
Du würdest wieder Zähne fletschen und auf
mich einschlagen, und ich müsste mich wieder mit Dir balgen, und mit 50 Jahren
wird das langsam etwas unwürdig.
Und ich müsste mir wieder jede Menge
von Schimpfereien, Lügen und Verdrehungen sowie Deine gehässigen Reden über die
Mutter anhören, - und anders als früher könnte ich darüber nicht mehr
hinwegsehen.
Denn inzwischen habe ich zu viel von
Dir begriffen. Und es ist inzwischen in mir ein Ekel vor Dir vorhanden, den ich
früher nicht gekannt habe.
***
Die nüchterne Wahrheit ist – fernab
solcher Träume und Sehnsüchte – die, dass
wir froh sein können, wenn wir unsere Leben zu Ende führen, ohne dass einer von
uns den anderen erschlägt!
Das wäre schon viel, das wäre schon
eine großartige Leistung, das wäre schon ein toller Erfolg!
Aber irgendetwas darüber hinaus,
irgendein Wiedersehen oder gar eine Versöhnung, das ist, so wie die Dinge
liegen, undenkbar!
Dafür ist einfach zu viel passiert!
***
Ich mache mir ja auch keine Illusionen
darüber, wie dieser Brief bei Dir ankommt und was Du Dir darüber denkst.
Ich habe schon früher die Kommunikation
mit Briefen versucht, und das Ergebnis war jedes Mal ernüchternd.
Entweder Du hast meine Schreiben gar
nicht gelesen oder alles, was drin gestanden ist, mit wenigen Worten als „kalten Kaffee“ oder „gestört“ abgetan.
Der vorliegende Brief wird diese Note
schon aufgrund seiner Länge von Dir erhalten, das weiß ich.
Ich sehe Dich ja so richtig plastisch
vor mir, wie Du ihn da in der Hand hältst und Dir kopfschüttelnd denkst: „Das
ist ja vollkommen gestört! Das ist ja
vollkommen geisteskrank! Ein solch
ein Spinner! Ein solcher Trottel!“
***
Ich
kenne Deine Reaktionen, die stets die gleichen sind, was immer ich sage. Es ist
Nonsense, Unsinn, Quatsch, Geschwätz, Geschwafel, ich bin ein Trottel, ein Gestörter, ein Spinner, ein
Arschloch … beliebige Schimpfwörter oder sonstige abwertende Wendungen
einsetzbar.
Ich
kenne all Deine Reaktionen, lieber Hermann, die stets die gleichen sind, was immer
ich sage, seit Jahrzehnten!
Jahre-
und jahrzehntelang habe versucht, mit Dir irgendwie zu kommunizieren. – Ich bin
immer wieder gegen dieselbe betonharte Wand geprallt!
Wenn
ich daher ganz einfach nichts gesagt habe, war es Dir aber auch nicht recht.
Wenn
ich jedoch etwas gesagt habe, habe ich in Deinen Augen nur den neuerlichen Beweis
geliefert, dass ich „der Gestörte“
bin!
Und
dann hast Du manchmal gleich auf mich eingedroschen!
Jahre- und jahrzehntelang bin ich Dir trotzdem hinterher
gelaufen, wie ein Vollidiot!
Weil
ich geglaubt habe, es müsse doch irgendeinen Weg geben, Dich so weit zu
bringen, dass Du mir zuhörst, dass Dich das, was ich sage, erreicht und dass
irgendwann einmal ein normales Gespräch zwischen uns möglich ist!
Mehr
wollte ich ja nicht!
Einmal
(25. Februar 2013) habe ich mich sogar so weit erniedrigt, Dir Geld in die Hand
zu drücken, dafür, dass Du mir ruhig zuhörst und mich endlich einmal ausreden
lässt (etwas, was ich schriftlich vorbereitet hatte)!
Ich
habe geglaubt, wenn wir uns ausnahmsweise nicht im raschen verbalen
Schlagabtausch verlieren, sondern ich einmal dazu komme auszureden, dann muss
es doch für Dich nachvollziehbar sein, was ich sagen möchte!
Das
Ergebnis dieses Experiments war ernüchternd und traurig.
Ich
wollte Verständigung zwischen uns. Du aber hast hämisch das Geld eingesteckt, hast
Dich natürlich darüber diebisch gefreut, hast mir zwar gezwungenermaßen zugehört
(konntest allerdings dabei das Grinsen, als wäre es der allergrößte Unsinn, was
ich da vortrage, nicht unterdrücken) – nur damit Dein Urteil nachher genauso vernichtend
war wie eh und je, Du mich augenblicklich, nachdem ich zu Ende war, mit Spott
und Hohn übergossen und für irrenhausreif erklärt hast – und wir erst recht
wieder in der üblichen Manier zähnefletschend miteinander gestritten, uns
angeschrien und uns raufend im Schnee gewälzt haben, auf die erbärmlichste
Weise!
***
Nein.
So etwas mache ich nicht mehr. Auf Verständigung ist dieser Brief nicht mehr
aus. So dumm bin ich nicht mehr.
Inzwischen
erwarte ich mir gar nichts mehr von Dir. Ich erwarte mir nicht einmal, dass Du
diesen Brief überhaupt liest und bis zu dieser Stelle kommst.
Aber
selbst wenn. Ich mache mir nicht mehr die geringsten Hoffnungen, dass Dich
irgendetwas von dem erreicht, was ich hier geschrieben habe.
Du
bist ein Mensch, der auch schon zu weit gegangen ist im Leben. Du bist so weit,
dass Du gar nicht mehr zurück kannst. Würdest Du Dir auf einmal eingestehen,
was Du alles angerichtet hast, würdest Du auf einmal begreifen, was für
Verbrechen Du begangen hast, – Du könntest das ja gar nicht aushalten.
Nein,
die Zeiten sind vorbei, wo ich mit Dir etwas aussprechen zu können glaubte.
Deine
psychische Störung ist zu groß für ein vernünftiges Gespräch, das ist mir
inzwischen klar. Du bist auch gar nicht therapierbar. Das hätten die Ärzte uns
schon damals, als Du 14 Jahre alt warst, mitteilen sollen!
Nein,
Hermann, es ist mir vollkommen scheißegal, was Du von diesem Brief denkst.
Es
ist mir inzwischen wirklich wurscht!
Und
ob ich jetzt 3 oder 30 oder 300 oder 3000 Seiten geschrieben hätte, – Dein
Urteil wäre doch immer das gleiche gewesen.
Jahre-
und jahrzehntelang habe ich irrtümlicherweise geglaubt, ich trage die
Verantwortung für Dich, oder ich sei schuld daran, dass unsere Gespräche
scheitern, und ich müsse etwas an mir ändern!
Jahre-
und jahrzehntelang habe ich mich darum auch von Dir Psychopathen manipulieren,
unterdrücken und in die Irre leiten lassen.
Damit
ist jetzt Schluss.
Ich
erwarte gar nichts mehr von Dir! Außer dass Du stirbst, um es so radikal auszudrücken!
***
Nein,
ich schreibe den Brief gar nicht für Dich – sondern für mich! Ganz egoistisch!
Ich
musste mir das alles von der Seele schreiben, es loswerden.
Bevor
es zu spät ist …
Bevor
es Dich nicht mehr gibt …
Aber
auch unserer toten Mutter war ich diesen Brief schuldig.
***
Aber
ich erwarte mir keineswegs irgendein Verständnis oder Mitleid von Dir, weder
mit der Mutter noch mit mir. Das alles habe ich mir früher gewünscht, jetzt
nicht mehr. Darum schreibe ich das nicht. Ich will Dich von gar nichts mehr
überzeugen und Dich zu nichts mehr bringen. Für Dich ist der Brief Geschwätz
und Geschwafel, ich weiß. Und Du würdest mir alles widerlegen können, daran
zweifle ich nicht.
***
Ich
schicke ihn Dir. Das ist mir wichtig. Was Du aber damit machst, das ist Deine
Sache. Die Verantwortung trägst Du.
***
Ich
weiß, Du hältst den Brief für blöd und für zu lang. Es ist aber mit Sicherheit
besser, seine seelischen Probleme so zu bewältigen, als indem man sich zu Tode
säuft, so wie Du das gerade tust …
***
Ich
habe allerdings keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, wenn es wirklich
einmal mit Dir zu Ende geht.
Und
das kann durchaus bald sein.
Ich
weiß nicht einmal, wie ich an Dein Krankenbett treten könnte.
Du würdest mich noch an Deinem Sterbebett wütend und
hilflos machen, und wir beide würden selbst noch dort
miteinander streiten, aufeinander einhauen und einander würgen.
Das
hört sich zwar witzig an, ist es aber ganz und gar nicht.
Das
alles wird schrecklich werden, ganz schrecklich.
***
Und
unsere Familie ist ja derart zerstritten, dass ich mir schon gar nicht
vorstellen kann, wie wir überhaupt Dein Begräbnis organisieren. Zwischen uns
drei restlichen Geschwistern ist nicht einmal irgendein Gespräch möglich. Ich
will die beiden älteren Geschwister im Grunde auch gar nicht sehen.
Ganz
zu schweigen von der Frage, wo und wie man Dich begraben soll. Dich in das Grab
unserer Mutter zu legen, das hat beinahe etwas Pietätloses, den Menschen, der
ihr so viel Gewalt angetan hat und der immer noch von einem derartig kranken
Hass auf sie besessen ist, ihr dann an die Seite zu legen …
Freilich,
Dir ist das egal, was nach Deinem Tod mit Deinem Körper geschieht, das hast Du ja
oft genug bekundet. Wie für Dein Leben übernimmst Du auch für Dein Sterben
nicht die Verantwortung und lässt die anderen damit zurück.
***
Peinigend ist für mich allerdings der Gedanke, dass Du
sterben wirst, ohne je irgendetwas begriffen zu haben. Weder von dem, was Du
selbst anderen angetan hast, noch überhaupt, was geschehen ist.
***
Es
gibt so viele Dinge zwischen uns, die ich gerne einmal mit Dir ausgesprochen
hätte, ohne Hass und Streit zwischen uns.
Ich
hätte gerne mit Dir über so vieles von der Vergangenheit geredet, über so viele
Dinge, die mich beschäftigen.
Eine
Rolle spielt dabei, dass Du auch das weit bessere Gedächtnis als ich hast.
Natürlich missdeutest Du vieles vollkommen, hast eine verzerrte
Wirklichkeitswahrnehmung, verdrehst die Sachen vollständig und tischst ganze
Gebilde voll Polemik und Lügen auf.
Aber
prinzipiell hast Du das bessere Gedächtnis und kannst Dich an viele Vorfälle
und Details aus unserem Leben erinnern, die mir vollständig entfallen sind. Oft
versuche ich mich zu erinnern, stelle aber fest, dass ich so vieles vergessen
habe.
Du
bist so etwas wie mein Gedächtnis oder könntest es sein.
Doch
auch abgesehen davon würde ich natürlich gerne mit Dir über vieles aus der
Vergangenheit reden und mich gemeinsam erinnern, diese Erinnerungen mit Dir
teilen.
Schließlich
haben wir so viele wichtige Dinge miteinander geteilt, ein halbes Leben haben
wir zusammengeführt, und wir haben so viele Dinge miteinander erlebt, wo gar
kein anderer dabei war, nur wir beide, und ich kann mit gar niemandem anderen
darüber reden.
***
Wie
auch immer – der Traum, solche Gespräche mit Dir zu führen, das ist genauso ein
hoffnungsloser Traum, wie wieder gemeinsam nach Mariazell zu fahren.
Es
ist unmöglich.
Ich
habe versucht, solche Gespräche mit Dir zu führen, habe begonnen, Dich über
bestimmte Dinge auszufragen.
Beispielsweise
habe ich Dich 2013 über die Fußwanderung 1996 nach Mariazell befragt und musste
tatsächlich feststellen, dass Du Einzelheiten darüber im Gedächtnis hast, die
ich vollkommen vergessen und auch nicht im Tagebuch festgehalten habe.
Sehr
weit bin ich aber bei diesen Nachforschungen nicht gekommen. Wir gerieten dann
doch immer ins Streiten.
Vor
allem aber stellte ich dabei erstaunt fest, dass Du vieles anscheinend überhaupt
komplett anders erlebt hast als ich und mir schon deswegen nicht viel weiter
helfen kannst. Es ist schwierig, Dich auf die Aspekte hinzuführen, die mich
interessieren.
***
Mittlerweile
ist aber an solche friedlichen Gespräche zwischen uns ohnehin nicht mehr zu
denken. Es ist auch schon zu vieles und zu Entsetzliches zwischen uns
geschehen, als dass ein Friede möglich wäre.
Zwischen
uns beiden herrscht mittlerweile zu viel Hass. Vor ein paar Jahren, vor 2013,
war das noch ein wenig anders. Aber seit ich kapiert habe, wie sehr ich mich
von Dir habe täuschen, manipulieren und missbrauchen lassen, bin ich nicht mehr
bereit, jene Konzessionen zu machen, die ich früher gemacht habe, als ich alles
von Dir in Kauf genommen habe, aus Liebe zu Dir, - als ich mich beschimpfen und
sogar schlagen habe lassen, als ich dennoch zu Dir gehalten habe und als ich es
zugelassen habe, dass Du schmähend und beleidigend, in den abfälligsten Worten
von unserer toten Mutter geredet hast.
***
Jetzt
habe ich aber – und Jahrzehnte hat es gebraucht! - endlich eingesehen, dass ich
mich vor Dir schützen muss und Deinem inakzeptablen Verhalten so nicht mehr begegnen
kann.
Die
einzige denkbare Möglichkeit, mit so jemandem wie Dir umzugehen, ist für mich
nur mehr, ihn entweder zu meiden – oder die Polizei zu rufen.
Immerhin
kann ich mich damit beruhigen, dass ich keine Schuld an dieser Entwicklung
trage.
Das
alles war nie meine Entscheidung. Das alles war Deine Entscheidung. Ich habe es
anders wollen.
Ich
habe nie mit Dir gebrochen. Du hast mit mir gebrochen. Ich habe Dich nie als
Feind gesehen. Du hast in mir den Feind gesehen. In Deinem krankhaften Wahn. Der
Dein eigentlicher Feind war, Dein Leben lang, und niemand sonst.
Es
gibt zwei Menschen, denen gegenüber bin ich in meinem Leben schuldig geworden.
Dazu gehört meine Mutter. Und dann gibt es noch eine bestimmte andere Person,
der gegenüber ich schuldig geworden bin.
Du
zählst nicht dazu. Dir habe ich nie irgendetwas angetan. So etwas existiert nur
in Deiner Einbildung.
Ich
weiß, Du verdrehst gerne die Dinge und lügst, dass sich die Balken biegen, aber
damit das ein für allemal klar ist: Ich
war Dein Opfer! Du aber niemals meins, niemals!
So hartnäckig
Du es so darzustellen versuchst, das lasse ich mir ganz gewiss von Dir nicht
einreden!
Ganz
im Gegenteil. Du bist ein irrer Gewalttäter, und so wie Du mich behandelt hast,
würde es jeder verstehen, wenn ich nicht nur nach meinem Auszug aus Baden den
Kontakt zu Dir vollständig abgebrochen hätte, sondern wenn ich Dich für Deine
Taten auch vor Gericht und ins Gefängnis gebracht hätte.
Stattdessen
habe ich Dir wieder und immer wieder geholfen und Dich vor Dir selbst gerettet.
***
Du
bist mein Schatten, der mich mein Leben lang verfolgt und gequält hat.
Nichtsdestoweniger finde ich es unendlich schade um Dich.
Du
hast auch andere Seiten gehabt, wie ich oben dargelegt habe.
Und
Du bist so etwas wie mein zweites Ich. Lange ist mir eine Trennung von Dir überhaupt
unmöglich vorgekommen. Mein ganzes Leben ist in gewissem Sinne ein einziger,
langandauernder Abnabelungsprozess von Dir gewesen.
Freilich
gilt aber ebenso das Umgekehrte: Ich bin auch Dein zweites Ich.
Und
wann immer Du mich beschimpft hast, wann immer Du mich als „Trottel“, „Idiot“, „Arschloch“ oder „Drecksau“ beschimpft hast, hast Du Dich selbst beschimpft.
Und
wann immer Du mich geschlagen hast, hast Du Dich selbst geschlagen.
Ich
weiß, dass Du in Wahrheit unter unserem ruinierten Verhältnis genauso leidest
wie ich, wenngleich Du diese unangenehmen, starken Gefühle niedersäufst und
verleugnest.
Du
zerbrichst daran. Und Du streitest viel mit mir in Deinem Kopf, das weiß ich
auch. Denn ich tue es ja umgekehrt ebenso.
***
Unsere
Hassliebe, die uns ein Leben lang
miteinander verbunden hat, die tiefgehende Ambivalenz
unserer Beziehung, aber im speziellen Deiner Gefühle, kommt geballt zum
Ausdruck in der schon erwähnten Tagebucheintragung vom 12. Februar 1988, wo ich
erzähle, wie Du mich während unseres gemeinsamen Spaziergangs im Kurpark
schwerstens misshandeltest und schlugst und sogar dann, als ich schon am Boden
lag, mitleidlos in den Bauch tratest. (Anscheinend spielte sich diese Szene auf
der Theresienwarte ab.)
Denn
gerade dann, als ich mich daraufhin zum Gehen wandte, war Dir das freilich auch
wieder nicht recht.
Dann
sagtest Du wieder ganz herzzerreißend: „Bleib
bitte da!“
***
Wie
ich schon mehrfach gesagt habe: es ist angesichts solcher Vorfälle kein Wunder,
dass ich damals vollkommen verwirrt war und nicht mehr zu verstehen in der Lage
war, was um mich passierte und wer ich überhaupt war.
***
Am
vergangenen Pfingstsonntag, am 4. Juni 2017, bin ich mal wieder nach Baden
hinaus gefahren, um dort eine Stunde lang laufen zu gehen. Das tue ich nach wie
vor regelmäßig.
Es
war schon Abend. Gegen halb sieben fing ich am Donau-Pacour zu laufen an. Es
regnete leicht.
Ich
entschied mich für eine neue Route: Nach zwei normalen Runden lief ich den
Steilweg über der Rodelbahn hinauf auf den Berg, an der Theresienwarte (die
allerdings neu errichtet ist) vorbei und dann bis zur Hexenkreuzung, wo ich den
Lauf beendete.
Von
dort aus ging ich aber nicht gleich zur Rudolfshofwiese zurück, sondern schlich
ungefähr 30 Meter den Weg rein Richtung Gaaden/Bettlergraben.
Irgendetwas
zog mich dorthin.
Ich
schaute mich um und dachte an Dich.
Ich
fühlte Dich.
Wie
oft wir hier gemeinsam spazieren gegangen sind. Das war unser Zuhause. Hier
haben wir gelebt.
Und
auf einmal der Gedanke:
„Vielleicht werden unsere Geister hier auch dann noch
miteinander gehen, wenn wir beide längst gestorben sind.“
***
Dann
kehrte ich um.
Als
ich nun durch den Wald hinunter in den Kurpark zurück ging, war tatsächlich ein
Nebel um mich. Ein großer, stiller Zauber.
Als
ich dann aber über den Weinberg ging, hatte der Regen aufgehört, und
stattdessen ergoss sich ein ganz eigenartiges, schönes Licht über die
Landschaft.
Und
im Wiener Becken stand der abgebrochene Schenkel eines Regenbogens.
Wie gerne hätte ich solche Erlebnisse wieder mit Dir geteilt,
so wie wir es früher immer getan haben!
Leb wohl!
Wien,
Mittwoch 5. Juli 2017, -------------------------------------------
Gratulation zu diesem Brief, lieber OrtwinR! Ich bin berührt und beeindruckt ob deiner gefundenen Sprache.
AntwortenLöschenIch bin davon überzeugt, dass dieser Text Menschen mit ähnlichen Erfahrungen Trost und Zuversicht spendet. Den anderen erhellt er Verborgenes zwischenmenschlicher Abhängigkeiten.
Danke für die Veröffentlichung!
Dorit
Danke, liebe Dorit, für Deine Rückmeldung.
LöschenSolche Rückmeldungen sind sehr wertvoll für mich.
Ortwin
Guten Tag, ich war seit 13 Jahren verheiratet, als mein Mann eines Abends mit einem Scheidungspapier zum Unterschreiben nach Hause kam. Ich war verwirrt und fragte, was das Problem sei, aber er verließ wütend das Haus und blockierte mich von allen Social-Media-Plattformen , diese plötzliche Verhaltensänderung veranlasste mich, Hilfe zu suchen, als ich auf gute Zeugnisse über Dr. Ajayi stieß und beschloss, ihm meine Probleme mitzuteilen. Dr. Ajayi machte mir klar, dass mein Mann manipuliert wurde und sagte mir, was getan werden muss, um ihn zu befreien. Ich befolgte alle seine Anweisungen. Zu meiner Überraschung kam mein Mann nach ein paar Tagen nach Hause und unser Liebesleben hat sich verbessert. Dank Dr. Ajayi war meine Ehe die Rettung. Wenn Sie irgendwelche Beziehungsprobleme haben, ist Dr. Ajayi Ihre letzte Anlaufstelle. Kontaktieren Sie Dr. Ajayi per E-Mail: drajayi1990@gmail.com ODER WhatsApp/Viber: +2347084887094
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